Stadt und Kritik

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Jan Wehrheim

Stadt?

Stadtsoziologie bedeutet in der deutschen Universitäts- und Wissenschaftslandschaft de facto ganz überwiegend Soziologie in der Stadt. Debatten und Forschungen etwa zu residenzieller Segregation sind wohl der deutlichste Ausdruck davon. Auf Definitionsversuche von Stadt wird meist verzichtet. Auch hier soll nur eine Annäherung erfolgen.

Stadt und insbesondere Großstadt als sozialräumliches Gebilde und Siedlungsform zeichnet sich aus einer eurozentristischen Perspektive zuvorderst durch zwei hier interessierende Merkmale aus: ihre politisch-rechtliche Verfasstheit im Vergleich zu anderen Maßstabsebenen wie dem Nationalstaat sowie die spezifische räumliche Strukturiertheit sozialer Beziehungen in der Stadt. Ist Ersteres Ergebnis politischer Produktion räumlicher Einheiten mit all ihren Konsequenzen und (historisch) gewaltvollen Hintergründen, ist Letzteres – und damit verbunden – Folge von „Größe, Dichte, Heterogenität“ (Wirth 1974 [1938]). Diese quantitativen Merkmale, die bereits für das antike Athen galten, bringen ab einem immer nur relational zur jeweiligen Gesellschaftsformation und nicht absolut definierbaren Grad (denn aus räumlicher Nähe lassen sich nicht einfach soziale Beziehungen ableiten), spezifische soziale Beziehungen hervor respektive beeinflussen diese. Dies ist das qualitativ Besondere am Städtischen. Dabei ist beim Stadt-Dorf-Vergleich heute nicht mehr die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit (Bahrdt (1998 [1961]) der bürgerlichen Gesellschaft relevant, gleichwohl jedoch die in diesem Kontext betonte „unvollständige Integration“ von Großstädten. Sie verweist im Kern auf sekundäre soziale Beziehungen und Anonymität sowie distanziertes Verhalten in (groß-)städtischen Settings. Während die Polarität also höchstens noch als graduelle geeignet ist, Stadt-Dorf-Unterschiede zu beschreiben und zu analysieren, und keinen kategorialen Unterschied mehr darstellt, sind es die (groß-)städtische Anonymität in den sozialen Beziehungen und die flexibleren Möglichkeiten, soziale Rollen zur Schau zu tragen, die nach wie vor für eine solche Unterscheidung relevant sind (was mit Blick auf Unterschiede bei den Siedlungsstrukturen in vielen Ländern des Trikonts noch plausibler wird). Es sind also unterschiedliche Modi und Möglichkeiten sozialer Kontrolle, die mit der Siedlungsform und mit eventuellen Ausprägungen von Segregation in den Städten korrelieren. Unter anderem mit Verweis auf Simmel (1992 [1908], 1995 [1903]), Lofland (1995) und Siebel (1997) ist Stadt damit an erster Stelle Ort des Fremden – einander biografisch unbekannter und in der Vielfalt sozial und kulturell fremder Menschen, wobei dies nicht nur objektiviert, sondern gleichermaßen konstruktivistisch als othering gedacht ist. Auf dem Dorf gibt es sichtbar nur Normalität oder tolerierte Abweichung. In der segregierten Großstadt als fluides Mosaik kleiner Welten gibt es Freiheiten zur Abweichung auch ohne „Toleranz“: „Die Stadt ist der Ort von Lust und Gefahr, von Chance und Bedrohung. Sie zieht an und stößt ab und kann das eine nicht ohne das andere.“ (Bauman 1997: 223), und diese Ambivalenz charakterisiert auch ihre soziale Produktivität. Sie macht die Stadt zum Ort sozialer Differenzierung sowie individueller und gesellschaftlicher Emanzipation. Das heißt aber auch: Wie Größe, Dichte, Heterogenität soziale Beziehungen und dabei relevante Machtverhältnisse prägen, lässt sich nicht aus Stadt alleine erklären. Gesellschaftliche Strukturen und Herrschaftsverhältnisse, Diskurse und damit soziale Deutungsmuster sowie die damit verbundenen Praktiken sind zum Verstehen sozialer Prozesse in Städten immer relevanter als „Stadt“ – beziehungsweise Stadt und Gesellschaft sind immer in Wechselwirkungen zu denken. Diese Notwendigkeit, Stadt soziologisch immer in Relation zu Gesellschaft zu definieren und zu analysieren, kann über die eurozentristische Perspektive hinaus Gültigkeit beanspruchen.

Kritik?

Kritik ist zunächst ein Merkmal jeglicher Wissenschaft. Zumindest ist das der Grundgedanke: Es ist die genuine Aufgabe von Wissenschaft, die Dinge zu hinterfragen und theoretische Annahmen oder empirische Befunde auf ihre Gültigkeit zu überprüfen, Selbstverständlichkeiten anzuzweifeln und neue, ungeklärte Fragen zu formulieren sowie zu versuchen, diese zu beantworten. Wissenschaft, will sie sich selbst ernst nehmen, muss also per se kritisch sein. Das Etikett „kritisch“ bei kritischer Wissenschaft transportiert jedoch noch einen zweiten Bedeutungsgehalt, der nicht vollständig von ersterem gelöst werden kann beziehungsweise lediglich analytisch davon unterscheidbar ist. Eine ausdrücklich kritische und dabei politische oder aktivistische Stadtforschung formuliert auch ausdrücklich spezifische Fragen. Weil dem so ist, kommt sie auch zu anderen Ergebnissen beziehungsweise zu Antworten auf Fragen, die sonst eventuell nicht gestellt werden: unter anderem zu Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen und den Bedingungen der Unfreiheit, die dadurch sichtbarer gemacht werden und so vielleicht Veränderungsmöglichkeiten aufzeigen. Das heißt, die Erkenntnisse daraus legen auch eine andere (Stadt-)Politik nahe. Für die (Stadt-)Soziologie heißt es dabei, Stadt und Gesellschaft nicht als gegeben hinzunehmen und bestehende soziale Ordnungen nicht unhinterfragt zu akzeptieren und über Themensetzungen oder Forschungen zu reproduzieren. Damit wird jedoch die Beziehung von „objektiver“ Wissenschaft zu Normativität herausgefordert.

Der hehre Anspruch Weber’scher Werturteilsfreiheit (Weber (1991 [1904]) wurde vielfältig diskutiert und dabei betont, dass bereits die Wahl des Forschungsthemas und der Forschungsmethoden eine politisch relevante Wertung darstellt und von den spezifischen Perspektiven und Wissensbeständen der Forscher:innen in ihrer Verwobenheit mit ihren auch beruflichen beziehungsweise institutionellen Alltagen (und Erwerbsarbeitsbedingungen und Forschungsförderungsmöglichkeiten) abhängt. Für eine reflexive sozialwissenschaftliche Stadtforschung bedeutet dies einerseits, diese eigene Eingebundenheit in Gesellschaft zu berücksichtigen und zu versuchen, das „Denken wie üblich“ (Schütz 1972: 58) selbst zu hinterfragen (und sich aus anderen Perspektiven heraus kritisieren zu lassen) und andererseits zu reflektieren, inwieweit die Untersuchungsgegenstände – etwa problematisierte soziale Phänomene in Städten – über die Wissensproduktion (re-)produziert werden, erst recht, wenn es nicht „nur“ um Grundlagen-, sondern um anwendungsorientierte Forschung geht. Indem jedoch über andere Fragestellungen quasi automatisch aus dem grundsätzlich Kritischen der Wissenschaft eine normative, politische Kritikfähigkeit resultiert, entsteht regelmäßig eine Schwierigkeit bei der Verbindung von Wissenschaft und Aktivismus: Wissenschaftliche Ergebnisse können politisch enttäuschend sein und entsprechend strategisch passenden Thematisierungen entgegenstehen. Die der erwähnten Reflexivität nahestehende konstruktivistische wissenschaftliche Perspektive kann aber nicht einfach über Bord geworfen werden, wenn sie einem politisch nicht in den Kram passt. Auch unter einer konstruktivistischen Perspektive geht es im Kern um „Wahrheit“ und es wäre wissenschaftlich unredlich und politisch problematisch, davon abzuweichen und etwa verdinglichende Begriffe und Kategorien strategisch aufzugreifen.

Es geht also um die Produktion anderen Wissens über die Wahl der Themen, Fragestellungen und die Wahl von Forschungsmethoden (wobei weniger die Methoden entscheidend sind, als vielmehr die dabei eingenommenen methodologischen Perspektiven) und gegebenenfalls um das Aushalten von Widersprüchen: Denn das produzierte Wissen steht prinzipiell anderen, nicht nur (den eigenen) aktivistischen Nutzungen zur Verfügung. Howard S. Becker hat (2016 [1967]: 12, Herv. i. O.) darauf hingewiesen, dass in hierarchisch strukturierten Gesellschaften (auch wenn Systemtheoretiker:innen das anders sehen dürften) ebenfalls eine „Hierarchie der Glaubwürdigkeit“ besteht. Dementsprechend kann es als eine der Aufgaben von Wissenschaft angesehen werden, nicht nur herrschaftliche Politiken und Praktiken als solche zu benennen, sondern eben auch andere Perspektiven „von unten“ und auch in ihrer Ausdifferenziertheit und ihren (Macht-)Effekten sichtbar zu machen und sich so über Multiperspektivität sozialwissenschaftlich aktueller „Wahrheit“ anzunähern. Dies, so scheint mir, ist aber (eigentlich) nicht nur die Aufgabe einer sich explizit als „kritisch“ empfindenden Wissenschaft, sondern – siehe oben – eigentlich jeglicher (Stadt-)Soziologie.

Dieser Artikel wurde durch den Publikationsfonds der Universität Duisburg-Essen gefördert.

Autor_innen

Jan Wehrheim ist Sozialwissenschaftler und Entwicklungspolitologe. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Stadt- und Devianzsoziologie sowie neue Kontrolltechnologien.

jan.wehrheim@uni-due.de

Literatur

Bahrdt, Hans-Paul (1998 [1961]): Die moderne Großstadt. Reinbek: Rowohlt.

Bauman, Zygmunt (1997): Flaneure, Spieler und Touristen. Hamburg: Hamburger Edition HIS.

Becker, Howard Saul (2016 [1967]): Whose side are we on? In: Daniela Klimke / Aldo Legnaro (Hg.), Kriminologische Grundlagentexte. Wiesbaden: Springer VS, 7-22.

Lofland, Lyn (1995): The public realm. Exploring the city’s quintessential social territory. New York: Routledge.

Schütz, Alfred (1972): Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch. In: Alfred Schütz (Hg.), Gesammelte Aufsätze II. Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag: Martinus Nijhoff, 53-69.

Siebel, Walter (1997): Die Stadt und die Zuwanderer. In: Hartmut Häußermann / Ingrid Oswald (Hg.), Zuwanderung und Stadtentwicklung. Leviathan Sonderheft Nr. 17. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 30-41.

Simmel, Georg (1992 [1908]): Exkurs über den Fremden. In: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band 11. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 764-771.

Simmel, Georg (1995 [1903]): Die Großstädte und das Geistesleben. In: Georg Simmel, Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Band I. Gesamtausgabe Band 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 116-131.

Weber, Max (1991 [1904]): Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Max Weber, Schriften zur Wissenschaftslehre. Stuttgart: Reclam, 21-101.

Wirth, Louis (1974 [1938]): Urbanität als Lebensform. In: Ulfert Herlyn (Hg.), Stadt- und Sozialstruktur. München: Nymphenburger Verlag, 42-66.