Die Stadt lebt in ihrer Auflösung

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Roger Keil

Was ist Stadt? Vor 35 Jahren veröffentlichte ich in der Prokla meinen ersten wissenschaftlichen Aufsatz unter dem Titel „David Harvey und das Projekt einer materialistischen Stadttheorie“. Den letzten Absatz überschrieb ich mit der Zeile: „Das unfertige Projekt einer materialistischen Stadttheorie“ – darin wies ich auf den Anspruch des damals schon ikonischen Geographen hin, „die ‚Oberflächenphänomene‘ städtischer Restrukturierung in allen Bereichen des urbanen Lebens (Wohnungsfrage, Gesundheitsfürsorge, soziale Dienstleistungen, Erziehung, Umwelt etc.) an die ihnen ‚unterliegenden und oft obskuren Bedürfnisse der Kapitalakkumulation und der Perpetuierung der herrschenden Klassenverhältnisse in der Produktion‘ zu knüpfen“ (Keil 1987: 144). So verstand ich damals Theorie: Sie erklärt die strukturellen Zusammenhänge und erhellt Oberflächenphänomene.

Natürlich ist es nicht so einfach. Theorie ist zugleich mehr und weniger als das. Die sogenannten Phänomene sind selbst theoriebildend. Also sind Stadt und Verstädterung aus meiner heutigen Sicht nicht ohne eine theoretische Fassung dieser Phänomene zu begreifen. Ich bin immer noch dem Projekt einer „materialistischen Stadttheorie“ verpflichtet, aber ich würde es heute eher so formulieren, dass das städtische Leben in seiner Vielfalt nicht epiphänomenal ist, sondern wesentlich zur Theoriebildung und zur Findung eines Stadtbegriffes überhaupt beiträgt. Die hier offengelegten Fragen sind in den letzten Jahren in der Debatte um die planetarische Urbanisierung ausreichend diskutiert worden und müssen an dieser Stelle nicht noch einmal neu aufgerollt werden. Ich lerne hier heute viel von den Urbanist*innen des globalen Südens. Der Stadtbegriff wird längst nicht mehr von Manchester, Chicago oder Los Angeles aus definiert (als Beispiel für ein aktuelles kollektives Statement siehe Bhan et al. 2020)

Doch was das städtische Leben zur Findung eines Stadtbegriffs beiträgt – anstatt diesen aus der (politischen) Ökonomie des Kapitalismus herzuleiten – weist auch über die Stadt hinaus, wie wir von Lefebvre (1972) wissen. Verstädterung und verstädterte Gesellschaft deuten auf einen Stadtbegriff, der prozessual ist, über die Stadt als singuläres Ding und Objekt hinwegzeigt. In meiner eigenen Forschungspraxis habe ich den Stadtbegriff immer an dieser Auflösung des Objektes in den Prozess hinein festgemacht. Theoretisch und empirisch war diese Öffnung der Stadt zur Verstädterung richtungsweisend für meine Forschung – primär in den Bereichen der extensiven Urbanisierung und des globalen Suburbanismus, in der politischen Ökologie der Urbanisierung sowie im Hinblick auf die Perforierung des städtischen Lebens durch Infektionskrankheiten. Im Abspann eines von mir mitherausgegebenen Buches mit dem programmatischen Titel After Suburbia (Keil 2022) argumentiere ich dementsprechend, dass die Definition der Vorstadt, wie diejenige der Stadt selbst, immer im Fluss ist, denn das Städtische selbst ist „kontinuierlich“ (Lerup 2017), liegt „zwischen“ den gedachten Festpunkten von Stadt und Land (Sieverts 1997) und ist „schwer fassbar“ (Simone/Pieterse 2017). Seit mehr als einer Generation arbeite ich zu Öffnungen der Stadt in das Nicht-Städtische sowie zum Begriff des städtischen Stoffwechsels, wie es in der kritischen städtischen politischen Ökologie üblich ist. Mit Kolleg*innen in Amsterdam habe ich zu diesem Thema jüngst programmatisch für eine Neukalibrierung des Projektes der städtischen politischen Ökologie für das Zeitalter der extensiven Urbanisierung plädiert (Tzaninis et al. 2021; siehe auch Angelo 2021 und Gandy 2022). Als letztes Beispiel für meine Betonung der begrifflichen Auflösung der Stadt in das Städtische, kann ich hier meine Arbeiten zum Verhältnis der städtischen Gesellschaft zu neuen Infektionskrankheiten nennen (wie in Keil 2021 bereits in dieser Zeitschrift ausgeführt).

Es bleibt die Frage: „Was ist Kritik?“ Für die Stadtforschung gab es hierzu jüngst die (von Nancy Fraser inspirierte) spannende Debatte zwischen Neil Brenner (2016) und Ananya Roy (2016). In einem Beitrag zur Debatte der Natur der Stadt (und im Kontext einer Würdigung des Lebenswerks Peter Marcuses) hatte Neil Brenner (2009) eine systematische Lektüre der Ursprünge und Konturen der Kritischen Theorie in Bezug auf das Städtische vorgelegt. Gegründet im Besonderen auf einer Beurteilung der Kritischen Theorie in der Tradition der Frankfurter Schule, und beeinflusst von Henri Lefebvres Hypothese einer Revolution der Städte (1972) kommt Brenner zu dem Schluss, dass die Kritische Theorie heute „ein ausdauerndes Engagement mit gegenwärtigen weltweiten Mustern der kapitalistischen Urbanisierung und ihrer weitreichenden Konsequenzen für gesellschaftliche, politische, ökonomische und menschliche Naturbeziehungen erfordert“ (2009: 206, Übersetzung d. A.). Ananya Roy greift in ihrem jüngeren Beitrag Brenners These auf, vermerkt aber kritisch, dass beispielsweise in Indien der Staat das Städtische definieren kann, „ohne Geographien der Urbanisierung oder ohne städtische Politik“ (2016: 819). Daraus ergebe sich der „unvollständige“, „kontingente“ und „unentschiedene“ Charakter des Städtischen (ebd.). Laut Roy darf kritische städtische Theorie weder das nicht-städtische Äußere des Städtischen vernachlässigen, noch das Räumliche auf das Städtische begrenzen (Roy 2016: 816).

Sicherlich kann sich die kritische Stadtforschung – will sie ihrem Namen gerecht werden – nicht von den folgenden Prinzipien lösen: Erstens: Wie seit jeher ist der Bezug auf Praxis der Kern der Kritischen Theorie. Daher lautet die Frage: Wie und was kann die Theorie ändern? Wer sind die handelnden Subjekte? Aber auch: Wer ist nicht Teil des Handelns, weil davon ausgeschlossen? Zweitens muss die kritische Stadtforschung die Domänen des kritischen Denkens benennen, die die Brüche des Städtischen aufzeigen. Diese Domänen verorten sich nicht im Zentrum, sondern in der Peripherie der städtischen Hegemonie. Und drittens, im Rückverweis auf die anfänglichen Thesen zur Stadt: Stadttheorie ist kritisch, wenn sie auf die dynamischen Auflösungstendenzen des Städtischen fokussiert und nicht versucht, die Stadt konzeptionell zu reifizieren, etwa als „Smart City,“ „nachhaltige Stadt,“ „kompakte Stadt“ oder gar „gesunde Stadt.“ Kritik ist kritisch, wenn sie radikal offenbleibt.

Autor_innen

Roger Keil ist Stadt- und Umweltwissenschaftler und forscht zu globaler Suburbanisierung, städtischer politischer Ökologie, Stadt und Infektionskrankheiten und regionaler Governance.

rkeil@yorku.ca

Literatur

Angelo, Hillary (2021): How green became good: Urbanized nature and the making of cities and citizens. Chicago: University of Chicago Press.

Bhan, Gautam / Caldeira, Teresa / Gillespie, Kelly / Simone, AbdouMaliq (2020): The pandemic, southern urbanisms and collective life. In: Society and Space, 3.8.2020, https://www.societyandspace.org/articles/the-pandemic-southern-urbanisms-and-collective-life (letzter Zugriff am 15.3.2022).

Brenner, Neil (2009): What is critical urban theory? In: City 13/2-3, 198-207.

Brenner, Neil (2016): Critique of urbanization: Selected essays. Basel: Birkhäuser.

Gandy, Matthew (2022): Natura urbana. Boston: MIT Press.

Keil, Roger (1987): David Harvey und das Projekt einer materialistischen Stadttheorie. In: PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft 17/69, 132-147.

Keil, Roger (2021): Höher, weiter, breiter. Die endlose Stadt nach Covid-19: Kommentar zu Stefan Höhne und Boris Michel „Das Ende des Städtischen? Pandemie, Digitalisierung und planetarische Enturbanisierung“. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 9/1-2, 185-191.

Keil, Roger (2022) After suburbia: Peripheral notes on urban theory, In: Roger Keil / Fulong Wu (Hg.), After suburbia: Urbanization in the twenty-first century. Toronto: University of Toronto Press.

Lefebvre, Henri (1972): Die Revolution der Städte. München: List.

Lerup, Lars (2017). The continuous city: Fourteen essays on architecture and urbanization. Zürich: Park Books.

Roy, Ananya (2016): What is urban about critical urban theory? In: Urban Geography 37/6, 810-823.

Simone, AbdouMaliq / Pieterse, Edgar (2017): New urban worlds: Inhabiting dissonant times. Cambridge: Polity.

Sieverts, Thomas (1997): Zwischenstadt. Wiesbaden: Vieweg + Teubner.

Tzaninis, Yannis / Mandler, Tait / Kaika, Maria / Keil, Roger (2021): Moving urban political ecology beyond the „urbanization of nature“. In: Progress in Human Geography 45/2, 229-252.