Intimate capital illegalisierter Frauen in Deutschland

Rezension zu Flaminia Bartolini (2021): Intimacy in illegality. Experiences, struggles and negotiations of migrant women. Bielefeld: transcript.

Olaf Tietje

Abb. 1 Titel des Buches (Quelle: transcript Verlag)

In ihrem 223 Seiten umfassenden Buch Intimacy in illegality. Experiences, struggles and negotiations of migrant women stellt Flaminia Bartolini die Biografien von Frauen in den Mittelpunkt, die illegalisiert in Deutschland leben oder zumindest eine Zeitlang lebten. Im Zentrum der Studie stehen 13 biografische Interviews, deren Analyse die Autorin durch weitere ethnographische Daten, die sie über einen Zeitraum von fünf Jahren sammelte, erweitert. Zentrales Interesse von Flaminia Bartolini ist dabei, das doing intimacy im Kontext von Illegalisierung zu rekonstruieren. Ihre Analysen verortet sie dazu im Spannungsfeld von staatlichen Autoritäten und an diese geknüpfte normative Ideale (z. B. die einzig wahre Liebe heiraten) einerseits und der alltäglich von den interviewten Frauen gelebten Realität (z. B. Partner*innenschaft auch als ein Zugang zu Aufent­halts­genehmigungen oder Staats­bür­ger*in­nenschaft) andererseits. Hier wirft die Autorin die Frage auf, was die Verschränkung von Illegali­tät und Intimität für Migrant*innen ohne einen Aufent­halts­titel bedeutet. Intimbeziehungen kön­nen für Migrant*innen ein „ticket to legalization“ (Bartolini 2021: 13) sein, aber genau auch auf­grund dieses Potenzials Abhängigkeiten und Vulnerabi­lität verstärken.

Vulnerabilität nicht ausschließlich als eine Men­schen ohn­mächtig machende Kategorie zu denken, so haben es nicht nur Judith Butler, Zeynep Gambetti und Leticia Sabsay ausgeführt (2016), lässt die aus ihr resultierenden Handlungsnotwendigkeiten in den Blick rücken. Menschen in vulnerablen Lebensbedingungen handeln selbstverständlich auch in diesen. Sie akzeptieren ihre Lebensbedingungen nicht unter allen Umständen und handeln zu ihrem eigenen Vorteil: Die von Flaminia Bartolini interviewten Frauen gestalten ihr Leben in und trotz, beziehungsweise auch wegen, der illegalisierten Bedingungen, in denen sie leben. Illegalisierungen stellen allerdings besonders einschränkende Rahmenbedingungen für eigene Wünsche und Lebensvorstellungen dar. Intimität als ein vordergründig individuelles Moment erscheint dabei auch im Kontext von Illegalisierung, zumindest oberflächlich betrachtet, als der eigene, der besonders vertraute und in gewisser Weise auch geschützte Bereich. Die staatlichen Interventionen, wenn eine Person ohne Aufenthaltstitel eine Person mit deutscher Staatsbürger*innenschaft heiraten möchte, so verdeutlicht die Autorin, greifen direkt in diesen Nahbereich ein, machen ihn zumindest teilweise öffentlich und deinstallieren auf diese Weise das schützende Moment. Im Kontext von Illegalisierung zu forschen, ist mit besonderer Verantwortung verbunden (Karakayali 2010), die letztlich gerade in Zusammenhang mit Biografien erneut auf eine besondere Intimität verweist: Forscher*innen handeln in Forschungsfeldern sowohl als Wissenschaftler*innen als auch als Freund*innen, Ansprechpersonen, Berater*innen oder Zuschauer*innen (und vieles mehr).

In ihrem beeindruckend nah die Protagonistinnen porträtierenden und ausgesprochen wertschätzend geschriebenen Buch geht Flaminia Bartolini so den Spuren von Macht und Herrschaft in Intimverhältnissen nach. Mit ihrer Forschung will sie verstehen, wie soziale Ungleichheit durch und in Intimverhältnissen reproduziert wird und welche Bedeutung das doing intimacy im Kontext von Illegalisierung einnimmt. Die Autorin nimmt die Leser*innen vor dem Hintergrund ihrer Feldforschungen mit in den Alltag ihrer Interviewpartnerinnen. Das Buch beginnt damit, dass Flaminia Bartolini eine schwangere Interviewpartnerin und deren Beziehungsperson auf die Ausländerbehörde begleitet. In der Feldnotiz macht sie eindrücklich sichtbar, wo staatliche Intervention in den intimen Nahbereich vordringt. In wenigen Worten werden so schnell die Hindernisse deutlich, mit denen illegalisiert in Deutschland lebende Menschen zu rechnen haben, aber auch, wie sie Intimbeziehungen zumindest potenziell als eine Ressource nutzen können. Aus dieser Feldnotiz wechselt die Autorin nahtlos in die rechtliche Rahmung von Intimität. Auf den nächsten hundert Seiten widmet sich Flaminia Bartolini zunächst dem theoretischen Hintergrund ihrer Arbeit. In den Mittelpunkt stellt sie dabei regimetheoretische Ansätze aus der kritischen Migrationsforschung verbunden mit einem intersektional ausgerichteten Theorieverständnis. Auf diese Weise gelingt ihr eine machtsensible Rahmung der Forschung, in welcher die Perspektiven der von ihr in die Studie einbezogenen Akteur*innen zentral sind. Auf diese Perspektiven aufbauend, blickt sie systematisch auf die rechtlichen und staatlichen Beschränkungen beziehungsweise Interventionen in Intimverhältnisse. Von hier aus stellt sie Intimität als ihre Analyseperspektive in den Vordergrund und diskutiert methodologische und forschungsethische Bezüge.

Den Hauptteil von Intimacy in illegality bilden die anschließenden Kapitel, in denen die Autorin die Geschichten ihrer Interviewpartnerinnen in den Fokus rückt und mit ihren theoretischen Vorüberlegungen treffend verbindet. Die biografischen Erzählungen ernst nehmend, lässt sie den Interviewten viel Raum, ihre Geschichten auszubreiten und auf diese Weise ihre „soziale Handlungsfähigkeit“ (Mignolo 2005: 403) zu präsentieren. So zeichnen die interviewten Frauen in ihren Geschichten ambivalente Bilder, die zum einen ihre andauernde Sorge vor der Abschiebung verdeutlichen, zum anderen aber zugleich sichtbar machen, wie sie mit diesen Situationen umgehen. Die Autorin rekonstruiert auf diese Weise die gesamte Vielfalt ihrer Empirie: Moralische Konflikte und scheiternde Strategien sowie starke Enttäuschungen werden hier ebenso sichtbar wie kleine Erfolge. Gerade in Bezug auf die Legalisierungsstrategie zu heiraten wird deutlich, dass ein pragmatischer Umgang mit Gesetzen, Regeln und Moralvorstellungen in vielen Fällen entscheidend dafür ist, sich selbst zu schützen: „She did not simply accept the rules, instead adapting them to her needs, and even resorting to ‚illegal‘, ‚immoral‘, or at least unconventional, means, if she felt that the situation demanded them.“ (Bartolini 2021: 123)

Dass ein lebenswertes Leben von funktionierenden Infrastrukturen abhängig sei, so Judith Butler, liege auf der Hand. Wenn Infrastrukturen versagen oder versagt werden, werden Menschen vulnerabel (Butler 2016: 12): Gesund­heits­ver­sorgung, staatliche Unterstützung, Bildung, eine Arbeits­erlaub­nis et cetera sind an unterschiedliche Aspekte von Aufent­halts­rege­lungen geknüpft. Und genau dies macht es für die interviewten Frauen schwierig, ein würdevolles Leben zu leben. Die staatliche Infrastruk­tur steht ihnen in vielerlei Hinsicht aufgrund der Illegalisierung nur eingeschränkt oder gar nicht zur Verfügung. Nicht-staatliche Unterstützungsstrukturen vollbringen demgegenüber beeindruckende Leistungen: Sie beraten Menschen im Umgang mit staatlichen Behörden und bringen sie aber vor allem auch mit anderen legalisiert in Deutschland lebenden Menschen in Kontakt. Nichtsdestotrotz geben die interviewten Frauen auch hier Einblick in sehr ambivalente Perspektiven. Deutlich wird, dass individuelle Situationen und (un)glückliche Zufälle ausschlaggebend dafür sind, wie die jeweiligen Leben weiter verlaufen und ob beziehungsweise in welcher Zeit eine Legalisierung möglich wird. Wie es in selbstorganisierten Unterstützungsstrukturen immer wieder der Fall ist, bieten informelle Hierarchien dabei auch Potenzial für Frust. In einem vermeintlich solidarischen Kontext als Bittstellerin zu erscheinen, ist dabei etwa ein Aspekt, der die Interviewten frustriert: „I always have to wait and beg for every small thing“ (Bartolini 2021: 147), wird der Autorin gegenüber diese Situation von einer der interviewten Frauen zusammengefasst. Familie beziehungsweise Kinder spielen im Zusammenhang mit Abhängigkeiten eine weitere einschneidende Rolle. Kinder können Teil eines Legalisierungsprozesses sein, aber auch aufgrund der Lebenssituation ihrer Eltern in die Illegalisierung hineingeboren werden. Einige der Interviewpartnerinnen können dies nicht vertreten und stellen auch infrage, ob einem Kind ein Leben in der Illegalisierung zumutbar sein kann – mit unterschiedlichen anschließenden Lösungsstrategien.

Die intersektionale Lesart, in welcher Flaminia Bartolini ihre Analyse zunächst empirisch aufbaut, findet schließlich in den folgenden, stärker theoretisierenden Ausführungen ein besonderes Echo. Den Fokus auf Geschlecht, Alter, Sexualität, Nationalität, Klasse und schließlich race ausrichtend, stellt die Autorin die infrastrukturellen Bedingungen von Intim­ver­hält­nis­sen unter illegalisierten Lebensbedingungen in ihrer Komplexi­tät vor. Dem roten Faden der Geschichten der Interviewpartnerinnen folgend, hebt sie besonders das „intimate capital“ (Bartolini 2021: 187) hervor, welches die interviewten Frauen herstellen, und meint damit die „individual capacity to establish new intimate relationships and to maintain and manage existing ones“ (ebd.). Eine der besonderen Stärken des Buches liegt so nicht nur in der eindrücklich sichtbar werdenden Nähe der Autorin zu den Protagonistinnen der Geschichten, sondern eben auch in ihrer analytischen Distanz. Die zwar gelegentlich etwas redundant erscheinenden Rekonstruktionen aus den Interviews zeichnen sich immer durch eine große Lebendigkeit aus, welche die Leser*innen fesselt und ihnen auf diese Weise einen leichten Einstieg in die Geschichten ermöglicht. Die widerständigen Potenziale, welche in vulnerablen Situationen be- oder entstehen, glorifiziert Flaminia Bartolini keineswegs: Sie schreibt keine bloße Erfolgsgeschichte, aber auch kein viktimisierendes Portfolio mehrfach marginalisierter Menschen. Und „all in all“, so stellt sie fest, „it can be affirmed that intimate capital is a precious resource for migrants living in illegality, and allows them to establish, manage and maintain intimate relationships“ (Bartolini 2021: 190).

Am Ende des Buches nimmt die Autorin die Situation der Aus­län­der­be­hörde vom Beginn erneut auf. Sie schließt mit einer Feldnotiz von einem weiteren Besuch auf der Behörde, der knapp ein Jahr später stattfand und einen zentralen Erfolg einer ihrer Interviewpartnerinnen darstellt: eine Aufenthaltsgenehmigung. Über den Verlauf der Forschung gelang es einigen der interviewten Frauen, ihren Status zu legalisieren, anderen nicht. Die vielen Widersprüchlichkeiten in den rechtlichen Regelungen verdeutlichen, dass die Familiengesetze und das, was Donna Haraway (2016) unter making kin thematisiert hat, für die von Flaminia Bartolini diskutierten Aspekte des besonders wichtig sind. Alternative Formen von Partner*innenschaft, Verantwortung und Relationalität müssen nicht mit biologischer Verwandtschaft oder romantischer Liebe verbunden sein. Deutlich wird, dass Menschen füreinander Verantwortung übernehmen können, ohne romantische Liebe in den Mittelpunkt zu stellen. Und auch diese romantische Liebe sowie Reproduktionsfähigkeiten können eine Ressource sein, die zumindest in einigen Fällen erfolgreich hergestellt und eingesetzt werden kann – etwa um die Ausländerbehörde schließlich mit einer Aufenthaltsgenehmigung zu verlassen.

Anhang

Autor_innen

Olaf Tietje ist Soziologe. Er forscht zu Arbeit, Geschlecht, Migrationen und qualitativen Methoden, aktuell mit einem Schwerpunkt auf Praktiken sozialer Teilhabe.

olaf.tietje@lmu.de

Literatur

Bartolini, Flaminia (2021): Intimacy in illegality. Experiences, struggles and negotiations of migrant women. Bielefeld: transcript.

Butler, Judith (2016): Rethinking vulnerability and resistance. In: Judith Butler / Zeynep Gambetti / Leticia Sabsay (Hg.), Vulnerability in resistance. Durham: Duke University Press, 12-27.

Butler, Judith / Gambetti, Zeynep / Sabsay, Leticia (Hg.) (2016): Vulnerability in resistance. Durham: Duke University Press.

Haraway, Donna J. (2016): Staying with the trouble. Making kin in the Chthulucene. Durham/London: Duke University Press.

Karakayali, Serhat (2010): Forschung über illegale Migration. Methodologische und theoretische Überlegungen. In: Sabine Hess / Bernd Kasparek (Hg.), Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Berlin: Assoziation A, 265-279.

Mignolo, Walter (2005): On subalterns and other agencies. In: Postcolonial Studies: Culture, Politics, Economy 8/4, 381-407.

sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung

2022, 10(2/3), -261

doi.org/10.36900/
suburban.v10i2/3.808

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0