(Homo-)Sexuelle Lust jenseits der Metropole

Das intime Queeren von Räumen in Aachen

José Miguel Sánchez-Molero Martínez, Phevos Kallitsis

1.Das Queeren von ordinary cities

In den 1970er und 1980er Jahren schien die Großstadt das Hauptziel für LSBTIQ+-Personen zu sein. Das führte zu dem, was Weston (1998) als „the great gay migration“ bezeichnet. Die Literatur über Schwule und Lesben auf dem Land (Kazyak 2011: 561 ff.) und in kleineren Städten und Gemeinden zeigt jedoch, dass homosexuelle Identitäten und Wünsche auch außerhalb der Großstädte verwirklicht und gelebt werden können. Die Arbeiten von Gates (2013), Brown-Saracino (2017), Butterfield (2018) und Stone (2018) heben hervor, dass der Schwerpunkt der queeren Raumforschung in europäischen und nordamerikanischen Ländern zwar auf den Metropolen liegt, die Mehrheit der queeren Bevölkerung jedoch in kleinen und mittelgroßen Städten sowie in ländlichen Gemeinden lebt, die in der Vergangenheit als „unfreundliche“ Umgebungen behandelt wurden.

Die queere Raumerfahrung ist fragmentiert und von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich. Dabei spielt der Maßstab eine wichtige Rolle. Räume haben mehrere Bedeutungen und es gibt unterschiedlichste Arten der Aneignung auch jenseits der einen Funktion, die das Konzept gayborhood nahelegt (Ghaziani 2019). In Mittelstädten und ländlichen Gebieten gibt es nach wie vor nur eine begrenzte queere Infrastruktur, aber auch einen Mangel an relevanter Recherche über die LSBTIQ+-Szene. Daraus ergibt sich die Aufforderung, Stadt im Sinne von Robinsons (2006) „ordi­nary cities“ zu untersuchen, und zwar nicht nur bezogen auf den Globalen Süden, sondern auch durch die von Wu (2016) und Mattson (2020) bei ihren Untersuchungen des LSBTIQ+-Lebens in US-amerikanischen Kleinstädten vorgeschlagene Brille der Stadtsoziologie. Über die Forschung zu gayborhood und die gay villages hinaus haben Forscher_innen betont, wie ländliche Gemeinschaften Räume schaffen, die temporär (Gray 2009), stimmungsvoll (Brown-Saracino 2011) und in vielen Fällen weniger sichtbar sind (Kazyak 2012).

Ein Beispiel solch einer temporären queeren Aneignung städtischer Räume ist das cruising oder cottaging – die Suche nach sexuellen Kontak­ten an öffentlichen Orten. Damit nehmen Menschen bestimmte Räume durch sexuelle Praktiken temporär in Besitz (Betsky 1997). Auf diese Weise werden zum Beispiel öffentliche Parks, abgelegene Parkplätze oder öffentliche Toiletten in schwule/queere Räume verwandelt. Diese Praktiken sind (homo-)sexuelle Ausdrucksformen, die eine ungenaue Geschichte zu haben scheinen und schon so lange existieren, wie Männer Sex suchen (vgl. Brown 2008). Diese subkulturellen Praktiken, die als „Institution“ angesehen werden können (ebd.), sind weltweit verbreitet und folgen oft ähnlichen Konstitutionsprozessen und Teilnahme-Normen. Dies geschieht, obwohl andere Möglichkeiten der Kontaktaufnahme existieren, wie beispielsweise eine kommerzielle „queere Szene“, die vielfach mit Eintrittsgeldern und einer besonderen Identität verbunden ist (und bei der es mehr um Aussehen und Etikettierung geht als um den sexuellen Akt, siehe Ashford 2006).

Im deutschen Cruising-Jargon ist der Begriff „Klappe“ der wohl bekannteste, mit dem über die Raumproduktionen des cruisings geredet wird. Bekannt dafür sind beispielsweise öffentliche Pissoirs in Großstädten wie Berlin oder Hamburg, aber auch im nordrhein-westfälischen Aachen, direkt an der Grenze zu Belgien und den Niederlanden. Während es zur Cruising-Historie in anderen Großstädten bereits bekannte Literatur gibt, ist im Falle Aachens die im Text erläuterte Forschung die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit queeren und sexualisierten Räumen.

Aktuell wohnen fast 260.000 Öcher_innen (Bezeichnung für die Ein­woh­ner_innen Aachens in der lokalen Mundart Öcher Platt) in der Städte­region Aachen, wobei das geographische Stadtzentrum, offiziell als Aachen Mitte bezeichnet, rund 168.000 Einwohner_innen hat (Stadt Aachen 2021). Somit wird Aachen offiziell als eine „kleinere Großstadt“ bezeichnet (BBSR 2022). Tatsächlich ergibt sich die Größe der Stadt aber hauptsächlich aus den eingemeindeten Siedlungen und Dörfern. Seit den Eingemeindungen der 1970er Jahre hat sich die Fläche Aachens mehr als verdoppelt: 64 Prozent der Städteregion besteht seitdem aus den zuvor umliegenden Gemeinden (Statistisches Bundesamt 1983). Diese Dörfer und Siedlungen erweitern die Stadt Aachen zwar in der Peripherie, haben jedoch nicht zu einer Schaffung weiterer queerer Orte beigetragen. Wie dieser Aufsatz erläutert, liegt die große Mehrheit queerer oder gequeerter Räume vorrangig in Aachen Mitte, also in der historischen (Innen-)Stadt. Ganz anders ist die Situation etwa in der queeren Metropole Köln, die seit Jahrzehnten eine lebhafte Szene bietet, die in vielen Straßen sowie in ganzen Stadtteilen sichtbar ist.

Dennoch ließen sich in Aachen in den vergangenen 50 Jahren immer wieder Spuren queerer Praktiken und Räume finden. Diese wurden im Forschungsprojekt „QUEERingAACHEN“ dokumentiert, kartiert und analysiert. Im Folgenden wird die Entwicklung dieser queeren „Raumproduktionen“ (Schuster 2010: 52) in Aachen analysiert und im Kontext der internationalen Literatur diskutiert.

1.1.Das Forschungsprojekt „QUEERingAACHEN“

Dieser Artikel basiert auf der empirischen Datenerhebung des For­schungs­projekts „QUEERingAACHEN“ (Sánchez-Molero 2020a), das mit einem Mixed-Methods-Ansatz gearbeitet hat, und zwar hauptsächlich mit einer multimedialen Archivrecherche und mit Interviews mit Zeitzeug_innen unterschiedlicher Generationen. Bei der Arbeit in den Archiven queerer, regionaler und nationaler Institutionen sowie auf digitalen Plattformen wurden vor allem zwei Arten von Quellen untersucht, die zur quantitativen Datenerfassung beigetragen haben:

Ein wichtiger Bestandteil der digitalen Recherche waren den Websites queerer Räume (etwa einschlägiger Bars und Kinos) soziale Netzwerke und Dating-Apps (über die Aktivitäten bestimmter Gruppen und auch Räume nachverfolgbar sind) sowie Web-Archive. Letztere beinhalten digitale Aufnahmen inaktiver Websites und ermöglichen so den Zugriff auf Material und Daten, die ansonsten nicht mehr zugänglich sind. Die Recherche ergab viele Informationen zu versteckten und vergessenen Räumen und Praktiken, unter anderem in Form von Adressen, Zeitangaben, Netzwerken und so weiter. Aus der Datenerhebung entstand eine Kartierung von fast 90 Räumen aus den letzten 50 Jahren (1970-2020). Diese Zahl verdeutlicht die Relevanz einer solchen Forschung zur Sichtbarmachung queerer Geschichte nicht nur in öffentlich bekannten queeren Metropolen, sondern auch in kleineren Großstädten.

Dieses Mapping wurde verglichen mit und ergänzt durch Aussagen von Zeitzeug_innen. Nach ersten Kartierungen begann die Durchführung der Interviews. Beide Methoden wurden in einem iterativen Prozess miteinander kombiniert, um Informationen so präzise wie möglich verfolgen und überprüfen zu können. Die meisten der 14 narrativen Interviews wurden mit cis-männlichen schwulen/queeren Zeitzeugen durchgeführt. Diese konnten jeweils über ein oder mehrere Jahrzehnte berichten – von den 1960er bis in die 2010er Jahre (siehe Tabelle 1). Das Jahrzehnt in der Tabelle gibt jeweils an, ab wann die Zeitzeug_innen Teil der Aachener queeren Szene waren. Nur einige Interviewpartner_innen kommen aus Aachen, die meisten zogen zu Studienzwecken dorthin. Die Auswahl der Interviewten erfolgte nach dem Schneeballverfahren. Insbesondere Bekanntschaften innerhalb der queeren Szene haben dabei einen Zugang zu weiteren Kontakten ermöglicht. Ein Kriterium für die Auswahl der Zeitzeug_innen waren (neben dem Alter und dem damit verbundenen Wissen), möglichst diverse Rollen der interviewten Person bei der queeren Raumproduktion: Unterschieden wurden dabei die Rollen der „Gründer_innen“ von Räumlichkeiten, der „Hilfskräfte“ in bestehenden Räumen und der „Gäste“ selbiger Räume. Mit dem Ziel, aus allen drei Gruppen Perspektiven zu gewinnen, wurde dann „rekrutiert“.

1960er bis 1970er Jahre

1980er Jahre

1990er Jahre

2000er Jahre

2010er Jahre

Detlef:

gebürtiger Öcher, Aktivist und Stammgast mehrerer Lokale

Bernd:

Mitgründer eines queeren Vereins; private Sammlung zu queeren Inhalten

Pascal:

gebürtiger Öcher, Stammgast mehrerer Lokale

Tim:

Mitgründer einer Partyreihe und Gast vieler Lokale und Veranstaltungen

Kim:

Hilfskraft und Vorstands-Mitglied eines Vereins

Richard:

Gast bei mehreren Vereinen

Wilfried:

Mitgründer eines queeren Vereins; Gründer einer ehemaligen Bar

Michael:

Mitgründer einer Partyreihe und Gast vieler Lokale und Veranstaltungen

Sebastian:

Hilfskraft und Vorstands-Mitglied eines Vereins

Ahmad:

Gast mehrerer Lokale und Veranstaltungen

Hans:

Aktivist und Mitgründer von Vereinen

Karl:

Mitarbeiter einer NGO / Hilfskraft bei mehreren Vereinen

David:

Hilfskraft bei einem Lokal

Omar:

Gast mehrerer Lokale und Veranstaltungen

Tab. 1Beschreibung der Interviewpartner_innen (mit Pseudonymen)

Die Kartierung zeigt schon für die 1960er Jahre erste Anzeichen einer Existenz von Klappen in öffentlichen Räumen. Die digitale Kartierung ist noch immer im Internet abrufbar (Sánchez-Molero 2020b). Das erworbene Wissen soll so mit der Öffentlichkeit geteilt werden. Im Juli 2022 hatte die Website über 14.000 Aufrufe.

Im Folgenden wird die Klappen-Kultur in Aachen in drei Phasen unterteilt, um die unterschiedlichen Praktiken, Dynamiken und Trends innerhalb der vergangenen 50 Jahre näher zu beschreiben:

Die ersten queeren Raumproduktionen, die Ende der 1960er in Aachen dokumentiert wurden, waren eine Bar in der Reihstraße und eine Klappe am Hauptbahnhof. Sie erschienen im „eos-guide“ von 1968 auf einer Liste von Räumen auf der ganzen Welt, die von schwulen Nutzern für schwule Nutzer produziert wurden. Beide Räume entstanden aus dem Bedürfnis nach dem Ausleben der (Homo-)Sexualität ihrer Nutzer und waren oftmals die erste und einzige Möglichkeit hierfür. Das Leben in the closet war für viele Realität. Das heißt, sie mussten ihre Identität, ihre Beziehungen und ihr Begehren verstecken. Durch die ständig präsente Angst, von Familienmitgliedern, Bekannten oder Arbeitgebenden als schwul erkannt zu werden, entstanden diese Räume unbemerkt von der Breite der Gesellschaft, waren aber dennoch auffindbar für Eingeweihte, die genau danach suchten. So machten beispielsweise Bar-Betreiber_innen die Präsenz ihrer Lokale im Straßenraum unauffällig, indem sie ihre Fenster hinter Holzpaneelen versteckten oder Gucklöcher in den von außen versperrten Eingangstüren installierten – sie wollten nicht, dass ihre Kneipen von außen als solche erkannt werden können, erst recht nicht als queere Kneipen. Andererseits sind Aachener Klappen an bereits vorhandenen öffentlichen Räumen entstanden – etwa in dunklen Ecken, Hinterhöfen oder öffentlichen Toiletten –, die zwar leicht zugänglich waren, deren Nutzung jedoch für heteronormative Blicke nicht offensichtlich war. Anders als etwa Bars oder Diskotheken entstanden Klappen spontan, informell und inoffiziell. Sie waren unter ihren Nutzern bekannt; diese erfuhren meist in privaten Gesprächen davon, „man hört es“, wie Detlef (Zeitzeuge der 1970er Jahre) es formuliert. Mundpropaganda war also eine Möglichkeit, der heteronormativen sozialen Kontrolle zu entkommen und Räume für intime, spontane Aktivitäten zu finden. Die Räume bedurften keiner Vorbereitung zu ihrer Konstitution, diese erfolgte durch die Nutzung selbst – „nachts geht man da nicht zum Pinkeln hin“ (Detlef). Dies erschwert das nachträgliche Dokumentieren und Datieren von Klappen erheblich. Low (1995) bezeichnet dies als „hidden gay time and space“ („versteckte schwule Zeit und Raum“). Viele Nutzer hatten oft mehr Angst vor einer „Entdeckung“ als vor dem „Risiko, Fremde im Dunkeln zu treffen“ – „wie sonst hätte man andere Männer für sexuelle Beziehungen getroffen?“, fragt Hans (Zeitzeuge der 1970er Jahre). Die Literatur über englische Städte (Church et al. 1993) unterscheidet bei diesem Bedarf an entsprechenden Räumen und der hohen Beliebtheit von cruising drei Faktoren: sexuelles Vergnügen, Aufregung und Anonymität.

Klassische Standorte für Aachener Klappen seit den 1960er bis in die 1980er Jahre waren meist öffentliche Toiletten und Pissoirs an der Straße. „Genauso wichtig“ wie die Toilettenkabinen und Innenräume seien die Eingänge gewesen, aber auch die umgebenden Gebüsche, Grünanlagen und Gassen, so Richard (Zeitzeuge der 1970er Jahre). Dort hätten Besucher potenzielle Interessenten zuerst gesehen und mit Blicken Kontakt aufgenommen. Nutzer aus den 1970er Jahren berichten, dass unter der Woche nachts nur wenige Menschen auf der Straße unterwegs waren – wegen der Sperrstunde vieler Bars um 1 Uhr morgens und der geringen Straßenbeleuchtung (Richard). In der dunklen Atmosphäre – „nicht schön und unangenehm“ (Richard) wanderten die Besucher durch die ihnen bekannten Klappen, um Kontakte zu finden, sich für später oder an einem anderen Ort zu verabreden oder direkt einen Treffpunkt für Geschlechtsverkehr zu vereinbaren. Ob in gebauten Räumlichkeiten oder hinter einem Gebüsch: Diese Klappen und cruising spots waren leicht zugänglich, aufgrund ihres öffentlichen Charakters jederzeit erreichbar und vor allem nachts besonders leer. Ihre ursprüngliche Funktion blieb nachts meist ungenutzt, so konnten diese Orte frei zu Räumen für sexuelle Aktivitäten umfunktioniert werden. Cruising hat nach Low (1995) eine zeitliche und eine räumliche Dimension: die Nutzungszeit werde angepasst, um anstatt der Schaffung neuer Räume neue Zeitrahmen zu finden, da die nächtliche Nutzung sicherer ist.

Nutzer „entsprachen einem konkreten Profil: Meistens junge Männer, die Sex mit anderen Männern suchten“ (Richard). Die Forschung ergab keine Hinweise auf cruising von Trans*-Menschen: In den Interviews und Literaturquellen ist ausschließlich die Rede von Cisgender-Männern. In der Literatur beschreibt die Klassifizierung MSM Männer, die sexuelle Praktiken mit anderen Männern ausüben – unabhängig davon, ob sie sich als homosexuell, bisexuell oder queer identifizieren und ob sie überhaupt geoutet sind (vgl. Joseph 2005). Für manche dieser Männer spielt die Existenz schwuler Bars und anderer sozialer Treffpunkte keine große Rolle, da sie ohnehin alternative Möglichkeiten suchen, ihre Sexualität inkognito auszuleben (vgl. Ashford 2006). Viele dieser Männer suchen sexuelle Kontakte, die schnell (wegen begrenzter zeitlicher Ressourcen), kostengünstig und unpersönlich stattfinden, um ihre Anonymität zu wahren (Humphreys 1970: 115). Dies sind genau die Eigenschaften, die Klappen- oder Cruising-Areale bieten. Laut den Interviews war die offene Homophobie in der Aachener Gesellschaft der 1970er so groß, dass viele Männer ihre Sexualität nur in versteckten Kontexten ausleben konnten. Einige lebten sogar in heteronormativen Familienstrukturen „mit Frau und Kind“ (so Sebastian, Zeitzeuge der 2000er Jahre).

Historisch wurde queere Intimität als etwas Abweichendes und Abscheu­liches konstruiert (ähnlich dem Konzept des „deviant and abject“, Kristeva 1982). Dabei spielen gesellschaftliche Normen in Bezug zur aufgezwungenen Heteronormativität im öffentlichen Raum die Rolle des Foucault’schen Panoptikums (Kuhar 2011). Soziale Kontrolle manifestierte sich auf verschiedene Weisen: durch sozial regulierende Prozesse wie subtile Blicke, Bemerkungen und Ausgrenzung oder durch Kriminalisierung und systematische Diskriminierung in der Gesetzgebung bis hin zu physischen homophoben Attacken und der Brutalität einzelner Individuen, aber sogar staatlicher Organe wie der Polizei. Die bloße Angst, zum Opfer zu werden, war eine ständige Bedrohung, die den Alltag queerer Menschen jahrhundertelang prägte. Auch heutzutage ist diese Gefahr für Millionen von Menschen weltweit noch immer Realität, auch in Deutschland und in anderen EU-Staaten (siehe FRA 2022: 56 ff.).

In Aachen reden Zeitzeugen über Gewalt in Form isolierter Angriffe von Mitbürger_innen, Polizeirazzien in Bars und Klappen oder dem allgegenwärtigen Risiko, zwangsweise geoutet zu werden. Ein solcher Verlust der Anonymität hätte in einer überschaubaren Stadt wie Aachen höchstwahrscheinlich weitreichender soziale Folgen gehabt als in Großstädten – etwa eine Ablehnung durch die eigene Familie, durch Freund_innen oder Arbeitgebende. So hing über dem cruising immer das Damoklesschwert von Gewalt, Verhaftung oder Outing. „In the closet“ zu sein war damals für die meisten die einzige Option (Brown 2000: 77). Dies steht in krassem Kontrast zur heutigen Situation junger, queerer Menschen, die in deutschen Städten häufig an öffentlichen Veranstaltungen wie dem CSD oder an queeren Partys teilnehmen.

Ein Beispiel für die damalige öffentliche Ablehnung queerer Aus­drucks­for­men ist die Wandmalerei mit einem schwulen Liebespaar an einer Außenwand des Cafés „Kittel“ in der Aachener Innenstadt. Der Aachener Künstler Klaus Paier malte das Bild Ende der 1970er Jahre als eines seiner zahlreichen demonstrativen Werke über soziale Ungleichheit. Viele Öcher_innen, darunter der damalige Oberbürgermeister Kurt Malangré lehnten es ab (vgl. Hautermans 2017). Entfernt wurde die Wandmalerei jedoch nicht und seit 2016 steht sie unter Denkmalschutz. Paier markierte die Umgebung mancher Klappen mit Graffitis, die häufig sehr explizite Analsex-Szenen zeigen (zum Beispiel auf dem Parkplatz an der St.-Michael-Kirche, siehe Abbildung 1).

Abb. 1 Kartierung der Klappen und Cruising-Areale in Aachen, 1970-2020 (eigene Darstellung von QUEERingAACHEN, mit eigenen Fotografien und historischem Foto der Wandmalerei aus dem „Rosa Kalender“, Aachener Printenschwestern 1981)

Abb. 1Kartierung der Klappen und Cruising-Areale in Aachen, 1970-2020
(eigene Darstellung von QUEERingAACHEN, mit eigenen Fotografien und historischem Foto der Wandmalerei aus dem „Rosa Kalender“, Aachener Printenschwestern 1981)

3.1980er und 1990er Jahre: Popularisierung und Diversifizierung der Klappenkultur

Die 1980er und 1990er Jahre waren in der queeren Szene Aachens von einer zu­neh­men­den Zahl queerer Raumproduktionen geprägt – sowohl in In­nen­räumen als auch in der Öffentlichkeit. Es entstanden Netzwerke von Bars, Ver­einen und Aktivitäten, kleine hubs mit sozialen Zentren. Vereine sam­melten Spenden und boten Aufklärung für HIV-Infizierte. Durch die Schaf­fung dieser Räume entwickelte sich eine neue Dynamik. Sie wurden immer weniger tabuisiert und verheimlicht; sie waren sowohl offen­sicht­lich wahr­nehm­bar als auch einfacher erreichbar und wurden zudem öffentlich beworben.

Gleichzeitig war die Existenz der Klappen bedroht: Unseren Quellen zufolge wurden im Laufe der 1980er Jahre immer mehr städtische öffentliche Toiletten geschlossen. Als Reaktion darauf entstanden neue, informelle Klappen. Diese brachten wiederum weitere kreative, improvisierte räumliche Ansätze hervor. So entstanden zum Teil neue Cruising-Areale an Orten, die sich an vorherigen Klappen orientierten, etwa Toiletten an Verkehrsknotenpunkten (Bahnhöfe, Busbahnhöfe, Autobahnraststätten – beispielsweise die Klappe am Hauptbahnhof, siehe Abbildung 1), aber auch bewaldete, öffentliche Parks mit dunklen, versteckten und geschützten Ecken (etwa die Klappe an der Monheimsallee, siehe Abbildung 1).

Auch andere räumliche Kontexte wurden neu sexualisiert, wie etwa die Innenräume verschiedener Gebäude:

Die bisher genannten Räume wurden aktiv und sozial konstruiert, indem dem gebauten Bestand eine neue Funktion und Nutzung zugewiesen wurde. Die Teilnahme am cruising war meist spontan, je nach Lust und Interesse. Sie war zudem, wie bereits erwähnt, stets zeitlich begrenzt. Die neuen Klappen an öffentlich zugänglichen Gebäuden wurden eher durch Studenten sexualisiert. Dies geschah nicht in einem organisierten Modus, sondern meist durch Mundpropaganda. In der Herrentoilette des Mensakellers sei die Präsenz des Hausmeisters manchmal ein Hindernis gewesen. Das habe aber der Beliebtheit der Klappe nicht geschadet, so Bernd (Zeitzeuge der 1980er Jahre).

Ende der 1990er Jahre entstand eine weitere Art des cruisings, bei der zum ersten Mal die geplante Funktion der Räumlichkeit und ihre tatsächliche Nutzung durch Besucher übereinstimmten: Pornokinos oder Videoläden, die ein abwechslungsreiches Programm an schwulen bis heterosexuellen Pornofilmen zeigten – aber auch für cruising bekannt waren und dafür sogar feste Uhrzeiten oder Events organisierten. Die Top-down-Dynamik dieser Praktiken erzeugte feste, definierte Zeitrahmen (auch tagsüber) für Geschlechtsverkehr und schaffte so einen zuvor erforderlichen Zwischenschritt ab: die aktive, individuelle Suche nach Menschen an verschiedenen Standorten. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob diese Aktivitäten in Sexkinos – im Gegensatz zu den unerlaubten und unorganisierten Klappen an öffentlichen Räumen – überhaupt noch als cruising zu bezeichnen sind. Schließlich wurden diese Lokale explizit dafür entwickelt, solche Praktiken zu ermöglichen. Brown (2008) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Räumen, in denen sexuelle Treffen organisiert werden und Räumen, die erst durch sexuelle Praktiken entstehen. Das Angebot der Sexkinos verkörpert außerdem die ersten und einzigen kommerziell geplanten Klappen, deren Betreiber von finanziellen Gewinnen profitieren konnten. Anders als zahlreiche Kölner Lokale, die Cruising-Treffpunkte sind oder wo entsprechende Veranstaltungen stattfinden, wurde diese Szene in Aachen kaum über einen gewissen Kreis von Teilnehmern hinaus bekannt: „In Aachen gab’s nie eine schwule Sauna“, so Wilfried (Zeitzeuge der 1980er Jahre). Dies hat oft dazu geführt, dass viele queere Öcher_innen nach Köln gefahren sind, wo es nach weniger als einer Stunde Bahnfahrt „erheblich mehr Vielfalt an Angeboten und mehr Anonymität“ gab (Wilfried) und wo eine lebendigere Szene existierte (Pascal, Zeitzeuge der 1990er Jahre). Diese Position Aachens im Schatten der nahe gelegenen Metropole Köln verhinderte jedoch die Ausbreitung der Klappen-Kultur in der kleineren Stadt nicht. Trotz der Konkurrenz mit der Großstadt ist ein verteiltes Netz an Klappen in der Aachener Innenstadt zu erkennen, das sich über die Jahre entwickelt hat (siehe Abbildung 1).

Eine Analyse der Lage dieser Räume zeigt, dass fast alle innerhalb der alten Stadtmauer oder an Hauptverkehrsstraßen liegen; nur wenige sind etwas weiter entfernt, etwa an der A4 oder an der A44 außerhalb der Stadt (wo man am meisten Anonymität finden kann). Diese umfassenden Räumlichkeiten waren zwar zeitlich begrenzt (für die Nacht bestimmt), wurden aber nicht verheimlicht. Sie waren je nach Bedarf erreichbar für Menschen, die den entsprechenden Ort kannten – entweder durch Kontakte oder über schwule Stadtführer. Dieses Netz an Klappen bot die Möglichkeit, in derselben Nacht an unterschiedlichen Orten anonymen oder geplanten Geschlechtsverkehr zu haben. Einige Zeitzeugen reden von „Wanderungen“ durch die persönlich bekannten Klappen.

Ehemalige Nutzer von Klappen erklären, dass diese Interaktionen trotz ihrer Beliebtheit durch den Ausbruch von HIV/AIDS teilweise unterbrochen wurden. Im Laufe der Jahre entstanden ein „großer Schock“ und „Terror“, so Karl (Zeitzeuge der 1980er Jahre) dadurch, dass damals, vor der Erfindung geeigneter Medikamente, so viele HIV-Infizierte starben. Dies bewirkte eine Solidarität innerhalb der queeren Szene und führte zur Konstitution vieler weiterer queerer Räume (Marnelakis 2014), auch in Aachen. Zu diesen Räumen zählt auch die 1992 eröffnete Arztpraxis von Dr. Heribert Knechten, die als erste in der Stadt (und als eine der ersten bundesweit), Angebote, Aufklärung und Betreuung explizit für HIV-Infizierte schaffte.

Das Ende der 1990er Jahre war ein Höhepunkt der Schaffung queerer Räume unterschiedlichster Art. Durch mehrere Bars und regelmäßige Partys, zahlreiche Vereine und Initiativen sowie Hotspots (wie beispielsweise der Promenadenstraße in der Innenstadt) wurde die queere Szene der Stadt spürbar. Die Jahrtausendwende brachte viel Aufklärung, Sichtbarkeit und Kreativität in die Szene sowie eine erweiterte Diversifizierung der Klappen-Landschaft. Die Cruising-Kultur entwickelte sich damals aufgrund des Verhaltens der Nutzer und dem dadurch entstandenen Neuangebot an Räumlichkeiten weiter. Diese Entwicklungen brachten eine immer besser koordinierte Organisation und Institutionalisierung dieser Praktiken mit sich, die bereits auf neue Prozesse im digitalen Zeitalter hindeuteten.

4.2000er und 2010er Jahre: Digitalisierung der Klappen-Kultur(?)

In der Klappen- und Cruising-Landschaft der 2010er Jahre lässt sich eine Tendenz erkennen: Je jünger die Interviewpartner, desto weniger Informationen und Erfahrungen über Klappen konnten sie teilen: Die würden „immer weniger benutzt“ oder sie selbst hätten „nur davon gehört“ (Kim, Zeitzeugin der 2010er Jahre). Die wenigen Dokumentationen und Kartierungen dieser Räume wurden durch Eindrücke aus der Schwulen-Community ergänzt. Diese und weisen auf ein langsames, aber stetiges Verschwinden der Klappen hin: „Ähnlich wie bei anderen Städten geht die Klappenkultur in Aachen verloren“, so Michael (Zeitzeuge der 1990er Jahre). Heute gäbe es übrig gebliebene „öffentliche Cruising-Orte an Autobahn-Raststätten“ (Michael), aber allgemein glaubten viele „nicht, dass da noch viel passiert“, so David (Zeitzeuge der 2000er Jahre) und fragten sich, ob Klappen heute „überhaupt noch relevant“ seien, wie Omar (Zeitzeuge der 2010er Jahre). Wie entsteht also sexuelle (anonyme) Intimität heute? Werden die Klappen durch geplante private Treffen ersetzt?

Seit der Verbreitung des Internets sind LSBTIQ+-Communitys bei der Nutzung digitaler Technologien zu Vorreiterinnen geworden bei der Schaffung alternativer Arten von Kontakten, die zu einem umfassenderen Verständnis (virtueller) Intimität führen. Dies unterstreicht die kreative und widerstandsfähige Art, in der queere Menschen soziale Welten aufbauen: Sie nutzen häufig Räume und Technologien auf eine Weise, für die diese ursprünglich nicht vorgesehen waren (McGlotten 2014). Internet-Plattformen wie soziale Netzwerke sehen sie als Quelle für die Interessen sexueller Minderheiten an, die unendlich viele Fetische und Fixierungen enthalten (DiMarco 2003). Queere Nutzer_innen können digitale Technologien zur Erkundung ihrer sexuellen Identitäten und Fantasien nutzen (Ashford 2006). Dies zeigen globale, aber auch deutsche schwule Dating-Apps wie Grindr oder Planet Romeo, die auch in Aachen beliebt sind. Sie bieten eine Plattform, um Informationen über bestimmte Orte zu erfragen (zum Beispiel BDSM-Gruppen innerhalb privater Gruppen in Dating-Apps) oder um private Kontakte zu knüpfen. In Aachen – wie auch in anderen Städten, Ländern oder Kontinenten – werden sie so zu wichtigen Instrumenten für den Austausch von Details über erwünschte Rituale und Verhaltensregeln (Salehin/Vitis 2020).

Tziallas (2015) und Roth (2014) beobachten den Wandel der globalen Dating-Szene für MSM seit der Verbreitung von Dating-Apps mit ihren Technologien der Geo-Lokalisierung. Diese schaffen ein gamifiziertes erotisches Terrain mit einem ständigen Wechselspiel zwischen virtueller und physischer Erfahrung. Darüber hinaus stellt Miles (2017) eine Reihe hybrider Erfahrungen von Sexualität in den Vordergrund, die über die LSBTIQ+-Subjekte hinausgehen. Die neuen Arten von cruising oder hooking-up, organisiert über Apps, beschreiben mehrere Öcher_innen als praktisch und effektiv, so auch von David (Zeitzeuge der 2000er Jahre). Mit Fragen wie „Worauf stehst Du so?“ könne man online rasch ins explizite Gespräch kommen und mögliche Treffen planen.

Bei Stadtrundgängen, die seit 2020 im Rahmen von „QUEERingAACHEN“ angeboten werden, wurde von der Entstehung eines glory holes berichtet, das Studenten nach Absprache in sozialen Medien in einem Hochschulgebäude umgesetzt haben (in einer Toilette nahe des Audimax; das Loch ist hinter der Toilettenpapierrolle versteckt, siehe Abbildung 1). Dies zeigt neue Formen der Interaktion zwischen virtueller und physischer Kontaktaufnahme sowie Praktiken, bei denen der physische Raum seine zentrale Relevanz weiterhin behält (Hubbard 2018).

Trotz einer Vereinfachung der Prozesse durch den Online-Austausch sehen sich Nutzer_innen und Forscher_innen bei der Verlegung des cruising auf eine virtuelle Ebene mit Fragen und Schwierigkeiten konfrontiert:

Auf diese Weise werden Dating-Apps häufig verantwortlich gemacht für das rückläufige LSBTIQ+-Leben in der Stadt (vgl. Renninger 2019), ohne dass andere urbane Veränderungen in der Stadt berücksichtigt werden. Während die Empirie den Niedergang queerer Räume bestätigt, bleibt die Frage nach anderen städtischen Faktoren, die es zu erforschen gilt (z. B. Gentrifizierung, Verdrängung, Leerstand), offen. Es stellt sich auch die Frage, ob die digitalen Medien das LSBTIQ+-Leben demontieren (wie die älteren interviewten Zeitzeugen meinen) oder einen alternativen Raum für Sozialisierung und Gemeinschaftsbildung bieten (wie Renninger 2019 argumentiert). Weitere Aspekte, die den Betrieb queerer Lokale immer schwieriger machen und so zum langsamen Verschwinden einer queeren Szene beitragen, gilt es in diesem Kontext tiefer gehend zu recherchieren.

Tatsache ist, dass in den letzten Jahren viele queere Räume in Aachen geschlossen wurden. Von fast 40 Räumen 2004 waren 2019 nur noch knapp über die Hälfte übrig. Von diesen wurden seitdem wiederum knapp zehn entweder geschlossen oder wegen Covid-19 vorübergehend in digitale Räume verlagert. Seit 2011 gibt es in Aachen gar keine (explizit) queeren Bars mehr. Die Szene besteht hauptsächlich aus institutionalisierten Räumen und geplanten Aktivitäten wie Vereinen und Jugendtreffs. Auch diese nutzen Online-Plattformen und soziale Netzwerke sehr aktiv.

Virtuelle Räume koexistieren also mit physischen Räumen und Prak­tiken und ersetzen diese teilweise, wobei soziale Netzwerke eine weitere Kontaktebene bieten: „Queerer Lifestyle findet heute auf Social Media und in Apps statt“, so Tim (Zeitzeuge der 2000er Jahre), aber sie „sollten nicht die einzigen queeren Räume in Aachen werden“, wie Kim (Zeitzeugin der 2010er Jahre) ergänzt. Viele queere junge Erwachsene in Aachen bevorzugen digitale Plattformen, um hook-ups zu organisieren. Dies wird auch in der aktuellen Literatur thematisiert (Koch/Miles 2021). Sie favorisieren virtuelle Räume gegenüber dem direkten persönlichen Kontakt an den Klappen-Eingängen wie in den 1970er Jahren.

5.Fazit, Reflexion und Ausblick

Die Archivrecherchen und Interviews heben die queeren Räume und die Wider­standsfähigkeit queerer Aktivitäten in Aachen hervor. Sie werfen zugleich die Frage auf, wie sich diese Veränderungen intimer Raum­pro­duktionen zu globalen und lokalen Trends verhalten. Die Politik der Akzeptanz bietet LGBTQ+-Personen einerseits die Möglichkeit, das Leben jenseits von gayborhoods zu erkunden (Ghaziani 2014). Gleichzeitig gibt es eine Tendenz zur Normalisierung queerer Räume, wie Browne und Bakshi (2013) sie am Beispiel homonormativer Räume in Brighton beobachten, während unterschiedliche Subkulturen auf der Suche nach eigenen Ausdrucksräumen sind. Sogar in Brighton, – der „schwulen Hauptstadt“ des Vereinigten Königreichs – lässt sich Homonormativität in Form von Ausgrenzung „anderer“ finden, die nicht erwarteten Verhaltensweisen entsprechen (Duggan 2002: 179). Es ist daher nicht überraschend, dass Aachen und andere kleinere Städte auch digitale Räume brauchen, um die Existenz nicht-normativer sexueller Aktivitäten und Subkulturen zu ermöglichen. Der Verlust von Ausdrucksräumen – in diesem Fall als Ausdruck sexuellen Begehrens – wird von den Zeitzeugen angesprochen. Er steht in Verbindung mit der Illusion eines allgemeinen Mangels an Aktivität in der Stadt, da nicht-normierte queere Ereignisse, so scheint es, hauptsächlich digital kommuniziert und nicht physisch registriert werden.

Die Schließung öffentlicher Toiletten, der Szenemangel in der Stadt, das Verschwinden von Cruising-Spuren, die Nähe zu Metropolen wie Köln, ein Wandel der Prioritäten im Laufe der letzten Jahrzehnte, schnellere und einfachere Praktiken im Virtuellen – all das sind Gründe, weshalb die Präsenz von Klappen in Aachen immer geringer ist. Diese werden „nicht von alleine kreiert“ und „wenn irgendwo was fehlt, dann sollte man es doch selber machen“, sagen manche queere Öcher wie beispielsweise Wilfried (Zeitzeuge der 1980er Jahre). Dieses Prinzip prägt die Schaffung queerer Räume in Aachen, besonders der von Klappen: „Schwule machen Räume für Schwule“, so Detlef (Zeitzeuge der 1970er Jahre), die auf der Suche nach einem intimen Interaktionsritual sind. Es sind „Räume, die sich die Schwulen selbst angeeignet haben“ (Detlef), trotz Risiken und einem potenziellen backlash.

Diese innovativen und resilienten Aspekte sollten in der Forschung über Klappen nichtsdestotrotz unter zwei Aspekten kritisch analysiert werden: Im Rahmen von „QUEERingAACHEN“ wurden in Aachen in den vergangenen 50 Jahren insgesamt 13 Klappen und Cruising-Areale identifiziert – wobei vermutet werden kann, dass weitere dieser informell entstandenen Räume niemals dokumentiert wurden. Klappen- und Cruising-Praktiken – von klassischen Toiletten über diversifizierte urbane Kontexte bis hin zu virtuellen – werden ständig neu erfunden.

Neben diesem disruptiven Charakter sollte angemerkt werden, dass Klappen-Nutzer trotz der Bezeichnung MSM – die auf ein Spektrum sexueller Orientierungen hinweist – eine gewisse Homonormativität verkörpern und reproduzieren. Erkannt wurde im Laufe der Interviews, dass Klappen nur für bestimmte Nutzer zugänglich sind: Neben physischen Hindernissen in Topografie und Bebauung (die Räume sind nicht barrierefrei und somit nur für able-bodied Menschen gedacht) war im Gespräch mit Zeitzeugen nur von cis-männlichen Nutzern die Rede. Hier lässt sich eine Normativität erkennen, die sich auch bei weiteren queeren Raumproduktionen in Form von Privilegien für homonormative cis-männliche Identitäten zeigt: Von 90 kartierten Räumen aus den vergangenen 50 Jahren wurde nur einer explizit für Trans*-Personen geschaffen. Von 15 queeren Bars wurde nur eine explizit für Lesben bzw. queere Frauen eröffnet. Eine ähnliche Homonormativität wird auch in digitalen Treffpunkten wie schwulen Dating-Apps abgebildet, bei denen diskriminierende Botschaften wie „no Blacks, no fems, no Asians“ zu finden sind (Genenz 2019). Dies zeigt, dass soziale Ungleichheiten auch in queeren Zusammenhängen systematisch reproduziert werden können, da sie in einer Gesellschaft entstehen, die von sozialen Unterdrückungen geprägt ist (vgl. Löw 2001: 64, 93; Knopp 1992). Deshalb ist es relevant, das urbane Phänomen der Klappen weiter zu untersuchen: Es handelt sich um öffentliche Räume, die öffentlich (und kostenlos) zugänglich sind und an denen man potenziell jedem begegnen könnte (Andersson 2012).

Cruising-Praktiken beweisen ein queeres Verständnis von Raum als einem Spektrum zwischen Physischem und Virtuellem (Sánchez-Molero 2021a, 2021b). Heutzutage navigieren queere Menschen auf der Suche nach (homo-)sexueller Lust zwischen diesen beiden Dimensionen – sogar oder gerade in Städten, die keine Metropolen sind und die keine umfassende „queere Infrastruktur“ (Campkin 2020) besitzen. Dort werden lokale oder virtuelle Handlungen oftmals virtuell organisiert, auch wenn Corona-Lockdowns und Quarantänen Anfang der 2020er Jahre soziale Distanz vorgeschrieben haben. Somit entstehen in der gegenwärtigen und zukünftigen Auseinandersetzung mit Klappen relevante Fragestellungen. Deutlich wird dabei: Das Virtuelle wird in seiner Potenzialität hinsichtlich cruising immer weiter ausgebaut. Diese interdimensionalen Experimente werden für queere Lust und Intimität voraussichtlich eine immer größere Rolle spielen. Virtuelle Räume und Prozesse werden dabei immer mehr bevorzugt werden (Koch/Miles 2021), doch die Relevanz physischer Räume wird unbestritten bleiben (Hubbard 2018).

Anhang

Autor_innen

Pepe Sánchez-Molero (they/he/er) beschäftigt sich mit queerer Stadtforschung, Stadtentwicklung, akademischer Lehre, kuratorischer Arbeit, Raumgestaltung und Informationsdesign.

pepesanmole@gmail.com

Phevos Kallitsis (he/him/his) ist Dozent für Architektur, seine Forschung befasst sich mit kulturellen Zugängen zum urbanen Raum und den Schnittstellen zu Geschlecht und Sexualität.

phevos.kallitsis@port.ac.uk

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