Bonding oder „Was hält die Stadt zusammen?“

Kommentar zu Jan Hutta und Nina Schuster „Infrastrukturen städtischer Intimität“

Laura Kemmer

Was hält die Stadt zusammen? Für Jan Hutta und Nina Schuster sind es gerade die „intimen Verbindungsweisen“ einer Stadtgesellschaft – verstanden als Gemisch aus Affekten, Wünschen und Begehren –, die als zentraler Dreh- und Angelpunkt für die (Re-)Produktion von urbanen Räumen und Kollektiven dienen. Der Debattenaufschlag schreibt sich damit ein in eine Reihe von neueren Beiträgen in den (englischsprachigen) Urban Studies, die in der Tradition von feministischer Affekttheorie und Neuen Materialismen die Bedeutung von Intimität für die Entstehung und den Erhalt kollektiven urbanen Lebens in den Blick nehmen (Alfaro 2021; Knox 2017; Schwenkel 2018; Walsh 2018). Intimität wird hier konkret als Qualität von Verbindungen (bonds) diskutiert (Berlant 2011: 171). Was die Stadt zusammenhält, sind dann nicht nur Differenzkategorien von class, race, gender, sondern auch die flüchtigen, affektiven Prozesse des Sich-Verbindens (bonding) von Menschen zu-einander und vermittelt durch konkrete, mit Versprechen, Wünschen oder Begehren behaftete „intime“ Objekte (ebd.; vgl. auch Färber 2021). Da scheint es zunächst ganz einleuchtend, intime Verbindungsweisen und infrastrukturelle Möglichkeitsbedingungen zusammenzudenken, so wie Hutta und Schuster es für ihr Gedankenspiel auch vorschlagen.

Mit „Infrastrukturen der Intimität“ grenzen sich Hutta und Schuster ab von einer (kritischen) Stadtforschung, welche soziale Bezüge von Nähe, Vertrautheit oder sogenannte „intime Enklaven“ als Bedrohung einer progressiven (urbanen) Öffentlichkeit behandelt (im Sinne von Sennetts Tyrannei der Intimität [1986]). Die ambivalenten Effekte intimer Bindungen auf (urbane) Gesellschaften oder politische Kollektive werden jedoch auch jenseits zwischen-menschlicher Beziehungen deutlich, wenn zum Beispiel das (affektive) Festhalten an und der Versuch größtmöglicher Nähe zu scheinbar (viel-)versprechenden Objekten zu einem Selbstzweck wird, der letztlich soziale Transformation „grausam“ verhindert (s. Lauren Berlants Cruel optimism [2011], vgl. Kemmer 2020). Oder wenn die Erfahrung „materieller Intimität“ im Sinne einer komplexen körperlichen oder auch ökonomischen Interdependenz mit eigentlich schädlichen Elementen die De-Mobilisierung und Ent-Politisierung urbaner Kollektive befördert (Farías 2015).

In meinem Beitrag möchte ich diesem scheinbaren Widerspruch oder zumindest dem Spannungsverhältnis von intimen Verbindungsweisen (bonding) einerseits und dem Auseinanderbrechen urbaner Kollektive andererseits nachgehen. Im ersten Schritt führe ich vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Nachdenkens über urbane „Spaces of exposure“ (Kemmer et al. 2022) aus, inwieweit die technisch-materiellen, räumlichen Bedingungen öffentlicher (Verkehrs-)Infrastrukturen neue Allianzen und kollektive Formen affektiver Kompliz*innenschaft im städtischen Alltag hervorbringen. In einem zweiten Schritt denke ich dann am Beispiel meiner Forschung in Rio de Janeiro darüber nach, ob und wie bestimmte Formen „materieller Intimität“ die Stadt zusammenhalten.

1.Exposure: von Vulnerabilität zu affektiver Kompliz*innenschaft

Ich stimme Hutta und Schuster absolut zu: Die vielfältigen gegenwärtigen infrastrukturellen Krisenmomente, Ausfälle, Zusammenbrüche – sei es im Gesundheitsbereich oder, mit Blick auf aktuelle Aufrüstungspolitiken auch hierzulande verstärkt erwartbar, in den Bereichen Bildung und Klimaschutz – rücken die technisch-materiellen Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens ganz zentral in den Blick. Für den urbanen Raum sind es gerade die in Reaktion auf marode Infrastrukturen entstehenden vielfältigen „intimen“ Praktiken von Pflege, Reparatur und Wartung, die eine Trennung von Reproduktionsarbeit und öffentlichem Raum in Stadtpolitik und -forschung ganz grundlegend infrage stellen (Schuster/Höhne 2017). So haben beispielsweise empirisch Stadtforschende im Anschluss an María Puig de la Bellacasas Konzept Matters of care (2017) den Blick auf alltägliche Fürsorgebeziehungen zwischen Stadtbewohner*innen und beispielsweise Straßenhunden, urbanen Gärten oder Wasserinfrastrukturen gelenkt. (Alam/Houston 2020; Buser/Boyer 2021; Pitt 2018) Solche „interspecies intimacies“ im Sinne Puig de la Bellacasas (2017: 88) werden untersuchbar über Praktiken und Handlungen des Sich-Verbindens in Care-Netzwerken, die zugleich „zutiefst intim“ und dennoch kollektiv sind (ebd.: 145).

Eine sich hieran anschließende Rezentrierung des Intimen, ganz wie sie auch Hutta und Schuster für eine kritische Stadtforschung fordern, fragt dann nicht nur, wie bestimmte intime Praktiken an bestimmte urbane Infrastrukturen geknüpft sind und damit Teil des öffentlichen Raumes werden. Es geht auch umgekehrt darum zu fragen, wie diese Infrastrukturen „das Intime“ beeinflussen, wie sie also zum Beispiel ganz konkrete Beziehungsweisen und Affekte fördern oder verhindern. Dass für eine kritische Stadt- und Raumforschung insbesondere die Zusammenhänge von Intimität und Infrastruktur untersucht werden müssen, heben Mobilitäts- und Transportforscher*innen schon seit Langem hervor. Die besonderen räumlich-materiellen Bedingungen öffentlicher Verkehrsinfrastrukturen bringen geteilte körperlich-sinnliche Erfahrungen wie Enge oder „Einkapselung“ hervor, welche wiederum Individuen zu einem „passenger body“ verschmelzen (Bissel 2010: 276) und hier sowohl sozial befähigend – Kontakt zu anderen Passagieren ermöglichend – als auch einschränkend, klaustrophobisch wirken können.

Täglich werden menschliche Körper weltweit in und um Busse und Bahnen sozial und räumlich extrem ungleich verteilten Risiken wie Gewalt, Diskriminierung, Stress, Unfällen oder Umweltverschmutzung ausgesetzt (Yazıcı 2013). Die Covid-19-Pandemie hat diese Diskussion um die ungleiche Verteilung von Risiken neu entfacht und gezeigt, wie die im ÖPNV einerseits qua Design erschwerten Bedingungen für social distancing und andererseits das Gefühl des Ausgesetzt-Seins gegenüber pathogenen Substanzen eine Hypersensitivität von Passagieren gegenüber ihrer Umgebung und dem Verhalten ihrer Mitfahrenden hervorgebracht hat (Finbom et al. 2021). Zugleich hat die Diskussion um den ÖPNV zu Pandemiezeiten aber auch die Aufmerksamkeit auf das Regieren von Intimität im öffentlichem Raum gelenkt (Giscard Assoumou 2021).

Mit genau dieser „Privatheit“ einer öffentlichen Transportinfrastruktur haben Wladimir Sgibnev, Tonio Weicker, Maxwell Woods und ich uns in einem gemeinsamen Artikel beschäftigt (Kemmer et al. 2022). Unsere Überlegungen waren geleitet von der Frage, was es bedeuten würde, wenn wir öffentliche Räume nicht nach ihrer Offenheit beurteilten oder nach der Frage, inwieweit diese Räume „Begegnungen unter Fremden“ ermöglichen, sondern auf Grundlage von Qualitäten wie Intimität und Verletzlichkeit. Aufbauend auf einer vertieften Lektüre der autobiografischen Crónicas des queeren chilenischen Dichters Pedro Lemebel (2006) haben wir argumentiert, dass exposure im Sinne des Ausgesetzt-Seins gegenüber Fremden nicht nur eine Folge bestimmter räumlich-materieller Bedingungen (Enge, Einkapselung) von ÖPNV ist.

In seinen Beschreibungen einer nächtlichen Busfahrt durch die Hafen­stadt Valparaíso macht der queere, aus einer armen Gegend von Santiago de Chile stammende Lemebel ganz deutlich, wie ein bewusstes Sich-Aussetzen – verstanden als Zur-Schau-Stellen von eigener Verletzlichkeit, aber auch von Begehren – als raumproduzierende Taktik eingesetzt wird. Wenn Lemebel hier mit anderen Fahrgästen intim wird, wenn Blicke Verlangen oder Ablehnung ausdrücken, wenn Körper sich im Gang aneinander reiben, dann ist das kein „Rückzug“ in intime Enklaven, sondern eben gerade ein Aufbrechen scheinbar starrer, in diesem Fall heteronormativer Raumordnungen (vgl. Hutta/Schuster 2022: 98).

Am Wendepunkt der Geschichte macht dann gerade die Intimität dieses mobilen öffentlichen Raumes neue Allianzen und eine affektive Kompliz*innenschaft über Klassen- und Geschlechtergrenzen hinweg möglich. Nach einem Überfall auf den Bus findet sich Lemebel neben seinem neuen Flirt, einem jungen Mann aus der oberen Mittelschicht, auf der Straße wieder. Als der junge Mann beschließt, seine gestohlene Rolex bei der Polizei zu melden, wendet sich Lemebel angeekelt von diesem „unerträglich bourgeoisen“ Mann ab (Lemebel 2006) – nicht ohne ihm vorher ein paar Münzen für die Weiterfahrt gegeben zu haben. Erst an diesem Punkt begreift der junge Mann, dass Lemebel als einziger Fahrgast nicht ausgeraubt wurde.

Aus dem Kontext der Geschichte wird deutlich, wie Infrastruktur bestimmte Formen von Intimität mit-produziert und welches kritische, transformative Potenzial diese Intimität haben kann. Gerade die doppelte Bewegung zwischen Sich-Aussetzen und Ausgesetzt-Sein während der Busfahrt hat Lemebel vor dem Überfall bewahrt. Lemebel beschreibt den Ekel und das Zurückschrecken der Diebe angesichts seiner offen zur Schau gestellten queerness, gleichzeitig aber auch ein (An)Erkennen der geteilten Armut im Moment des Überfalls. Aus dieser Perspektive lässt sich spekulieren, was passieren würde, wenn wir öffentliche Räume nicht als per se progressiv im Sinne von Konfliktaustrag und Aushandlung von Differenz verstehen würden, sondern durch die Brille von Verletzlichkeit und affektiver Kompliz*innenschaft.

Ausgehend von unserer Lektüre der Chronik einer Busfahrt im chilenischen Valparaíso, haben wir in „Spaces of exposure“ einen Vorschlag gemacht für die Anwendung von Alaimos Begriff „aufständischer Ver­letz­lichkeit“ („insurgent vulnerability“, Alaimo 2016: 5, Übers. d. A.) auf urbane Alltagssituationen. Wie Stacy Alaimo sehr überzeugend argumentiert, implizieren intime Praktiken immer dann auch eine „aufständische Verletzlichkeit“, wenn die Erkenntnis über die existenzielle Involviertheit des eigenen Körpers mit Anderen (Körpern, Pathogenen etc.) zum Aufbrechen von Macht- und Raumordnungen führt (ebd.). Wenn also nicht Anonymität und Abgrenzung das Grundverständnis von Stadt und Urbanität ausmachen, sondern von „porösen“ Körpern (Alaimo 2010; vgl. auch Butler 2011) ausgegangen wird, dann impliziert das auch andere, neue Allianzen und alltägliche Formen affektiver Kompliz*innenschaft, die sich gerade aus der Dringlichkeit, dem gefühlten Verlust körperlicher Grenzen ableiten.

Was ich damit provozieren will, ist eine leichte Verschiebung von Huttas und Schusters Argument: Wenn wir intime Praktiken des Sich-Aussetzens in den Blick nehmen, dann könnten wir nicht nur analysieren, wie bestimmte Infrastrukturen das Intime materiell bedingen, sondern auch fragen, wie bestimmte intime Praktiken bestimmte politische Kollektive und Räume mit-produzieren.

2.Loose bonds: wie „materielle Intimitäten“ die Stadt zusammenhalten

Menschliche „intime“ Praktiken urbaner Reproduktionsarbeit sind häufig auch infrastrukturelle Praktiken. Das zeigt sich im Kontext der aktuellen Pandemie im Aufrechterhalten von städtischen Gesundheits- und Fürsorge-Infrastrukturen durch un-/bezahlte Care-Arbeiter*innen (Bahn/Cohen/van der Meulen Rodgers 2020; Dobrusskin/Helbrecht 2021) genauso wie in AbdouMaliq Simones vielzitierter Beobachtung aus dem Kontext afrikanischer Städte, dass „Menschen zu Infrastrukturen“ werden. Gerade dann, wenn staatliche oder ökonomische Kräfte sich zurückziehen und (innen)städtische Räume zwischen Verfall und Verlassenheit, Reparatur und Regenerierung verharren (Simone 2004: 411).

Sowohl feministische Arbeiten zu städtischer Care- und Repro­duk­tions­arbeit als auch Beiträge zum infrastructural turn in den Urban Studies sind wichtige Bezüge für ein Nachdenken über den analytischen Gehalt von Intimität für eine kritische Stadtforschung. Denn beide verstehen die von Hutta und Schuster beschriebenen „sub-urbanen“, „minoritären“, „widerständigen“ oder „flüchtigen Raumproduktionen“ (2022: 110) nicht als reine Bewältigungsstrategie oder Distanzierungsbewegung, sondern als aktive Intervention in existierende materielle und vermachtete Strukturen, als Ausdruck von politischen Forderungen und Imaginationen. Gerade weil sie auf intimen, ungeschützten, innigen Beziehungsweisen basieren, sind diese Praktiken also generativ für politische Handlungsmacht und Transformation der Stadt. Da sind dann beide Ansätze ganz bei einem „suburbanen“ (im Sinne der Zeitschrift) Verständnis von kritischer Forschung als eine, die „nicht einfach das Bestehende kritisiert, sondern das im-Entstehen-Begriffene positiv hervorhebt, respektive die konkreten Potentiale für gesellschaftliche Veränderung bestärkt und ‚affirmiert‘“ (sub\urban Redaktionskollektiv 2012: 3).

Doch welche Rückschlüsse auf „das, was die Stadt zusammenhält“ stecken in den von Hutta und Schuster beschriebenen intimen Infra­struk­turen? Eine erste Antwort auf diese Frage ergibt sich für mich aus AbdouMaliq Simones kürzlich veröffentlichtem Rückblick auf das oben zitierte „People as infrastructure“. Hier betont Simone, er habe seinen Infrastrukturbegriff in erster Linie mit dem Ziel der Dezentrierung menschlicher Handlungsmacht zugunsten der Anerkennung „sozialer Intimitäten“ zwischen Stadtbewohner*innen und materiellen Elementen des Urbanen entwickelt (Simone 2021: 1344). Von nachbarschaftlichen Unterstützungsnetzwerken hin zu spontanen Begegnungen im Alltag sind solche soziomateriellen Formen von Intimität laut Simone politisch im Sinne ihrer existenziellen oder auch „infrastrukturierenden“ Bedeutung für städtisches kollektives Leben (ebd.).

Um mit einem Beispiel aus meiner Forschung abzuschließen, die auch an einem Moment infrastrukturellen Zusammenbruchs ansetzt: Nach dem Ausfall der letzten Straßenbahnlinie Rio de Janeiros habe ich zwischen 2014 und 2019 die vielfältigen Proteste und Aktivitäten begleitet, die in diesem Zeitraum um die wandernde Großbaustelle im Zentrum der Stadt entstanden sind. Eines der Elemente, um die sich diese Aktionen konzentrierten, waren die vielen tiefen Löcher und Risse, die im Zuge der gleichzeitigen Erneuerung von Transport-, Elektrizitäts- und Abwasserinfrastrukturen entstanden sind und unter dem aufgebrochenen Straßenbelag ein Gemisch aus nackter Erde, Schutt, Kabel und Rohren freigelegt haben. Bewohner*innen haben diese Löcher im Laufe der Jahre konstant „bespielt“ und befüllt, darin gemeinsame Badetage und rhythmische Sportgymnastik inszeniert oder Gemüse gepflanzt (vgl. Abb. 1 und 2).

Abb. 1 „Baustellen-Gymnastik“ (Quelle: Casa Coletiva Screenshot https://www.youtube.com/watch?v=a2VJ2a0pUgw&t=115s)

Abb. 1„Baustellen-Gymnastik“ (Quelle: Casa Coletiva Screenshot https://www.youtube.com/watch?v=a2VJ2a0pUgw&t=115s)

Abb. 2 „Gleisbett-Garten“ (Quelle: eigenes Foto)

Abb. 2„Gleisbett-Garten“ (Quelle: eigenes Foto)

Im Zusammenspiel haben die alltäglichen, häufig intuitiven Aktivitäten um die Löcher eine besondere Form von Kollektivität hervorgebracht, zusammengehalten durch eine Mischung aus materieller Sensibilität und Nähe zwischen Bewohner*innen und nicht-menschlichen Elementen der Stadt. Die „soziale Intimität“ (im Sinne Simones), die sich in diesen Praktiken ausdrückt, basiert jedoch weniger auf einer Beziehung räumlicher Nähe denn auf der Nähe zu oder dem Überlappen von verschiedenen Temporalitäten, Rhythmen, Vergangenheiten und Zukünften (Simone 2014: 35). Im Rahmen der gemeinsamen Aktivitäten um die Straßenlöcher – bei der Pflege des Gleisbett-Gartens, anlässlich des sonntäglichen Badetags oder beim eventvollen Sportwettkampf – wurden Geschichten und praktische Erfahrungen ausgetauscht: über die Bedeutung saisonaler Rhythmen (z. B. Regenzeiten, Hitzeperioden), die Beschaffenheit des Bodens (fruchtbar, wasserleitend, kühlend); darüber, wie die Planung der historischen (Ab-)Wasserinfrastruktur (dokumentiert im Privatarchiv der lokalen Nachbarschaftsorganisation) die aktuellen Bauprojekte durchkreuzt (undichte Rohre); oder es wurde gemeinsam darüber spekuliert, wie all diese wiederkehrenden Rhythmen und materiellen Zeugen der Vergangenheit die aktuelle „Asphaltierungskampagne“ der Stadtregierung beeinflussten.

Ich verstehe die Praktiken und Geschichten um die Baulöcher als Aus­druck „materieller Intimität“ im Sinne von Ignacio Farías (2015). Während Farías den Begriff entwickelt, um die komplexen emotionalen, körperlichen und ökonomischen Interdependenzen zwischen Bewohner*innen, indus­triellen (Schad-)Stoffen und einer Zellulosefabrik im chilenischen Consti­tución nachzuspüren, geht es auch im Fall Rio de Janeiros um eine kollek­tive Intimitätserfahrung, die sich aus der langjährigen Verflechtung von Menschen mit den organisch-materiellen, aber auch immateriellen-affektiven Dimensionen von Stadtböden als Infrastrukturen von Stadtentwicklung/Bebauung und Klima-Anpassung speist.

Die Ambivalenzen solcher „materieller Intimität“ zeigen sich in Farías Fallstudie dann, wenn eine breite politische Mobilisierung an der zu engen Verflechtung oder Verstrickung zwischen Fabrik und Stadt, zwischen Zelluloseproduktion und Arbeitsplätzen, zwischen toxischen Emissionen und körperlichen Erfahrungen scheitert. Am Beispiel der Beziehungen zwischen Bewohner*innen und Stadtboden in Rio de Janeiro zeigt sich jedoch auch, dass materielle Intimität mit einer gewissen „Losigkeit“ von Verbindungen einhergehen kann. Boden als Infrastruktur ist dort dann nicht einfach eine „Falle“, die die Bewohner*innen über bestimmte materielle oder emotional-affektive Verstrickungen gefangen hält und immobilisiert, sondern gerade die Intimität zwischen Menschen und Materialität ermöglicht hier eine Distanzierungsbewegung. Indem sie den Straßenbelag wie eine „offene Wunde“ (Interview mit Túlio vom 6.3.2016, s. Kemmer/Simone 2021) behandeln, sorgen die Bewohner*innen des Zentrums durch die Straßenloch-Aktivitäten auch dafür, dass die fragile Balance zwischen „nacktem Boden“ und dem synonym mit staatlicher Kontrolle, „Zivilisierung“ und gewaltsamer Stadterneuerung verstandenen „Asphalt“ aufrechterhalten bleibt (Kemmer 2019).

Letztlich bringt die intime Erfahrung urbaner Infrastrukturen – sei es über Einkapselung, Enge und Vulnerabilität im Fall eines öffentlichen Busses, sei es über die materiell-semiotischen Verstrickungen und Interdependenzen zwischen Bewohner*innen, Boden und Stadt – neue Verbindungsweisen hervor, die es sowohl über das bewusste Sich-Aussetzen (exposure) als auch über das Spiel mit der Intensität von Verbindungen (loose bonds) ermöglichen, die fragile Balance kollektiven Lebens in fragmentierten urbanen Gesellschaften zusammenzuhalten. Jenseits des Dualismus „verbindungsstiftend“ (transformativ) versus „fragmentierend“ (regressiv) lenken Infrastrukturen städtischer Intimität den Blick auf das Dazwischen, auf flüchtige, momenthafte, aber dennoch subversive Allianzen, die aus geteilter Verletzlichkeit entstehen, oder auf die latenten Erfahrungen städtischen „Miteinanders“, die aber letztlich jenseits städtischer Kontroll- oder Aufwertungspolitiken überdauern. Für eine kritische Stadtforschung würde eine solche Bewegung hin zu „Intimität“ programmatisch vor allem bedeuten, die Interaktion und existenzielle Involviertheit des eigenen Körpers mit nicht-menschlichen (materiellen, organischen usw.) Anderen im städtischen Alltag viel stärker in den Blick zu nehmen.

sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung

2022, 10(2/2), -124

doi.org/10.36900/ suburban.v10i2/3.816

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0

Debatte zu:

Jan Hutta, Nina Schuster: „Infrastrukturen städtischer Intimität“

Kommentare von:

Benno Gammerl, Laura Kemmer, Jenny Künkel, Elisabeth Militz, Lucas Pohl, Sarah Schilliger

Replik von:

Jan Hutta, Nina Schuster

Anhang

Dieser Artikel wurde aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und durch den Publikationsfonds der Humboldt-Universität zu Berlin gefördert.

Autor_innen

Laura Kemmer ist Stadtforscherin. Sie arbeitet zu Infrastruktur, Affekt, und anderen Ver­bin­dungs­weisen zwischen Menschen und Materialität im urbanen Raum, aktuell insbeson­dere zu Stadtboden und Planetarischer Gesundheit.

laura.kemmer@geo.hu-berlin.de

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