Fach, Gesellschaft und Wissenschaft

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Max Welch Guerra

Der Aufruf, die Begriffe Stadt und Kritik in das Zentrum einer Debatte zu stellen, bietet die große Chance, uns weit über begriffliche Klärungen unseres gemeinsamen Arbeitsgegenstands hinaus – die ja auch für sich selbst sehr fruchtbar sein können – über die Funktion zu verständigen, die wir in der Gesellschaft ausüben, wenn wir räumliche Planung praktizieren, erforschen und lehren. Da in der Bundesrepublik nicht nur ein großer Bedarf, sondern auch eine beträchtliche Nachfrage nach öffentlicher Planung besteht und die planungsbezogenen Wissenschaften sich eines insgesamt stabilen institutionellen Standes erfreuen, laufen wir Gefahr, die gesellschaftspolitische Legitimation von Berufsfeld und Wissenschaft zu vernachlässigen, sie als gegeben zu behandeln. Wir müssen uns ja kaum rechtfertigen.

Um die Aufgabenstellung der Redaktion in diesem Sinne zu beantworten, entscheide ich mich für den zweiten Begriff. Dass Stadt sehr Unterschiedliches bezeichnen kann, ist in unseren akademischen Gefilden geradezu eine Banalität. Kritik hingegen wird selten differenziert, klingt scharf, wirkt aber eher wie ein stumpfer Begriff. Eine nähere Betrachtung erschließt hingegen drei sehr unterschiedliche Stufen der Reflexion.

Eine erste Bedeutung des Begriffs ist mit dem Alltagsverständnis von Kritik verwandt: Wir erfassen und bewerten kontinuierlich Erfolge und Mängel der laufenden räumlichen Planung in ihren unterschiedlichen Phasen – von der fachlichen Programmformulierung über die Implementation bis hin zu ihren direkten wie indirekten Effekten. Eine solche Kritik macht sinnvollerweise einen wichtigen Teil der Lehre in den Planungsstudiengängen aus. Ob gegenüber den hauptamtlich Planenden, den Medien oder den Studierenden – in aller Regel bewegen wir uns dabei innerhalb der Leitlinien der gesetzlich sanktionierten Gesellschaftspolitik. Dies schließt ein, dass diese Kritik die Lebensbedingungen der Menschen, der Flora und der Fauna verbessern kann. Es geht dessen ungeachtet um eine Optimierung der Planung im Sinne der gegebenen Leitlinien räumlicher Entwicklung. Eine solche Herangehensweise ist wesentlich affirmativ, wir haben es hier mit einer systemimmanenten Kritik zu tun. Die „Hochschultage der Nationalen Stadtentwicklungspolitik“ sind geradezu Festivals dieser Weise der Optimierung von Regierungspolitik. Fachliche Urteile eines weiten Spektrums einschlägiger AkteurInnen – von der Studienanfängerin bis zum alten Prof – finden hier ein aufmerksames und kundiges Publikum, das neugierig registriert, was in der Planungspraxis schiefläuft und was alles besser gemacht werden könnte.

Kritik im Sinne einer zweiten Bedeutung ist weniger verbreitet und unterliegt historischen Konjunkturen. Sie ergänzt die erste Bedeutung, indem sie diese überwindet. Im Sinne der Kritischen Theorie geht es hier darum, räumliche Planung im Zusammenhang mit den Herrschaftsverhältnissen zu betrachten, die das Handlungsfeld Planung hervorbrachten und immerfort verändern. Räumliche Planung hat die Funktion, die materielle Produktion wie die Reproduktion der Bevölkerung mit zu gewährleisten, ebenso den Zugriff auf natürliche wie kulturelle Ressourcen zu bewerkstelligen, aber dies grundsätzlich im Einklang mit den dominierenden Machtstrukturen. Ja, diese herrschaftsstabilisierende Funktion geht weiter, sie umfasst auch die ständige Produktion von Deutungen, die diese Machtstrukturen erhalten und stärken. Städtebauliche Leitbilder lassen sich als wichtige materiell, sozial wie narrativ ausgerichtete Innovationsinstrumente verstehen, denn sie aktualisieren die Art und Weise der Verräumlichung der Gesellschaftsverhältnisse umfassend, aber systemimmanent. Kritik im Sinne der Kritischen Theorie untersucht diese Funktionen räumlicher Planung in diktatorischen wie demokratischen, kapitalistischen wie staatssozialistischen, reichen wie armen Systemen. Kritik im Sinne der Kritischen Theorie ermöglicht es uns, Perspektiven zu entfalten, die das jeweilige System überwinden können. Ein wenig bekanntes, dabei für die deutschsprachige Welt gut nachvollziehbares Beispiel für eine solche kritische Auseinandersetzung mit der Planung und der Gesellschaft des eigenen Landes lieferte der faktische Reformflügel, der sich in den letzten Jahren der DDR von der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar aus herausbildete (Welch Guerra 2012).

Ein solches herrschaftskritisches Verständnis ist derzeit nicht nur in der deutschsprachigen Planungs-Welt wenig präsent. Hier kommt nun eine dritte Bedeutung des Begriffs Kritik ins Spiel, die gleichsam auf die Schultern der ersten und der zweiten klettert, um sie mit der Distanz, die die historische Analyse und die internationale Kasuistik gewähren, zu durchleuchten: Kritik als die aufmerksame Betrachtung, Erklärung und Bewertung des wechselnden Verhältnisses der Planungsdisziplin zur jeweiligen politischen Herrschaft. Eine solche reflexive Überprüfung der wissenschaftlichen Disziplin und der Deutungsmuster, die sie liefert, ist allerdings nur als kollektives Werk denkbar.

Die Bauhaus-Universität Weimar unterstützt die Publikation dieses Beitrags durch eine institutionelle Vereinbarung zur Finanzierung von Publikationsgebühren.

Autor_innen

Max Welch Guerra forscht zum Komplex Gesellschaftspolitik, Planung und Gestaltung in Europa vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute.

max.welch@uni-weimar.de

Literatur

Welch Guerra, Max (2012): Fachdisziplin und Politik. Stadtplanerische Fachdebatte und gesellschaftspolitische Reformbestrebungen an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar. In: Christoph Bernhardt / Thomas Flierl / Max Welch Guerra (Hg.), Städtebau-Debatten in der DDR. Verborgene Reformdiskurse. Berlin: Theater der Zeit, 42-70.