Das Urbane konzeptualisieren

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Allan Cochrane

Zwischen der fast schon nachlässigen umgangssprachlichen wie auch akademischen Verwendung des Begriffs des Urbanen[1] – wir alle wissen, wo es liegt – und der Suche nach spezifischeren, gar wissenschaftlichen Definitionen besteht ein schwieriges Verhältnis. Auf den ersten Blick scheint es eine recht leichte Aufgabe, das Urbane städtischer Politik zu identifizieren. Es ist ganz einfach die Politik, die in städtischen Gebieten stattfindet, welche in der Praxis üblicherweise durch die territorialen Grenzen definiert sind, in denen sich der lokale Staat konstituiert.

Aus dieser Perspektive [betrachtet] lässt sich die Politik von Stadt- und Metropolregierungen als der formale Ausdruck städtischer Politik begreifen. Aber natürlich impliziert solch eine Formulierung ein allzu enges und begrenztes Verständnis des „Urbanen“, da sie die politischen Möglichkeiten und Problematiken städtischen Lebens [urban life] nicht erfasst. Ein Weg, der hier weiterführen könnte – und den ich beschreiten möchte – besteht darin, die Alltagspraktiken des urbanen Lebens [urban living] genauer in den Blick zu nehmen und zu prüfen, inwieweit sie Optionen eröffnen, die über die formale Politik hinausgehen, so wichtig diese mitunter auch sein mag. Das ermöglicht es nicht nur, über Aktivitäten nachzudenken, denen oft nicht einmal das Etikett „Politik“ zuerkannt bekommen, sondern auch, die Bedeutung aufkeimender politischer – und sozialer – Bewegungen und die Forderungen verschiedener Gruppen zu untersuchen. Weniger positiv formuliert wäre gegebenenfalls auch zu prüfen, inwieweit städtische Lebenspraktiken von anderen Triebkräften geprägt werden, wie z.B. den Interessen von Grundbesitzer*innen, Vermieter*innen und Immobilienentwickler*innen, die in sogenannte Wachstumskoalitionen oder städtische Regime eingebunden sein können. Das Alltagsleben [in] der Stadt ist ein umstrittenes und unebenes Terrain, es reproduziert Formen der Ungleichheit, auch wenn es mitunter Wege aufzeigt, diese infrage zu stellen.

In jedem Fall werden die herkömmlichen Grenzen des Urbanen, die ich eingangs beschrieben habe, kritisch hinterfragt. Es ist nicht nur so, dass die sozialen und ökonomischen Zusammenhänge, um die herum sich städtisches Leben konstituiert, weit über die staatlicherseits festgelegten territorialen Grenzen hinausreichen, ebenso bedeutsam sind auch die sich überschneidenden Netzwerke und Räume innerhalb dieser Grenzen (die Nachbarschaften, Gemeinschaften und Identitäten definieren). Das Urbane befindet sich in einem ständigen Prozess des Werdens und Vergehens, es ist nichts, was sich als Studienobjekt zur Untersuchung durch das Mikroskop sozialwissenschaftlicher Forschungsvorhaben fixieren ließe.

Die Herausforderung besteht also nicht darin, unbedingt die Grenzen zwischen urbanen und „nicht-urbanen“ Räumen bestimmen zu wollen, sondern vielmehr darin, die aktiven Prozesse zu erforschen, durch die sich das Urbane konstituiert – immer in Bewegung, nie vollendet. Worauf es aus dieser Perspektive ankommt, sind die Beziehungen, die dazu beitragen, solche Erfahrungen entstehen zu lassen, damit wir das Urbane als den Raum begreifen, in dem sich diese Beziehungen überschneiden, etablieren und zusammenkommen, und zwar oft in angespannter Weise und mit besonderer Intensität. Kennzeichnend für das Urbane ist das Nebeneinander von Bevölkerungsgruppen über Race, Klassen- und Geschlechtergrenzen hinweg, da sie Seite an Seite leben müssen. Daraus können differenzüberschreitende Formen des Miteinanders entstehen, oft verstärken sich aber auch die Spaltungen.

Das Paradoxe ist, dass derartige Prozesse Orte miteinander verbinden (und gegenseitige Abhängigkeiten entstehen lassen) und sie gleichzeitig voneinander trennen (wenn sich soziale Beziehungen etablieren und, zumindest für gewisse Zeit, lokale Identitäten herausbilden). Orte sind wichtig, aber nicht, weil sie fest definierte Territorien sind. Mit anderen Worten, es gibt kein einfaches (oder gar komplexes) „Urbanes“, das darauf wartet, zu Forschungszwecken identifiziert und abgegrenzt zu werden: Es definiert sich in der Praxis durch die sozialen und ökonomischen Beziehungen, die den Raum durchdringen und sich an einem Ort etablieren.

Kritik entwickeln

Es ist allzu leicht, in eine Vorstellung von Kritik [critique] zu verfallen, die kaum mehr ist als [punktuelles] Kritisieren [criticism] – bei dem die Aufgabe darin besteht, die Handlungen anderer oder die Folgen bestimmter sozialer oder ökonomischer Systeme von der Seitenlinie aus (und in der Regel negativ) zu kommentieren. Und natürlich hat solch eine Position [durchaus] das Potenzial, wichtige Erkenntnisse zu liefern. Vieles auf der Welt verdient es, heftig kritisiert zu werden, und außerhalb bzw. am Rand zu stehen macht es leichter, Distanz zur Weltanschauung derjenigen zu wahren, die man kritisieren möchte. Daher sollte der Wert fundierten und belegten Kritisierens [criticism] dieser Art nicht geringgeschätzt werden. Sie könnte sogar als Grundlage für die Entwicklung einer Praxis [systematischer] Kritik [critique] dienen.

Kritik [critique] hat das Potenzial, viel mehr zu sein als [punktuelles] Kritisieren [criticism], und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens bietet sie die Möglichkeit, die Ursachen, die zu bestimmten Ergebnissen führen, zu ermitteln und zu erforschen, genauso wie die Wege und Prozesse, auf denen bzw. durch die es zu eben diesen Ergebnissen gekommen ist. Anders ausgedrückt hat wirksame Kritik [critique] die Aufgabe, über jeden spezifischen Gegenstand, den es zu untersuchen – oder zu kritisieren – gilt, hinauszugehen und ihn präzise in umfassendere soziale und ökonomische Prozesse einzuordnen. Die Aufgabe ist folglich, klar zu artikulieren und deutlich zu machen, warum und wie die Welt so konstruiert wird, wie sie es ist, wobei ein grundlegender Aspekt darin besteht, ein theoretisches Verständnis zu entwickeln.

Auf dieser Basis wird es zweitens möglich, alternative Wege des Denkens und Handelns zu entwickeln und auf Wege hinzuweisen, wie vorherrschende Ansätze und als selbstverständlich geltende Annahmen über die soziale Welt und ihre Funktionsweise infrage gestellt oder gar überwunden werden können. Die Aufgabe besteht also darin, Spannungen und Widersprüche zu identifizieren und Wege aufzuzeigen, wie diese aufgelöst werden können, um neue Möglichkeiten und andere Lebensweisen hervorzubringen.

Kritik bedeutet zu verstehen, wie und warum bestehende Arrangements gestaltet sind, wie sie es sind, und dies zu hinterfragen. Aber sie bedeutet auch zu erkennen, dass diese Arrangements, so stabil sie auch erscheinen mögen, immer fragil, unsicher und niemals endgültig sind. Sie systematischer Kritik zu unterziehen ermöglicht es, aktiv darüber nachzudenken, was sie uns über zukünftige Möglichkeiten zu sagen haben. Heißt das, dass es immer möglich ist, dies [auch] zu erreichen? Natürlich nicht. Aber der Ehrgeiz dazu ist immer vorhanden.

Übersetzung aus dem Englischen von Andrea Tönjes für SocioTrans – Social Science Translation & Editing Services.

Endnoten

Autor_innen

Allan Cochrane ist ein kritischer Sozialwissenschaftler auf dem Gebiet der Stadtforschung. Seine Arbeit konzentriert sich auf die Politik von und das Leben in Städten und Regionen.

allan.cochrane@open.ac.uk