Neoliberalisierung als Gesellschaftskrise

Kommentar zu Margit Mayers „Urbane soziale Bewegungen in der neoliberalisierenden Stadt“

Samuel Mössner

Die Darstellung aktueller neoliberaler Politik, wie sie im Beitrag von Margit Mayer (2013) dargelegt wird, gilt zumindest im Bereich der kritischen Stadtgeographie als eine Art Common Sense. Mit ihren Ausführungen trifft Margit Mayer daher auf breite Zustimmung. Interessant scheint es, die von ihr ausgeführte Konzeption von Neoliberalisierung auf ein konkretes, empirisches Beispiel anzuwenden, z. B. auf die Frage nach den Widersprüchen und Logiken nachhaltiger Entwicklung von Städten, die in der Literatur als Kritik am vorherrschenden „sustainable urban development“ (vgl. Béal 2012; Krueger/Gibbs 2007) formuliert werden. Nicht nur in großen Metropolen, sondern auch in Klein- und Mittelstädten wie Freiburg i. Br. kann der von Margit Mayer dargelegte Prozess der Neoliberalisierung städtischer Politiken beobachtet werden. Die Herausforderung besteht dann darin, die Kritik gerade auch auf vermeintlich positive Entwicklungen, wie das Bemühen um eine Reduktion von CO2 in städtischen Agglomerationen, anzuwenden. Ich möchte meinen Kommentar zu Margit Mayers Beitrag daher gern am Beispiel der „Green City“ Freiburg ausführen, um a) das große empirische Potential der von ihr verwendeten Konzeption von Neoliberalisierung aufzuzeigen und davon ausgehend b) nach der Krise des politischen Systems zu fragen.

Ausgehend von den frühen Umwelt- und sozialen Bewegungen der 1970er Jahre, die erfolgreich die Errichtung eines AKWs im Umland der Stadt verhinderten, entwickelte sich in Freiburg ein komplexes System nachhaltiger Stadtentwicklungsprozesse und -ansätze, die u. a. ab Mitte der 1990er Jahre zur Errichtung des Öko-Quartiers Vauban und letztlich Anfang der 2010er Jahre zur weltweit ersten Umwandlung eines Gebäudes des sozialen Wohnungsbaus der 1970er Jahre zu einem Passivhochhaus führten. Die aus den sozialen Kämpfen stammenden „grünen“ Werte und Forderungen gelten heute als gesellschaftlicher Konsens der Stadtpolitik. Sowohl in ihrem Image als auch belegt durch wissenschaftliche Studien (vgl. Newman et al. 2009) scheint die Stadt Freiburg Ökologie, Ökonomie und Soziales erfolgreich zu einer grünen Stadtpolitik zu vereinen, die auf einer breiten partizipatorischen Basis aufbaut. Neben der technischen Machbarkeit stehen im Zentrum des Nachhaltigkeitsverständnisses der Stadt Freiburg immer auch Toleranz und Sozialverträglichkeit der Maßnahmen. Mit Blick auf Freiburgs nachhaltige Stadtentwicklung scheint das neoliberale Ziel „to enhance the profit-making capacities of capital“ (Brenner et al. 2012: 3) zugunsten anderer Werte abgelöst.

Erst durch neuere Proteste wurden die unter dem Deckmantel des Konsens vollzogenen Entwicklungen als profitorientierte Umwelt- Projekte enttarnt und die negativen, ausschließenden Effekte einer grünen neoliberalen Politik zur Diskussion gestellt: Im August 2011 kam es im Zentrum des Vorzeigestadtteils Vauban zu Protesten gegen die Umsetzung eines geplanten Hotelkomplexes, der dort anstelle eines bereits seit einigen Jahren vorhandenen Wagenplatzes errichtet werden sollte. Es fanden sich Transparente, auf denen nicht nur ein „Recht auf Stadt für alle“, sondern dieses Recht auch in Abgrenzung gegenüber einem vorherrschenden „grünen Kapitalismus“ gefordert wurde, der die Stadt und vor allem die Bemühungen um eine nachhaltige Stadtentwicklung längst vereinnahmt habe. Die teils heftigen Proteste, die sich über das Stadtgebiet ausdehnten, richteten sich nicht nur gegen die gewaltsame Auflösung des Wagenplatzes. Sie hatten auch unangemessene Mietpreissteigerungen zum Gegenstand (und knüpften hier an bundesweit geführte Diskurse an), die in Freiburg unter anderem durch ökologische Sanierungen verursacht wurden. Dieser Widerstand überraschte die politischen Eliten der Stadt, deren Politik sich bislang auf die Werte und Ideale des Umweltaktivismus der 1970er Jahre stützte, und führte in der Öffentlichkeit zu einem neuen Diskurs, der nun nicht mehr die positiven Errungenschaften grüner Stadtpolitik, sondern vielmehr deren ausschließende Wirkung thematisierte.

Der sich in Freiburg vollziehende Wandel vom frühen Umweltaktivismus hin zur Durchsetzung profitorientierter Umwelt-Projekte lässt sich nur bedingt mit den von Margit Mayer vorgeschlagenen Phasen der Neoliberalisierung beschreiben. Der französische Stadtforscher Vincent Béal (2012) schlägt eine zwar in weiten Teilen ähnliche, aber im Detail alternative Systematisierung vor. Im Unterschied zu Mayer beschreibt Béal zunächst eine erste Phase grüner Neoliberalisierung, die er als grassroots environmentalism bezeichnet. Während dieser Phase werden Umweltbelange erstmals von Umweltaktivist_innen und sozialen Bewegungen auf die urbane Ebene gehievt. In seiner Analyse berücksichtigt Béal damit einen größeren Zeitraum, der die Phase ab den 1968/1970er Jahren umfasst, in denen die Werte und Ideale eines aus damaliger Sicht positiven Wandels gesetzt wurden. Vor allem im Kontext nachhaltiger Stadtentwicklung nimmt diese Phase, die in Margit Mayers Konzeption zunächst nicht berücksichtigt wird, eine entscheidende Rolle ein. Die Strategie, sich gegensätzlicher und kritischer Werte und Forderungen zu bemächtigen, um neoliberale Ziele zu verschleiern und durch- zusetzen – Adrian Parr (2009) beschreibt dies treffend als hijacking sustainability –, erschwert die Formierung von Widerstand und dient der Legitimation neoliberaler Entwicklungen. Die Umweltproteste der 1970er Jahre müssen daher vor dem Hintergrund der Neoliberalisierung ihrer Ziele betrachtet werden. Meiner Ansicht nach ist diese Perspektive nicht nur im Kontext nachhaltiger Stadtentwicklung relevant, sondern kann auch in anderen Kontexten das verdeutlichen, was Mayer in ihrem Beitrag als die Pfadabhängigkeit der Neoliberalisierung bezeichnet (Mayer 2013: 156). So bestimmt etwa die erste Besetzung eines deutschen Wohnhauses im Jahr 1970 im Frankfurter Westend (Eppsteiner Straße 47) nicht nur die weitere Entwicklung des Häuserkampfes in Frankfurt, sondern beeinflusst auch den städtischen Umgang mit dem Westend bis heute. Rückt man diese Phase in den Blickwinkel der Betrachtung heutiger Proteste, so drängt sich die Frage auf, ob es nicht heute zu sehr ähnlichen Forderungen und Kritiken kommt, die bereits vor mehr als vierzig Jahren formuliert worden sind.

Die von Margit Mayer als „Austeritätspolitik 2.0“ bezeichnete heutige Phase der Neoliberalisierung beschreibt eine von Krisen geprägte Zeit. Die Auswirkungen neoliberaler Politik etwa auf Wohnungsmärkte und die Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung lassen sich jetzt nur noch schwer mit dem Erreichen grundsätzlich positiver Ziele (wie der Umsetzung der Nachhaltigkeit durch die Durchführung teurer ökologischer Sanierungen) rechtfertigen. Vor diesem Hintergrund steigen die Möglichkeiten widerständiger Gruppierungen, den vermeintlichen Konsens zu enttarnen. Damit bestünde in der Zeit der Krisen die reelle Chance, städtische Politik zu verändern.

Diese Überlegungen leiten zum zweiten Teil meines Kommentars über, in dem es um die verbliebenen Handlungsmöglichkeiten gehen wird. Margit Mayer führt sehr anschaulich aus, wie unterschiedlich die einzelnen widerständigen Gruppen auf die Widersprüche der Neoliberalisierung reagieren und mit ihnen umgehen. Sie fordert eine stärkere Vernetzung dieser Gruppen mit dem Ziel, vorhandene Gegensätze und Distanzen zu überwinden, um das „neoliberale Herrschaftsregime zu destabilisieren“ (Mayer 2013: 164). Hier sieht sie vor allem die „privilegierten“, mit hohem „kulturellen Kapital“ ausgestatteten Bewegungen in einer führenden Verantwortung, die „gegenhegemoniale Bewegung“ zu formieren. Dieser Ansicht stimme ich grundsätzlich zu. Dennoch bedarf es meines Erachtens auch weiterer Lösungswege, die eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung formulieren. Unklar bleibt mir, wie eine „orchestrierte Form“ der „tiefen Vergesellschaftung“ dann umzusetzen wäre. Welche Formen der Institutionalisierung müssten gewählt werden, um die Reform als gesamtgesellschaftlichen Prozess zu steuern? Welche Lehren können dafür aus dem Protest der 1968/1970er Jahre gezogen werden?

Das von Margit Mayer vorgebrachte Merkmal der „Informalisierung der Politik“ deutet meiner Meinung nach auf eine Krise des politischen Systems hin. Wenn Slavoj Žižek mit Blick auf die aktuelle Finanzkrise und die nur über Sparmaßnahmen ermöglichten „Rettungsbestrebungen“ der Banken fragt, „[...] in welcher Gesellschaft wir leben, wenn solche Formen der Erpressung möglich sind“ (2009: 24), dann verweist er darauf, dass konsensuale Politik und postdemokratische Zustände Ausdruck einer Krise der Demokratie sind. Gehen wir zusammen mit Colin Crouch (2008) aber von einer Krise der Demokratie aus, dann wird – wiederum mit Blick auf die Proteste der 1968/70er Jahre – die Frage drängend, wie diese durch vernetzten Widerstand gelöst werden kann.

Autor_innen

Samuel Mössner ist Akademischer Mitarbeiter am Institut für Umweltsozialwissenschaften und Geographie der Universität Freiburg.

Kontakt: samuel.moessner@geographie.uni-freiburg.de

Literatur

Béal, Vincent (2012): Urban governance, sustainability and environmental movements: Post-democracy in French and British cities. In: European Urban and Regional Studies 19/4, 404–419.

Brenner, Neil / Marcuse, Peter / Mayer, Margit (2012): Cities for people, not for profit. An introduction. In: Neil Brenner / Peter Marcuse / Margit Mayer (Hg.): Cities for people, not for profit. Critical urban theory and the right to the city. New York, 1–10.

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt am Main.

Krueger, Robert / Gibbs, David (2007): Introduction: Problematizing the Politics of Sustainability. In: Robert Krueger / David Gibbs (Hg.): The sustainable development paradox. Urban political economy in the United States and Europe. New York, 13–40.

Mayer, Margit (2013): Urbane soziale Bewegungen in der neoliberalisierenden Stadt. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 1, 155-168.

Newman, Peter / Beatley, Timothy / Boyer, Heather (2009): Resilient Cities: Responding to Peak Oil and Climate Change. Washington, DC.

Parr, Adrian (2009): Hijacking Sustainability. Cambridge.

Žižek, Slavoj (2009): Auf verlorenem Posten. Frankfurt a. M.