Vom Begehren des doing otherwise

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Beate Binder

Als Kulturanthropologin fällt es mir leicht, mein Verständnis von Kritik an Margot Weiss’ (2016) Überlegungen anzuschließen. Unter dem Titel Discipline and desire führt Weiss aus, wie das Begehren nach einem „doing otherwise“ sowohl davon motiviert ist, sich von etablierten Wegen des Denkens und Analysierens zu lösen, als auch von der Suche „for an object and a mode of analysis that could do justice to our hopes and dreams – political or analytical (or both)“ (ebd.: 182). Queerness und Anthropologie sind für sie Orte alternativer Möglichkeiten und des Strebens nach einer besseren Zukunft, allerdings nur, wenn weder Forschung noch politische Aspirationen vorschnell fixiert werden. Stattdessen geht es Weiss eher um eine „shared frustration in the limitations of our ways of knowing to do justice to our objects, or ourselves“ (ebd.). Für mich verbindet sich dieses Wissen um Grenzen mit Foucaults Vorstellung von Kritik als „Kunst der freiwilligen Unknechtschaft“, als Bewegung, „in welcher das Subjekt sich das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin“ (Foucault 1992: 15). Für ethnographisches Arbeiten schließen sich hier allerdings sofort Fragen nach dem Wo, Wie, Woher und Wohin an. Das „doing otherwise“ bedarf für Ethnograph:innen eines Ausgangspunkts, muss Fokus wie Perspektive finden, um sich artikulieren zu können. Shirley Ortner hat darauf aufmerksam gemacht, wie schnell es bei der Suche nach Ausgangspunkten zu Verkürzungen kommen kann. Vor dem Hintergrund des erstarkenden Neoliberalismus als ökonomischer wie gouvernementaler Formation sei die Anthropologie seit den 1980er Jahren gekennzeichnet durch eine zunehmende Fokussierung „on the harsh dimensions of social life (power, domination, inequality, and oppression), as well as on the subjective experience of these dimensions in the form of depression and hopelessness“ (Ortner 2016: 47). Neben dieser „dark anthropology“ beobachtet sie eine Hinwendung zum „Positiven“, zu Fragen von Glück, Zufriedenheit, zur Aushandlung moralischer Ordnungen und Fürsorgebeziehungen. Diese „anthropology of the good“ könne und wolle zeigen, dass neben den ohne Zweifel kritikwürdigen Effekten neoliberaler Regime auch Möglichkeitsräume eines anderen – besseren – Lebens existierten (ebd.: 60). Allerdings tendierten solche Studien gelegentlich dazu, die Dominanz von Unrechtsregimen auszublenden. Erst wenn beide Ansätze in Beziehung zueinander gebracht würden, könnten Anthropolog:innen, und hier schließt Ortner an Arjun Appadurai an, zu „mediators, facilitators, and promoters of the ethics of possibility“ werden und die Vielfalt möglicher anderer – besserer – Zukünfte sichtbar werden lassen (ebd.: 65, dort zitiert: Appadurai 2013: 299). Ob dann, in der Unterscheidung von Charles Hale (2006), die Forschung in Form einer „cultural critique“ oder als „activist research“ umgesetzt wird, scheint Ortner zweitrangig. Ob also die sozialen Kämpfe der Zeit in Solidarität, aber ohne eigene Beteiligung in den Blick genommen werden oder ob das eigene Engagement den Ausgangspunkt der Forschung bildet, ist für sie nicht entscheidend. Wichtig sei vielmehr, das Sichtbarmachen der machtvollen Effekte neoliberaler Regime und die multiplen Formen des Widerstehens nicht als Gegensatz, sondern in ihrer Relationalität zueinander zu verstehen. Eine solche doppelte Forschungsstrategie könnte dann, so möchte ich ergänzen, in eine conjunctural analysis eingebettet werden, die das Zusammentreffen von übergreifenden Dynamiken und Gesellschaftsformationen mit besonderen Momenten, situiertem politischen Handeln und sozialen Kämpfen zu durchdringen sucht (vgl. Ege 2021).

Was bietet sich Besseres an für einen solchen doppelten Zugriff als die Stadt und das Urbane? Stadt, verstanden als Versammlung sich überlappender Räume und Lebenswelten, von Infrastrukturen und bürokratischen Ordnungsprozessen, als Assemblage, in der widersprüchliche Kräfte wirken, verweigert sich ebenfalls der Fixierung (vgl. Blok/Farías 2016). Je nach Perspektivierung und egal, ob als Ort oder Gegenstand der Forschung, nehmen die Stadt und das Urbane unterschiedliche Gestalt an. Hier artikulieren sich Effekte neoliberaler Regime ebenso wie mannigfaltige Potenzialitäten eines „doing otherwise“ und verbinden sich miteinander. Unser Engagement sollte auch hier weiter den Versuchen eines „anderen“ Handelns gelten, um beidem gerecht zu werden, dem Objekt der Forschung wie unseren eigenen (politischen) Überzeugungen – „knowing that institutional closure also might open us to new ways of knowing, and achieving, that which we held most dear“ (Weiss 2016: 182).

Autor_innen

Beate Binder forscht in der Europäischen Ethnologie zu den Themen Geschlecht, Stadtanthropologie, Politik- und Rechtsanthropologie, Politik und Praktiken der Erinnerung sowie im Bereich feministischer Kulturanthropologie.

beate.binder@hu-berlin.de

Literatur

Appadurai, Arjun (2013): The future as cultural fact: Essays on the global condition. London u. a.: Verso.

Blok, Anders / Farías, Ignacio (2016): Introducing urban cosmopolitics: Multiplicity and the search for a common world. In: Anders Blok / Ignacio Farías (Hg.), Urban cosmopolitics: Agencements, assemblies, atmospheres. London/New York: Routledge, 1-22.

Ege, Moritz (2021): Konjunktur/Konstellation. In: Peter Hinrichs / Martina Röthl / Manfred Seifert (Hg.), Theoretische Reflexionen. Berlin: Reimer, 177-194.

Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve.

Hale, Charles R. (2006): Activist research v. cultural critique: Indigenous land rights and the contradictions of politically engaged anthropology. In: Cultural Anthropology 21/1, 96-120.

Ortner, Sherry B. (2016): Dark anthropology and its others: Theory since the eighties. In: HAU: Journal of Ethnographic Theory 6/1, 47-73.

Weiss, Margot (2016): Discipline and desire: Feminist politics, queer studies, and new queer anthropology. In: Ellen Lewin / Leni M. Silverstein (Hg.), Mapping feminist anthropology in the twenty-first century. New Brunswick: Rutgers University Press, 168-187.