Stadt und postkoloniale Kritik

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Noa K. Ha

Stadt ist für mich der Raum der Akkumulation – von Besitz, Kontrolle und Gewalt – sowie von Geschichte, Widerstand und Selbstbestimmung. Diese Aspekte akkumulieren sich in der Stadt und verdichten mal mehr oder weniger gesellschaftliche (Ungleichheits)verhältnisse, die intersektional verschränkt und durch koloniale, eurozentristische, patriarchale und ableistische Normvorstellungen strukturiert sind, die sowohl reproduziert als auch gestört werden.

Stadt ist nicht nur räumlich auf sich selbst beschränkt, sondern gleichermaßen in regionale, nationale und transnationale Zusammenhänge eingebunden, die einer Stadt eine besondere Bedeutung oder Funktion zuweisen können (Keith 2009, 2005). Zugleich ist Stadt ein heimischer und diasporischer Raum[1] (Brah 1996), in dem Alltag lokal organisiert wird und sich zugleich in globalen Netzwerken befinden kann.

Stadt ist eine Gelegenheit, sich sowohl mit Raum als auch mit der kapitalistischen Gesellschaft zu befassen und die gegenseitige Bezugnahme und Ausformung zu analysieren. Eine der ersten spezifischen Kritiken, denen ich schon in meinem Studium der Landschaftsplanung begegnete, war eine feministische Kritik am öffentlichen Raum, der Stadtplanung und der Architektur – eine Kritik an räumlichen und baulichen Verhältnissen. Diese entstand aus einer Analyse, die danach fragt, wo die (bürgerlichen) Frauen in der Stadt sind (Dörhöfer/Terlinden 1998; Klinkhart 1998; Zibell 1998). Wenige feministische Analyse verwiesen auf das Verhältnis von Geschlecht und Migration, jedoch waren es diese wenige Arbeiten, die erste intersektionale Analysen vornahmen und verstehen wollten, wie verschiedene Vergesellschaftungsprozesse miteinander verschränkt sind (Castro Varela/Clayton 2003; Gutiérrez Rodríguez 1999; Haritaworn 2003). Diese feministische Kritik half mir, meine eigene Entwurfs- und Gestaltungspraxis zu hinterfragen und Fragen für meine zukünftige Forschung aufzuwerfen.

Schon während meines Studiums an der TU Berlin war ich in communitybasierten antirassistischen Initiativen und Organisationen aktiv und sah mich damit konfrontiert, dass Fragen von Ethnizität, Migration, Diskriminierung und Rassismus in der Stadt sowie in der Planung fast kein Thema waren – obwohl zu dieser Zeit in anderen Fächern Fragen von Ethnizität, Migration, Identität und Rassismus bereits entlang einer postkolonialen Analyse thematisiert wurden (Bhabha 1996; Ha 2000; Jacobs 1996; Steyerl/Gutiérrez Rodríguez 2003). In meiner Doktorarbeit widmete ich mich dann der Frage, was Rassismus ist und wie er durch Raum und Stadt funktioniert und reproduziert wird. Hierzu habe ich rassismuskritische, postkoloniale und dekoloniale Ansätzen herangezogen – und gerade die dekoloniale Schule (Grosfoguel 2013; Lugones 2010, 2008; Mignolo 2007; Quijano 2007) hat meine Forschung auch in den folgenden Jahren sehr inspiriert. Denn um die Gegenwart des heutigen Rassismus zu begreifen, müssen wir uns mit der Kolonialität der Wissensproduktion befassen beziehungsweise mit der Kolonialität des Städtischen (Ha 2017, 2014). Mit dieser Perspektive wird sowohl der historische Kontext der kolonialen Akkumulation augenfällig – insbesondere für die Städte Europas – als auch die Verdichtung von diasporischem und migrantischem Widerstand in diesen Städten (Zwischenraum Kollektiv 2017). Städte sind jene Orte des Alltags, der Repräsentation und der Vernetzung, in denen die Verhältnisse zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden praktiziert, herausgefordert und unterlaufen werden – Verhältnisse, die auch nach dem formalen Ende des Kolonialismus andauern und in ihrer Persistenz immer noch zu wenig analysiert wurden.

Kritik ist für mich die Fähigkeit, das Bestehende analytisch zu durchdringen und auf die Gegenwart von (verschränkten bzw. intersektionalen) Unterdrückungsverhältnissen befragen zu können. Ohne Kritik keine Transformation, um die Welt verändern – oder besser – auf die globalen Herausforderungen des Klimawandels und der planetaren sozialen Ungerechtigkeit vorbereiten zu können. So bilden die postkoloniale Kritik und die dekoloniale Theorie, auf die ich mich in meiner Arbeit beziehe, gemeinsam einen wichtigen Ausgangspunkt, um den Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Rassismus für die städtische Produktion zu verstehen. Jedoch muss die Kritik noch um eine explizite europäische Auseinandersetzung erweitert werden, die nicht nur den Eurozentrismus provinzialisiert (in Anlehnung an Chakrabartys Aufforderung, Europa zu provinzialisieren, Chakrabarty 2010; Conrad/Randeria 2002), sondern auch die spezifische koloniale Metropolitanität Europas adressiert. So wurde in der Rassismusforschung die Unterscheidung zwischen dem Rassismus einer nordamerikanischen siedlerkolonialen Gesellschaft und dem Rassismus einer europäischen metropolitanen Gesellschaft noch nicht hinreichend herausgearbeitet, obschon die Arbeiten von Gloria Wekker (2016, 2006), Fatima El-Tayeb (2016, 2015, 2012), Jin Haritaworn (2015b, 2015a, 2012; Haritaworn/Tauqir/Erdem 2007), Alana Lentin (2011, 2004) und Joszef Böröcz (2021) hierzu wichtige Beiträge leisteten. Auch in der Stadtsoziologie wird das Modell der europäischen Stadt noch zu wenig mit Blick auf eine koloniale Historizität und Veränderungsprozesse aufgrund von Migration und Rassismus analysiert. Hier wollen Giovanni Picker und ich mit unseren Band European cities: Modernity, race, and colonialism (Ha/Picker 2022) einen kritischen Beitrag leisten und die „europäische Stadt“ in eine globale Perspektive stellen und zugleich Europa dezentrieren, indem wir fragen, um welches und wessen Europa es sich handelt.

Diese Kritik an der europäischen Stadt üben Giovanni Picker und ich, da wir es in Zeiten wachsender Sensibilisierung für die Normalität und Alltäglichkeit von Rassismus in unserem Denken sowie in gesellschaftlichen Strukturen für dringend erforderlich halten, die europäischen (städtischen) Episteme auf ihre Kolonialität hin zu hinterfragen und zu kritisieren. Diese Kritik beinhaltet eine intersektionale Analyse der verschränkten Unterdrückungsdimensionen, die die Normalität Europas als heteronormative, christliche, kolonial-metropolitane, männlich dominierte Gesellschaft herausarbeitet, die bis in die Gegenwart die Produktion des städtischen Raumes weitestgehend dominiert. Wir hoffen mit unserem Band einen Beitrag zu leisten, die europäische Stadt in ihrer kolonialen Historizität zu begreifen, um von dort aus einen soziologisch-analytischen Raum für die anhaltende Akkumulation ihrer neokolonialen Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse zu den Städten im Rest der Welt (frei nach Stuart Hall) anzubieten. Vor diesem Hintergrund betrachte ich Kritik nicht nur als eine Fähigkeit zur Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern auch als eine notwendige intervenierende Praxis zur Veränderung bestehender Machtverhältnisse zugunsten einer gerechteren Gesellschaft.

Endnoten

Autor_innen

Noa Ha ist eine interdisziplinäre und kritische Stadtforscherin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind öffentlicher Raum, Informalität, Straßenhandel, rassismuskritische Ansätze/Critical Race Theory, dekoloniale Theorie und Postkoloniale Theorie.

ha@kh-berlin.de

Literatur

Bhabha, Homi K. (1996): Postkoloniale Kritik. Vom Überleben der Kultur. In: Das Argument 38/3, 345-360.

Böröcz, József (2021): „Eurowhite“ conceit, „dirty white“ ressentment: „Race“ in Europe. In: Sociological Forum 36/4, 1116-1134.

Brah, Avtar (1996): Cartographies of diaspora. Contesting identities. London/New York: Routledge.

Castro Varela, María do Mar / Clayton, Dimitria (2003): Migration, Gender, Arbeitsmarkt. Neue Beiträge zu Frauen und Globalisierung. Königstein im Taunus: Ulrike Helmer.

Chakrabarty, Dipesh (2010): Europa als Provinz: Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main/New York: Campus.

Conrad, Sebastian / Randeria, Shalini (2002): Jenseits des Eurozentrismus: Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts-und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main/New York: Campus.

Dörhöfer, Kerstin / Terlinden, Ulla (1998): Verortungen: Geschlechterverhältnisse und Raumstrukturen. Basel: Birkhäuser.

El-Tayeb, Fatima (2012): „Gays who cannot properly be gay“: Queer Muslims in the neoliberal European city. In: European Journal of Women’s Studies 19/1, 79-95.

El-Tayeb, Fatima (2015): Anders Europäisch: Rassismus, Identität und Widerstand im vereinten Europa. Münster: Unrast.

El-Tayeb, Fatima (2016): Undeutsch: Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: transcript.

Grosfoguel, Ramón (2013): The structure of knowledge in Westernized universities: Epistemic racism/sexism and the four genocides/epistemicides of the long 16th century. In: Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge 11/1, 73-90.

Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (1999): Intellektuelle Migrantinnen: Subjektivitäten im Zeitalter von Globalisierung: Eine postkoloniale dekonstruktive Analyse von Biographien im Spannungsverhältnis von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung. Geschlecht und Gesellschaft. Opladen: Leske + Budrich.

Ha, Kien Nghi (2000): Ethnizität, Differenz und Hybridität in der Migration: Eine postkoloniale Perspektive. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 120/3, 377-397.

Ha, Noa K. (2014): Perspektiven urbaner Dekolonisierung: Die europäische Stadt als „contact zone“. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2/1, 27-48.

Ha, Noa K. (2017): Zur Kolonialität des Städtischen. In: Zwischenraum Kollektiv (Hg.), Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt. Gespräche, Aushandlungen, Perspektiven. Münster: Unrast, 75-87.

Ha, Noa K. / Picker, Giovanni (2022): European cities: Modernity, race and colonialism. Manchester: Manchester University Press.

Haritaworn, Jinthana (2003): Der ethnisierte Arbeitsplatz als Ort paradoxer Identifikation: Verhandlungen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und kultureller Identität in einem thailändischen Restaurant in Britannien. In: María do Mar Castro Varela / Dimitria Clayton (Hg.), Migration, Gender, Arbeitsmarkt. Neue Beiträge zu Frauen und Globalisierung. Königstein im Taunus: Ulrike Helmer, 186-207.

Haritaworn, Jin (2012): The Biopolitics of Mixing: Thai Multiracialities and Haunted Ascendancies. Ashgate Publishing, Ltd.

Haritaworn, Jin (2015a): Queer lovers and hateful others: Regenerating violent times and places. London: Pluto Press.

Haritaworn, Jin (2015b): Über die (Un-)Möglichkeit, die Beziehung zwischen Kolonialität, Urbanität und Sexualität zu thematisieren. Kommentar zu Stephan Lanz’ „Über (Un-) Möglichkeiten, hiesige Stadtforschung zu postkolonialisieren“. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 3/1, 111-118.

Haritaworn, Jin / Tauqir, Tamsila / Erdem, Esra (2007): Queer-Imperialismus: Eine Intervention in die Debatte über „muslimische Homophobie“. In: Kien Nghi Ha / Nicola Lauré al-Samarai / Sheila Mysorekar (Hg.), re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Münster: Unrast, 187-203.

Jacobs, Jane M. (1996): Edge of empire: Postcolonialism and the city. London/New York: Routledge.

Keith, Michael (2005): Racialization and the public spaces of the multicultural city. In: Karim Murji / John Solomos (Hg.), Racialization. Oxford: Oxford University Press, 249-270.

Keith, Michael (2009): Urbanism and city spaces in the work of Stuart Hall. In: Cultural Studies 23/4, 538-558.

Klinkhart, Stefanie (1998): Anforderungen an das Planen, Bauen und Wohnen aus Frauensicht. Wettbewerbs- und Beteiligungsverfahren konkreter Hessischer Bauprojekte. In: Geschlechterverhältnis und Räumliche Planung. Kirchlinteln: Hoffmann und Hoyer, 111–134.

Lentin, Alana (2004): Racism and anti-racism in Europe. London/Ann Arbor: Pluto Press.

Lentin, Alana (2011): The crises of multiculturalism. Racism in a neoliberal age. London/New York: Zed Books.

Lugones, María (2008): Coloniality and gender. In: Tabula rasa 9, 73-102.

Lugones, Marìa (2010): Toward a decolonial feminism. In: Hypatia 25/4, 742-759.

Mignolo, Walter (2007): Coloniality of power and de-colonial thinking. In: Cultural Studies 21, 155-167.

Quijano, Aníbal (2007): Coloniality and modernity/rationality. In: Cultural Studies 21, 168-178.

Steyerl, Hito / Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (Hg.) (2003): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Münster: Unrast.

Wekker, Gloria (2006): The politics of passion: Women’s sexual culture in the Afro-Surinamese diaspora. New York: Columbia University Press.

Wekker, Gloria (2016): White innocence: Paradoxes of colonialism and race. Durham: Duke University Press.

Zibell, Barbara (1998): Das Geschlecht (in) der Planung. Zwischen Anpassung und Widerstand. In: Geschlechterverhältnis und Räumliche Planung Band 4, 19-48.

Zwischenraum Kollektiv (Hg.) (2017): Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt. Gespräche, Aushandlungen, Perspektiven. Paper präsentiert bei der Konferenz „Decolonize the City!“. Münster: Unrast.