Zur Rolle von Kritik in der Angewandten Kritischen Stadtgeographie

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Iris Dzudzek, Henning Füller

„Es gibt immer was zu tun!“ – Nicht nur die deutsche Baumarktkultur, sondern auch die Kritische Stadtgeographie hat das Selbermachen für sich entdeckt. Ob in der Debatte um Recht auf Stadt (Holm/Gebhardt 2011), DIY-Urbanismus (Iveson 2013) oder eine neue „Angewandte Kritische Geographie“ (Kuge et al. 2020), überall werden Banden gebildet (Belina 2008), wird Stadt von unten und selbst gemacht. Statt mit der Suhrkamp-Ausgabe von Theodor W. Adorno, Henri Lefebvre im französischen Original und einem Stapel David Harvey in der Bibliothek zu verweilen, machen sich kritische Geograph*innen mit urbanen Gärtner*innen „gemeinsam die Hände dreckig“ (Halder 2018), navigieren mit dem „Kompass für ein solidarisches Quartier“ (Hellriegel/Schmitt Pacífico 2019) in alternative Stadtzukünfte, bearbeiten mit Permakultur und Kooperativen Mensch-Natur-Verhältnisse und mit neuen care-formen das Patriarchat, ermöglichen sichere Fluchtrouten, bauen genossenschaftliche oder syndikalistische Wohnformen auf und bringen bei dem ein oder anderen Rave die Verhältnisse zum Tanzen. Bei so viel kritischer Aktivität bleibt es gerade für eine emanzipatorisch orientierte Praxis sinnvoll und notwendig, die Voraussetzungen des eigenen Tuns mit zum Gegenstand von Kritik zu machen. Dazu gehören auch vermeintliche Wahrheiten und Selbstverständlichkeiten. Welche Rolle spielt ein solches selbstreflexives Moment in der gegenwärtigen Angewandten Kritischen Stadtgeographie?

Kritik erscheint in den genannten Beispielen tätig und praktisch, als direkter Einsatz gegen ungerechte Verhältnisse. Sie folgt dem bekannten Diktum von Karl Marx, „gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht ‚nur verschieden interpretieren‘, sondern im Sinne der 11. Marxschen Feuerbachthese auch in emanzipatorischer Absicht ‚verändern‘ (Marx 1845: 7) zu wollen“ (Kuge et al. 2020: 222) oder „Utopien wahr werden [zu] lassen“ (Hellriegel/Schmitt Pacífico 2019: 10). Ziel einer solchen Angewandten Kritischen Geographie ist es, „soziale Innovationen aus Forschung und Gesellschaft in eine konkrete Praxis zu überführen und institutionell anzubinden“ (Hellriegel/Schmitt Pacífico 2020: 237). Sie spricht sich für eine „Fusion von Aktivismus und Forschung“ aus, die es ermöglicht, „im Rahmen des akademischen Arbeitens politische Haltung offen einzunehmen und zu kommunizieren und mit wissenschaftlicher Arbeit einen Beitrag zu gesellschaftlicher Transformation zu leisten“ (ebd.).

Eine diesem Diktum folgende Angewandte Kritische Stadtgeographie, die Kritik als Kampf gegen Machtverhältnisse begreift, kann sich aber leicht als Sackgasse herausstellen. Eine Kritik, die sich außerhalb solcher Verhältnisse imaginiert und kritisch-emanzipatorische Praxis als Befreiung von diesen versteht, bleibt verkürzt immanent. Jede praktische Form der Stadtgestaltung – von der Einrichtung von business improvement districts und Maßnahmen zur Förderung von Kreativität über Maßnahmen der Klimaanpassung bis hin zur Ermöglichung neuer Wohnformen in Syndikaten oder Genossenschaften – bedeutet ein „Ins-Werk-Setzen“ von Menschen und Dingen in Verhältnissen, die zutiefst vermachtet sind. Diese eigene Verwicklung zu erkennen und zu reflektieren, ist eine entscheidende Aufgabe von Kritik. Eine allzu große Euphorie und Überzeugung, emanzipatorisch zu handeln, stellt diese (Selbst-)Reflexion aber häufig hintan. Die Werkzeuge emanzipatorischer Praxis selbst, die vermeintlich universalen Ideale, Ziele und Subjektbegriffe, stammen notwendig aus der bestehenden Gesellschaft, aus ihrer immer schon vermachteten Ordnung von Wissen und Wahrheit. So kann sich beispielsweise der Einsatz für Arbeiterrechte als eine eklatante Missachtung von Frauenrechten erweisen. Diese Einsicht verändert vor allem auch die Sicherheit, mit der ein universeller emanzipatorischer Standpunkt bezogen werden kann. Kritik bedeutet als Konsequenz vor allem, solche (Selbst-)Gewissheiten, die zugrunde liegenden geteilten Wahrheiten, zu hinterfragen.

„Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen – und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin.“ (Foucault 1978: 15)

Es geht also nicht darum, dass urbanes Gärtnern, solidarische Landwirtschaft oder Mietshäusersyndikate nicht geeignet wären, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu verändern. Es geht vielmehr darum, die dabei impliziten Annahmen und Einsätze mit zum Gegenstand der Kritik zu machen. Welche Macht-Wissen-Komplexe werden durch die eigene kritisch-geographische Praxis „wahr“ gemacht? Welche Effekte sind damit verbunden? Eine solche Form von Kritik als Befragung ihrer eigenen Werkzeuge wird dann das Verhältnis von Gesellschaftskritik und Praxis auf Widersprüche, Krisen und die daraus hervorgehende gesellschaftliche Transformation befragen (Jaeggi 2013).

Damit der Kritik nicht die Puste ausgeht, sollte sie somit nicht nur auf ihren Gegenstand, sondern auch auf die eigene Praxis der Kritik anwendbar sein. Folglich sollte das, was Michel Foucault für die Kritik der Macht formuliert hat, auch für die eigene Praxis Angewandter Kritischer Geographie gelten. „[D]ass es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann, bedeutet, […] dass es eine ständige politische Aufgabe bleibt, die Machtbeziehungen und den ‚Agonismus‘ zwischen ihnen und der intransitiven Freiheit zu analysieren, herauszuarbeiten und in Frage zu stellen.“ (Foucault 1982: 289) Ein Beispiel dafür kann „das Teilen der Bedeutungshoheit und der Einsatz partizipativer Methoden im Forschungsprozess sein“, der es erlaubt, „machtsensible Forschungsergebnisse“ hervorzubringen (Volmer 2020: 266).

Kritik also bleibt konstitutiv für eine Angewandte Geographie, die auf die konkrete und praktische Gestaltung städtischer Prozesse abzielt. Foucault definiert Kritik als Antwort auf die Frage: „Wie ist es möglich, daß man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird?“ (Foucault 1978: 11 f.) Für die Entwicklung einer Angewandten Kritischen Geographie ist es wichtig, diese Frage konsequent auf die eigene Praxis zu übertragen: Unter welchen Annahmen, Einsätzen, Bedingungen, Machtverhältnissen und Wahrheiten funktioniert die Realisierung und Regierung unserer Projekte? In diesem Zusammenspiel entsteht eine Stadtgeographie, die angewandt und kritisch zugleich ist.

Dieser Artikel wurde durch den Open-Access-Publikationsfonds der Universität Münster gefördert.

Autor_innen

Iris Dzudzek ist Humangeographin und arbeitet zu Fragen von Macht und Wissen im Spannungsfeld von Globalisierung, Stadt und Gesundheit.

iris.dzudzek@uni-muenster.de

 

Henning Füller setzt sich in seiner Forschung mit dem Verhältnis von Macht, Raum und Technik auseinander, zuletzt am Gegenstand Public Health und Infektionskontrolle.

henning.fueller@geo.hu-berlin.de

Literatur

Belina, Bernd (2008): Kritische Geographie: Bildet Banden! Einleitung zum Themenheft. In: ACME: An International Journal for Critical Geographies 7/3, 335-349.

Foucault, Michel (1978): Was ist Kritik? Berlin: Merve.

Foucault, Michel (1982): Subjekt und Macht. Dits et écrits. Schriften Bd. 4: 1980-1988. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 269-294.

Halder, Severin (2018): Gemeinsam die Hände dreckig machen. Aktionsforschungen im aktivistischen Kontext urbaner Gärten und kollektiver Kartierungen. Bielefeld: transcript.

Hellriegel, Maximilian / Schmitt Pacífico, Sara (2019): Kompass für ein solidarisches Quartier. Reale Utopien für eine andere Stadtentwicklung. Frankfurt am Main: Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Hellriegel, Maximilian / Schmitt Pacífico, Sara (2020): Vom Elfenbeinturm auf die Straße und zurück – Kompass für ein solidarisches Quartier. In: Standort. Zeitschrift für Angewandte Geographie 44/4, 232-238.

Holm, Andrej / Gebhardt, Dirk (Hg.) (2011): Initiativen für ein Recht auf Stadt. Theorie und Praxis städtischer Aneignungen. Hamburg: VSA.

Iveson, Kurt (2013): Cities within the city: Do-it-yourself urbanism and the right to the city. In: International Journal of Urban and Regional Research 37/3, 941-956.

Jaeggi, Rahel (2013): Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp.

Kuge, Janika / Naumann, Matthias / Nuissl, Henning / Schipper, Sebastian (2020): Angewandte und Kritische Geographie. Gemeinsame Herausforderungen, gemeinsame Perspektiven? In: Standort. Zeitschrift für Angewandte Geographie 44/4, 219-225.

Marx, Karl (1845): Thesen über Feuerbach (MEW 3). Berlin: Dietz, 5-7.

Volmer, Ann-Kathrin (2020): Wissensgenerierung mit und für nichtakademische Akteur*innen. In: Standort. Zeitschrift für Angewandte Geographie 44/4, 262-267.