Was für ein Phänomen ist das Urbane und wie können wir es kritisieren?

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Matthew Gandy

Das wachsende Interesse an neuen Urbanisierungsmustern, die den herkömmlichen Konzeptionen von Stadt zu widersprechen scheinen, hat in den vergangenen Jahren verstärkt die Frage „Was ist urban?“ in den Vordergrund gerückt. Der neolefebvrianische Fokus auf „vollständige Urbanisierung“ lenkte den Blick zusehends auf ein breiteres Spektrum von Räumen, wie zum Beispiel „operational landscapes“ und andere Arten von „extractive frontiers“, die eng mit dem globalen Urbanismus verbunden sind. Ähnlich hat eine Vielzahl von Studien zur Urbanisierung im globalen Süden nicht nur die Wichtigkeit peri-urbaner Landschaften verdeutlicht, sondern auch eine Fülle an sozialräumlichen Strukturen bezeichnet, die nicht mit den konventionellen Parametern der „modernen Stadt“ – wie man sie sich im globalen Norden vorstellt – erfasst werden können. Gleichzeitig bleibt die Idee „der Stadt“ als einer charakteristischen Form der dichten urbanen Agglomeration trotz allem ein wichtiger kultureller und materieller Marker. Tatsächlich gehen die Vereinten Nationen davon aus, dass es 2030 weltweit über 700 Millionenstädte geben wird, darunter 43 mit mehr als zehn Millionen Einwohner*innen. Angesichts des Klimawandels und der damit verbundenen Frage urbaner Resilienz bietet vor allem das Entstehen riesiger Ballungsräume in Küstennähe Anlass zur Sorge. Einzelne Städte oder, in manchen Fällen, auch bestimmte Stadtteile können besondere kulturelle oder politische Merkmale entwickeln, die von einem allgemeiner gefassten konzeptionellen Rahmen verwischt zu werden drohen. So lassen sich die historischen und geographischen Spezifika des Weimarer Berlins oder der Harlem-Renaissance, um nur zwei Beispiele zu nennen, nicht einfach aus anderen, breiter angelegten Determinanten ableiten. Die unverwechselbare visuelle Kultur Léopoldvilles (des späteren Kinshasa) im Belgisch-Kongo der späten 1950er Jahre, an der Schwelle zur Unabhängigkeit, ist ein weiteres Beispiel. In jedem größer angelegten Analyserahmen müssen wir die unterschiedlichen Raum-Zeit-Verhältnisse von Urbanisierung im Blick behalten. Außerdem besteht die Gefahr, dass die Annahme, wir näherten uns einer Art „vollständiger Urbanisierung“, dazu führt, das Fortbestehen des Ländlichen als materiellem, wenn nicht gar symbolischem Gegenpol zu verschiedenen Formen des metropolitanen Raums zu übersehen. Eine Dezentrierung eurozentrischer Perspektiven innerhalb der Stadttheorie erfordert einen multiskalaren Ansatz, der verschiedene Formen materieller und kultureller Heterogenität hervorhebt. Entscheidend ist, dass der Fokus auf das Kapital und die historische Dynamik kapitalistischer Urbanisierung nicht ausschließt, auch die inhärente Heterogenität des urbanen Raums zu betonen. Die Rahmung des Urbanen ist daher nicht unbedingt eine Frage des Maßstabs oder der Topographie, sondern das Ergebnis unterschiedlicher konzeptioneller und analytischer Blickwinkel. Ein Teil der Herausforderung für die Stadtforschung besteht in der Entwicklung eines begrifflichen Lexikons, das den sich im 21. Jahrhundert abzeichnenden Urbanisierungsmustern gerecht wird.

Was ist mit dem Begriff „Kritik“ gemeint? Ganz basal ausgedrückt versucht ein kritischer Standpunkt, die zu einem bestimmten Thema bestehenden Auffassungen zu erschüttern. Es gibt also oftmals eine implizit normative Konnotation in dem Sinne, dass bestehende Machstrukturen infrage gestellt oder neue sozioökologische Beziehungsformen gestaltet werden sollen. Allerdings kann das Propagieren scheinbar selbstverständlicher politischer Ziele, wie zum Beispiel der „klimaneutralen Stadt“, dazu dienen, einen schwach entwickelten oder manchmal (auch) positivistischen Analyserahmen zu verschleiern. Die Idee einer radikalen Kritik entsprang den tiefgreifenden Spannungen zwischen marxistischen und nicht-marxistischen Analyserahmen in der Stadtforschung der 1970er und 1980er Jahre. Die Operationsweise des Kapitals im städtischen Raum brachte nicht nur die spekulative Dynamik der Urbanisierung zum Vorschein, sondern auch die ideologischen Konnotationen konkurrierender Vorstellungen von Urbanität. So war der Einfluss des Kulturmarxismus auf die Interpretation von Kunst, Literatur und Film in der Tat ein wichtiger Kritikstrang, der sich neben der Analyse urbaner Prozesse im Kapitalismus herausgebildet hat.

Mein eigenes Verständnis von Kritik hat sich vor allem durch die Anwendung neomarxistischer Paradigmen wie zum Beispiel der Urbanen Politischen Ökologie entwickelt, um dann einen Blick auf die andere Seite des erkenntnistheoretischen Terrains zu werfen und eine Reihe feministischer, postkolonialer und posthumanistischer Erkenntnisse mit einzubeziehen. In meiner gegenwärtigen Arbeit würde ich mein Verhältnis zur Kritik als fortwährende Erkundung der konzeptionellen Grenzbereiche zwischen verschiedenen Ansätzen bezeichnen, nicht als Abwendung vom Historischen Materialismus, sondern eher als Suche nach einer neuen Synthese. Ich interessiere mich zunehmend für ein erweitertes Verständnis urbaner Komplexität, das sich nicht nur auf Fragen sozialer Differenz erstreckt, sondern auch auf affektive Atmosphären und den postphänomenologischen Bereich der nicht-menschlichen Anderen. Welche kritischen oder ethischen Standpunkte könnten wir uns mit Blick auf die Multispezies-Stadt zu Eigen machen? Welche Arten von Handlungsmacht (agency) können kritisch-reflexive Formen des historischen Wandels hervorbringen? Und wie können wir die Unverwechselbarkeit menschlicher Kreativität oder Imagination im Rahmen eines radikal erweiterten Begriffs von Handlungsmacht bewahren?

Die Frage der Methode ist eng mit verschiedenen Formen der Kritik verknüpft. Tatsächlich wurde meine Wahrnehmung kritischer Forschungspraxis maßgeblich durch mein besonderes Interesse an Stadtnatur geprägt. Meine Darstellung „forensischer Ökologien“ im urbanen Kontext ist beispielsweise von Entwicklungen unter anderem in der Architekturtheorie und der kritischen Rechtswissenschaft inspiriert. Die Formulierung eines postpositivistischen „evidenzbasierten Materialismus“ bildet einen kritischen Gegenpol zur neovitalistischen Wende, dem Aufschwung „spekulativer Materialismen“ und zu diffuseren oder amorpheren Konzeptionen von Handlungsmacht. Außerdem würde ich die Schreibpraxis selbst als integralen Bestandteil des Forschungsprozesses ansehen, da Argumente sowohl aus der Analyse des Materials entstehen als auch aus der intensiven kreativen Konzentration, der es für die textbasierte Kommunikation von Ideen bedarf.

Übersetzung aus dem Englischen von Andrea Tönjes für SocioTrans – Social Science Translation & Editing Services.

Autor_innen

Matthew Gandy ist Geograph mit besonderem Interesse an Landschaft, Infrastruktur und urbaner Biodiversität.

mg107@cam.ac.uk