Radikale Kritik kapitalistischer Urbanisierung

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Bernd Belina

Zehn Jahre sub\urban sind ein Grund zum Feiern. Die kritische interdisziplinäre Stadtforschung in deutscher Sprache hat dank sub\urban einen Ort, an dem wir die mannigfaltigen Prozesse diskutieren und theoretisieren können, die Städte auf allen räumlichen Maßstabsebenen prägen. Kein Grund zum Feiern ist hingegen, dass viele dieser Prozesse dazu beitragen, dass wir in Verhältnissen leben, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx 1976: 385). Noch immer gilt, dass es radikaler Kritik bedarf, um diese „Verhältnisse umzuwerfen“ (ebd.). Noch immer bedarf es dafür eines Verständnisses des Kapitalismus in seiner je konkreten Ausprägung und in seiner Verwobenheit mit sich wandelnden Herrschaftsformen wie Patriarchat, Rassismus und Nationalismus, Homo-, Queer- und Transfeindlichkeit sowie all den anderen Formen hierarchisierenden Ausschlusses, die so vielen Menschen das Leben zur Hölle machen (Arruzza/Bhattacharya/Fraser 2020; Brown 2018; Federici 2012; Harvey 2017). Radikale Kritik hinterfragt diese im Zeitverlauf sich wandelnden und zwischen Räumen sich unterscheidenden herrschenden Verhältnisse. Sie betreibt mithin Aufklärung über sie, um sie in emanzipatorischer Weise zu verändern, ja zu überwinden.

In meiner Arbeit versuche ich an den Kritikbegriff der älteren Kritischen Theorie anzuschließen, die „die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand“ (Horkheimer 1988: 217) und „das Glück aller Individuen zum Ziel“ (ebd.: 221) hat – „Glück“ verstanden als „materialistischen Begriff der freien, sich selbst bestimmenden Gesellschaft“ (ebd.). Aus dieser Tradition scheint es mir wichtig die Einsicht zu übernehmen, dass ein aufklärerisches Programm, das seine eigenen Voraussetzungen, Verwobenheiten und toten Winkel nicht miteinbezieht, in Barbarei umzuschlagen droht, wie die Shoah (Horkheimer/Adorno 2016) und – bei allen Unterschieden – die Sowjetunion (Adorno 2018: 205) illustrieren; und dass das Nachdenken über die freie und selbstbestimmte Gesellschaft aufgrund der durch gegenwärtige Ideologien und Verdinglichungen geformten „Gestalt des eigenen Bewußtseins“ (Adorno 2016: 224) eben diese zu reproduzieren neigt, weshalb bereits im „Auspinseln“ (Adorno in Bloch/Adorno 1985: 361) emanzipatorisch gemeinter Utopien der genannte Umschlag in die Barbarei angelegt ist. Dass dies in Folge der Oktoberrevolution verheerende Folgen hatte, war der älteren Kritischen Theorie bewusst und wurde für die jüngere zum Anlass, sich immer weiter vom Marxismus wegzubewegen. Bei Bini Adamczak (2017) hingegen wird es zur Voraussetzung eines neuen Nachdenkens über den Weg zur „utopischen Gesellschaft“ (ebd.: 54) in der Tradition von Marx.

Wie Städte als soziale Formen des Zusammenlebens materiell und als Begriffe kritisch gefasst werden können, um sie in kritischer Stadtforschung zu untersuchen, zu kritisieren und zu verändern, hängt wesentlich von Gegenstand und Fragestellung ab. In meiner Arbeit nutze ich etwa David Harveys Bestimmung der „Urbanisierung des Kapitals“, also der Art und Weise, in der (fiktives) Kapital durch die gebaute Umwelt zirkuliert. Damit untersuche ich (städtische) Boden-, Immobilien- und Mietwohnungsmärkte, kritisiere deren Zumutungen für Viele zugunsten des Vermögenszuwachses Weniger und fordere im Modus der „bestimmten Negation“ (Adorno unter Bezug auf Hegel in Bloch/Adorno 1985: 361) Dekommodifizierung und Demokratisierung. Auch nutze ich Henri Lefebvres (1970) strategische Hypothese der vollständigen Urbanisierung der Gesellschaft, auf Basis derer dieser sich die Überwindung des Kapitalismus infolge eines Aufeinanderprallens von Widersprüchen, von Politisierung und Konflikt erhoffte, um meinerseits Vertreibung aus öffentlichen Räumen, racial profiling oder für Autoritarismus offene, „provinzielle“ Denkformen zu kritisieren und ein „Recht auf Stadt“ beziehungsweise auf „Zentralität“ (auch auf dem Land) sowie einen „global sense of place“ (Massey 1991) zu fordern.

Dieser Artikel wurde durch den Open-Access-Publikationsfonds der Goethe-Universität Frankfurt gefördert.

Autor_innen

Bernd Belina ist Humangeograph mit den Schwerpunkten geographische Stadtforschung, politische Geographie und Kritische Kriminologie.

belina@em.uni-frankfurt.de

Literatur

Adamczak, Bini (2017): Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Berlin: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W. (2016): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Rolf Tiedemann (Hg.), Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften, Band 4. Berlin: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W. (2018): Negative Dialektik. In: Rolf Tiedemann (Hg.): Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften, Band 6. Berlin: Suhrkamp, 7-412.

Arruzza, Cinzia / Bhattacharya, Tithi / Fraser, Nancy (2020): Feminismus für die 99 %. Berlin: Matthes & Seitz.

Bloch, Ernst / Adorno, Theodor W. (1985): Etwas fehlt... Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ernst Bloch im Gespräch mit Theodor W. Adorno. In: Ernst Bloch, Tendenz, Latenz, Utopie. Werkausgabe, Ergänzungsband. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 350-367.

Brown, Wendy (2018): Die schleichende Revolution. Berlin: Suhrkamp.

Federici, Silvia (2012): Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Wien: Mandelbaum.

Horkheimer, Max (1988): Traditionelle und kritische Theorie. In: Alfred Schmidt (Hg.): Max Horkheimer. Gesammelte Schriften, Band 4. Frankfurt am Main: Fischer, 162-225.

Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. (2016): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer.

Lefebvre, Henri (1970): La révolution urbaine. Paris: Gallimard.

Marx, Karl (1976): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Band 1. Berlin: Dietz, 378-391.

Massey, Doreen (1991): A global sense of place. In: Marxism Today 34/6, 24-29.