Kritische Stadtforschung: Differenz und Ungleichheiten im Fokus

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Anne Vogelpohl

1. Was ist Stadt? Oder: Mit was für einem Stadtbegriff arbeitest Du in Deiner Forschung?

Nicht wenige Texte zur Stadtforschung beginnen damit, Zahlen von global ansteigenden Bevölkerungsanteilen in Städten aufzulisten. Allerdings ist es klar, dass Städte nicht nur quantitativ vermessbare Entitäten sind. Was kennzeichnet aber stattdessen den Gegenstand der Stadtforschung? Was grenzt sie vielleicht sogar ab von anderen Forschungsfeldern? Diese Fragen mit dem kurzen Hinweis „Stadtforschung ist, was Stadtforscher:innen machen“ abzutun, ist auch unzufriedenstellend, zum Beispiel wenn es darum gehen soll, anstehende Forschungsfragen zu diskutieren oder ein Einführungsbuch herauszugeben.

Zwei Antworten auf die Frage „Was ist Stadt?“ finde ich in meiner Arbeit hilfreich, auch wenn es sozialwissenschaftlich keine enge Definition geben kann (Kemper/Vogelpohl 2011: 17). Die erste ist konzeptuell: Vor vielen Jahren bin ich auf der Suche nach Theorien, die mir erlauben, konkrete Alltage in städtischen Quartieren als gesellschaftliche Verhältnisse zu lesen, auf das Werk Henri Lefebvres gestoßen (Lefebvre 1972, 1977, 1996; vgl. Vogelpohl 2012). Mit Lefebvre ist Stadt die vermittelnde „Ebene M“ (1972: 88), in der globale wie alltägliche Beziehungen zusammenlaufen. Sie könnte für Lefebvre der Ort sein, an dem Differenz kollektiv ermöglicht wird: „[T]he urban as a ground for collective action across social difference“ (Althorpe/Horak 2021: 3). Lefebvres (1991) Theorie der Raumproduktion läuft letztlich darauf hinaus zu untersuchen, warum diese Stadt aktuell (noch) nicht realisiert ist und über welche politischen, sozialen, wirtschaftlichen Raumverhältnisse stattdessen Macht- und Teilhabeungleichheiten hergestellt werden.

Die zweite Antwort versucht, sich der Frage empirisch zu nähern, und unterscheidet sich von Fall zu Fall: Was wird denn im Alltag, in politischen Programmen, in den Medien et cetera als Stadt beziehungsweise noch aufschlussreicher: als städtisch bezeichnet? Und wie könnte das, „was Stadtforscher:innen machen“, näher bestimmt werden? Weil Stadt also etwas mit Differenz zu tun hat (siehe oben), suche ich die empirische Antwort dann oftmals in Widersprüchlichkeiten einerseits und Koalitionen andererseits. Ein Beispiel für städtische Widersprüchlichkeiten wäre ein quartiersbezogenes Beschäftigungsförderprogramm, das die Prekarität der adressierten Quartiersbewohner:innen jedoch nicht mindern würde. Und städtische Koalitionen sind solche, die Differenzen überbrücken – wie Initiativen, die Armut und Klimawandel zugleich thematisieren, aber auch Netzwerke aus politischen und wirtschaftlichen Eliten.

2. Was ist Kritik? Oder: Gibt es eine spezifische Form von Kritik, auf die Du in Deinen Arbeiten fokussierst?

Über diese Frage gibt es dicke philosophische Bücher… Ich halte mich hier gerne an Rahel Jaeggi und Tilo Wesche (2009: 7), für die Kritik die Annahme ist, dass Werte, Praktiken und Institutionen nicht so sein müssen, wie sie sind; dass es Entscheidungsspielräume und Alternativen gibt. Daraus folgt für mich der Dreischritt: (1) sorgfältige Analyse – (2) Aufdecken von Mechanismen der Herstellung von Macht- und Teilhabeungleichheiten – (3) Diskussion von Alternativen. Dieser Dreischritt ist gekoppelt an drei weitere Momente der Forschung, die mit Blick auf Kritik reflektiert werden sollten: (1) die Themenwahl – (2) die Art und Weise zu forschen – (3) die Zielrichtung, in die Alternativen gedacht werden. Sich dabei im weitesten Sinne mit Ungleichheiten auseinanderzusetzen und die bestehenden Verhältnisse nicht nur zu erklären, sondern auch infrage zu stellen, gehört aus meiner Sicht zu einer kritischen Stadtforschung dazu.

In diesem Sinne halte ich es für wichtig, dass Stadtforschung kritisch ist. Ich selbst versuche, in diesem Sinne kritische Stadtforscherin zu sein. Dennoch empfinde ich ein Unbehagen, wenn der Begriff für (Selbst-)Bezeichnungen von Personen oder, noch problematischer, Gruppen herhält. Wird eine Gruppe als „kritisch“ bezeichnet beziehungsweise bezeichnet sich selbst so, dann impliziert dies automatisch Ein- und Ausschlüsse und damit starre Ungleichheiten, die eigentlich überwunden werden müssten. Mir ist es lieber, anhand der Inhalte und an der Forschungsweise kritische Stadtforschung erkennen zu können. Und dafür bietet sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung seit nunmehr 10 Jahren eine sehr wertvolle Plattform.

Autor_innen

Anne Vogelpohl ist Geographin und beschäftigt sich mit Stadtpolitik in Hinblick auf Beratung, Wohnen sowie Arbeit und nutzt feministische Methodologien.

anne.vogelpohl@haw-hamburg.de

Literatur

Althorpe, Caleb / Horak, Martin (2021): The end of the right to the city: A radical-cooperative view. In: Urban Affairs Review. https://doi.org/10.1177/10780874211057815.

Jaeggi, Rahel / Wesche, Tilo (2009): Einführung: Was ist Kritik? In: Rahel Jaeggi / Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7-20.

Kemper, Jan / Vogelpohl, Anne (2011): „Eigenlogik der Städte“? Kritische Anmerkungen zu einer Forschungsperspektive. In: Jan Kemper / Anne Vogelpohl (Hg.), Lokalistische Stadtforschung, kulturalisierte Städte – Zur Kritik einer „Eigenlogik der Städte“. Münster: Westfälisches Dampfboot, 15-38.

Lefebvre, Henri (1972): Die Revolution der Städte. München: List.

Lefebvre, Henri (1977): Kritik des Alltagslebens; Band 1: Einleitung. Kronberg: Athenäum.

Lefebvre, Henri (1991): The production of space. Malden u. a.: Blackwell.

Lefebvre, Henri (1996): Writings on cities. Malden u. a.: Blackwell.

Vogelpohl, Anne (2012): Urbanes Alltagsleben – Zum Paradox von Differenzierung und Homogenisierung in Stadtquartieren. Wiesbaden: Springer VS.