Was ist Stadt?

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Wolf-D. Bukow

Großstädte wie Berlin, Köln oder Hamburg, aber auch sehr viele Kleinstädte sind Beispiele für eine wachsende Attraktivität städtischer, mobiler, diverser und hochindividueller Lebensformen. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern weltweit. Ablesen lässt sich das an Studierenden, Singles und jungen Familien genauso wie an Geflüchteten, die alle in eine Stadt wollen, um urban leben zu können. Und es gilt für alle Altersgruppen und für jede Herkunft. Die städtische Lebensform ist ganz generell zu einem ubiquitären Narrativ, zu einem Urbanitätsnarrativ geworden. Mit ihm werden Erwartungen an neue Chancen und Spielräume für ein besseres Leben, an mehr Anerkennung für die eigenen Lebensvorstellungen sowie Hoffnungen auf neue gesellschaftliche Möglichkeitsräume kurz gesagt zu einem Lebenskonstrukt polis verknüpft.

Gleichzeitig sind die angeführten Städte aber auch Beispiele dafür, dass sich der urbane Raum und die urbane Lebenswirklichkeit nach wie vor sehr problematisch entwickeln. Auch das gilt nicht nur für Deutschland, sondern weltweit. Der urbane Raum steht für Segregations- und Homogenisierungstendenzen, für überteuerte Mieten, eine fortschreitende Gentrifizierung, das Überhandnehmen rein profitorientierter Projekte. Beklagt wird ein zunehmender Mangel an lokalen Arbeitsmöglichkeiten, das Verschwinden von Geschäften des alltäglichen Bedarfs, der Rückzug kommunaler und anderer Dienstleistungen aus Quartieren oder eingegliederten Gemeinden, ja mitunter aus ganzen Regionen. Die polis-typische soziale wie funktionale Mischung droht zu verschwinden, der urbane Lebensraum zu veröden. So hat die autogerechte Stadt erst den öffentlichen Raum zerstört und ist längst zur größten Umweltbelastung geworden.

Immer mehr kommt es zu Differenzen, ja Diskrepanz zwischen den vom Urbanitätsnarrativ mehr denn je wertgeschätzten urbanen Möglichkeitsräumen für alle einerseits und einer immer stärker eingeschränkten und umweltbelasteten urbanen Lebenswirklichkeit andererseits. Das vom globalen Urbanitätsnarrativ getragene und von der lokalen Einwohner:innenschaft geteilte Alltagsbewusstsein verliert immer mehr an alltagspraktischer Relevanz und Viabilität (von Glasersfeld 2008 [1997]: 43). Die zusammengehörigkeitsstiftende gesellschaftliche Kraft des Narrativs ist brüchig geworden. Solange es nach dem Zweiten Weltkrieg noch um die Wiederherstellung ganzer Städte und nach der Entindustrialisierung seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts erneut um die technologische Konversion der Städte ging, wurden diese Diskrepanzen noch nicht so stark wahrgenommen. Man gab sich damit zufrieden, wenn es gelang, hier und da überkommene urbane Quartiere zu retten. Heute sind aus den beschriebenen Diskrepanzen längst massive Verwerfungen geworden. Spätestens mit der Jahrtausendwende ist theoretisch allen klar, dass es so nicht weitergehen kann.

Es ist an der Zeit, die wachsenden Diskrepanzen zwischen dem Urbanitätsnarrativ und der urbanen Lebenswirklichkeit als eine stadtgesellschaftliche, ja als eine fundamentale existenzbedrohende Verwerfung zu begreifen. Das bedeutet, sie als eine alles umfassende, basale stadtgesellschaftliche Herausforderung in Angriff zu nehmen. Dies wäre ein sehr ambitioniertes Vorhaben gewesen, das einen kommunalpolitischen Paradigmenwechsel bedeutet hätte. Stattdessen hat man sich auf punktuelle, extrem selektive sowie perspektivisch eingeengte Maßnahmen beschränkt und ansonsten alles beim Alten belassen. Dabei herausgekommen sind monofunktional angelegte Lösungen ohne gesellschaftlichen Kontext, die sich als fachlich einfach umsetzbar und als ökonomisch hochprofitabel erwiesen haben. Allerdings sind die Diskrepanzen dabei in Wahrheit noch größer geworden. Um sich das nicht eingestehen zu müssen, hat man die Maßnahmen ideenpolitisch schöngeredet und versucht, durch urban labeling zu einer zukunftsorientierten Stadtentwicklung zu verklären. An dieser Labeling-Strategie haben sich erstaunlich viele beteiligt:

  1. Urban labeling top down: Die gegenwärtig gehandelten Stadtentwicklungskonzepte von der „Grünen Stadt“ über die „Kreative Stadt“ bis zur „Smart City“ kümmern sich nicht um Urbanität als eine allumfassende Existenzweise, die Wohnen, Arbeiten, Infrastruktur, Vielfalt und vieles mehr engmaschig miteinander verknüpft, sondern gehen extrem komplexitätsreduziert und einseitig sowie top down vor. Sie ignorieren zwangsläufig den konkreten, alltäglichen, von needs bestimmten Lebenszusammenhang sowie die anthropogen gebotene, divers und funktional breit aufgestellte quartierzentrierte stadtgesellschaftliche Wirklichkeit. Stattdessen beschwören sie modische Trends und dekorieren sich mit technologieträchtigen, marketingorientierten Ideen. So entstehen statt 15-Minuten-Städten allenfalls Schlafstädte. Kommunen überlassen Investor:innen Häuserkomplexe, ja ganze Straßenzüge sowie riesige, zur Konversion anstehende Industrie- oder Bahnbrachen. Das Resultat wird am Ende ideenpolitisch zu „nachhaltigen urbanen Quartieren“, zu angeblich dem Klimawandel widerstehenden Zukunftsmodellen verklärt. Wer kennt nicht längst zahllose derartige Fälle? Allein im Kölner Stadtteil Ehrenfeld gibt es zurzeit 14 solcher Bauprojekte, von denen 13 in der Hand von Investor:innen sind, die sich gezielt mit dem Label „urban“ schmücken. Tatsächlich sind es entweder hochpreisige Schlafquartiere oder Bürohauskomplexe, die rein gar nichts mit Urbanität zu tun haben.
  2. Urban labeling bottom up: Das urban labeling wird aber auch direkt von sich bürgerlich gebenden Initiativen betrieben. So erlebt man, wie angeblich Alteingesessene, häufig jedoch wohlhabende Newcomer versuchen, mit identitätspolitischen Strategien die Deutungshoheit über selbst provozierte Konflikte und Verwerfungen zu übernehmen. Sie beginnen einfach alles, was ihrem „schöner Wohnen“ entgegensteht – von Gewerbetreibenden über „fremdartige“ Gastronomie bis hin zu angeblich das Stadtbild verschandelnden „ausländische“ Lebensgewohnheiten – zu diskreditieren. Wer urbane Vielfalt lebt, wird zum Urbanitätsfeind erklärt und als Teil einer Parallelgesellschaft diskreditiert. Gleichzeitig verkaufen die wohlhabenden Newcomer ihre Anliegen erfolgreich als sozial und ökologisch wertvoll. Auch für solche identitätspolitisch aufgeladenen Urbanitätskonzepte gibt es in jeder Stadt zahllose Beispiele. Der jüngste Fall in Köln ist die Kontroverse um das Kölner Eigelsteinviertel, das noch vor 20 Jahren als Einwandererquartier gefeiert wurde.

Heutzutage ist es angesichts der genannten basalen Probleme, Konflikte und ökologischen Herausforderungen überlebenswichtig, sich bewusst mit Urbanität zu befassen und diese als eine basale stadtgesellschaftliche Herausforderung zu verstehen. Alles kommt darauf an, eine entsprechend verankerte urbanitätsbewusste, alles umfassende synchrone Stadtentwicklung (Sennet 2019: 255) anzugehen. Das schließt die unterschiedlichsten Fachdisziplinen ebenso ein wie die Stadtbevölkerung in ihrer gesamten Diversität hinsichtlich Arbeiten, Wohnen und Zusammenleben, aber auch Infrastruktur, Kultur und Bildung. Letztlich geht es um eine immer wieder neu auszuhandelnde nachhaltige Figuration zwischen einem Narrativ und einem Raum; um ein immer wieder neu zu realisierendes gesellschaftliches Format „Stadtgesellschaft“. Dies ist ein kompaktes soziales Format, das in jedem Stadtquartier als kleinste emergente Einheit von Stadtgesellschaft (Bukow 2020: 7 ff.) den Dauerablauf des Alltags ebenso unabdingbar wie selbstverständlich bestimmt. Eine Zeitschrift sub\urban, eine zeitschrift für kritische stadtforschung, ist dabei tatsächlich an erster Stelle gefragt.

Autor_innen

Wolf-Dietrich Bukow ist Soziologe mit den Schwerpunkten Migration, Mobilität, Diversität, Quartierforschung und Stadtentwicklung.

wbukow@t-online.de

Literatur

Bukow, Wolf-Dietrich (2020): Das Quartier wird Basis zukunftsorientierter Stadtentwicklung. In: Nina Berding / Wolf-Dietrich Bukow (Hg.), Die Zukunft gehört dem urbanen Quartier. Das Quartier als eine alles umfassende kleinste Einheit von Stadtgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, 7-26.

Glasersfeld, Ernst von (2008 [1997]): Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Sennett, Richard (2019): Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens. Berlin: Hanser.