sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(1/2), 69-96

doi.org/10.36900/suburban.v11i1/2.828

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0

Ersteinreichung: 29. Juli 2022

Veröffentlichung online: 15. Juni 2023

Komm, lass uns Freunde sein

Deregulierung, prekäre Arbeit und Männlichkeit in Georgien

Joseph Sparsbrod

Männertreffen gehören fest zum Stadtbild in Tbilisi, der Hauptstadt der Republik Georgien. Sie dominieren das soziale Leben der Nachbarschaften. Männer treffen sich fast täglich auf den Straßen ihres Viertels, um Neuigkeiten auszutauschen, Kontakte zu pflegen und ihren sozialen Status auszuhandeln. Hier entstehen starke soziale Netzwerke. Die Männertreffen auf den Straßen sind ein Raum, an dem Männlichkeitsideale verhandelt werden und sich Möglichkeiten für kurzzeitige informelle Beschäftigungsverhältnisse ergeben. Meistens heuern lokale Handwerker hier Gehilfen an, die gleichzeitig auch Freunde, Bekannte und Nachbarn sind. Anhand der Männertreffen in einem Altstadtviertel zeige ich, wie Männer ihren sozialen Status aushandeln und Arbeit beziehungsweise Gehilfen suchen. Die hier etablierten Netzwerke sorgen für Sicherheit auf einem unregulierten Arbeitsmarkt.

An English abstract can be found at the end of the document.

1. Einleitung

„Ein guter, seelenverwandter Freund ist jemand, der dir hilft, wenn du etwas brauchst, wenn du Probleme hast. Oder ich helfe ihm, wenn er sich körperlich oder moralisch nicht gut fühlt. Ohne Freunde ist das Leben nicht gut. Ich glaube, es ist notwendig, viele Freunde zu haben.“

(Artur, 60 Jahre, Interview vom 18.10.2016)

Während meiner Feldforschung (von März 2016 bis Februar 2017) in einer Straße in der Altstadt von Tbilisi, der Hauptstadt Georgiens, brüsteten sich meine männlichen Nachbarn häufig damit, wie gut sie miteinander befreundet seien und dass die Nachbarn wie eine große Familie zusammenleben würden. Insbesondere während der täglichen Treffen der Männer des Viertels auf der Straße wurde dieses Narrativ ausgiebig bemüht und mir, einem ausländischen Studenten, als Beispiel typisch georgischer Lebensart (und vor allem Männlichkeit[1]) unter die Nase gerieben.

Männergruppen gehören fest zum Stadtbild in Tbilisi und dominieren das tägliche soziale Leben der Nachbarschaften. Die regelmäßigen Treffen mit ihren Freunden waren gerade für die weniger gut betuchten Männer des Viertels eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Aktivität des Tages.

Im Folgenden zeige ich, warum diese Treffen auf der Straße, die in Georgien birzha (Börse, Austausch) heißen, für Männer so wichtig sind für die Organisation von Arbeit in der Stadt (vor allem auf dem Bau). Ich gehe hier insbesondere auf ihre Funktion als informelles Unterstützungsnetzwerk ein, das seinen exklusiv männlichen Mitgliedern ein gewisses Maß an – wenn nicht unbedingt ökonomischer, so doch sozialer – Sicherheit gewährt. Als Ort männlicher Sozialisation stehen sie im Zusammenhang mit der Aushandlung und Verinnerlichung von Männlichkeitsidealen. Letztere sind nicht nur für den Zugang zu Arbeit wichtig, sondern strukturieren auch das Arbeitsverhältnis zwischen (informellen) Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Die birzha gilt als Ort männlicher Sozialisation oder als „Schule der Straße“ und wurde als solche unter anderen von Jan Koehler (2000, 2003) Evgenia Zakharova (2010, 2017), Costanza Curro (2015) und Martin Frederiksen (2011, 2012, 2013) untersucht. Frederiksen identifiziert die birzha mit Bruderschaften, die jungen Männern Anerkennung verschaffen (2013: 60). Des Weiteren arbeitete er heraus, dass Männer, die freundschaftlich besonders eng verbunden sind, sich als dzmak‘atsi (Bruderfreund, wörtlich: Brudermann) verstünden. Er zeigte auch, dass Respekt und moralische Integrität mit dem Prädikat „guter Mann (k‘ai k‘atsi)“ verbunden sei (ebd.: 49, 57). „Richtiges“ Verhalten sowie sozialer Status der Männer des Viertels werden hier verhandelt. Zakharova führt die birzha auf Orte zurück, an denen sich Handwerker trafen und hofften, angeheuert zu werden (2017: 250). Die birzha vermittelt Idealvorstellungen von Nachbarschaft, Freundschaft und Gemeinschaftlichkeit. Zakharova weist darauf hin, dass „the sphere in which street principles functioned was not confined to the street as such: they could be appealed to in the most diverse social contexts and situations, reference to them being made in politicians’ public speeches, business negotiations, etc.“ (ebd.: 249 f.). Curro zufolge ist die birzha eine „street institution of sociability underpinned by specific rules, whose key points are honour, honesty, and manliness“ (2015: 499). Auch Zakharova beschreibt sie als „connected with the idea of masculine honour and reputation“ (2017: 251). Akteure, die sich als Männer verstehen (in Abgrenzung zu allem, was als weiblich gilt), reproduzieren hier gesellschaftlich weithin akzeptierte Muster geschlechtlicher Ordnung. Diese verlangt von Männern eine dominierende Rolle, welche sie aber ständig unter Beweis stellen müssen. Deren Aushandlung geschieht, wie von den oben genannten Autor_innen beschrieben, auf der birzha.

Außerdem sei die birzha eine Praxis der Raumaneignung, die im Widerspruch zu einer zunehmenden Kontrolle öffentlichen Raumes durch die Saakaschvili-Regierung nach der sogenannten Rosenrevolution gestanden hätte (Curro 2015: 500). Die birzha wurde häufig auch als Ort von Drogenhandel und -konsum wahrgenommen und in Verbindung mit Kriminalität und Widerstand gegen staatliche Institutionen gebracht (Koehler 2000; Frederiksen 2012, 2013; Zakharova 2017; Curro 2015). Vor allem während der Regierungszeit des United National Movement (UNM, 2004-2012) unter Mikheil Saakashvili und der damaligen Kampagnen gegen die organisierte Kriminalität standen die Männertreffen unter dem Verdacht, Jugendliche in die Welt der Kriminellen einzuführen (Zakharova 2017: 251). Während die birzha also vor allem im Hinblick auf Männlichkeitsvorstellungen, Kriminalität und Raumaneignung untersucht wurde, soll es in meinem Aufsatz vor allem um den Zusammenhang des auf der birzha vermittelten Verhaltenscodex mit (informellen) Arbeitsverhältnissen gehen.

Informelle Arbeitsverhältnisse auf dem Bau im postsowjetischen Raum, die innerhalb einer Männergruppe organisiert werden, untersuchten beispielsweise Rustamjon Urinboyev und Abel Polese (2016) auf Baustellen in Moskau. Dort seien Arbeitsbrigaden aus Zentralasien im Einsatz, die sich aus Männern des gleichen Dorfes zusammensetzten – angeheuert von einem ihrer Nachbarn. Diese „embeddedness of work and social relationships generates mutual dependence and a long-term reciprocity relationship where all parts are happy to continue“ (ebd.: 198). Im Fall der Arbeiter aus Zentralasien sei „[m]oney […] used as a reward for physical work but the relationship between the team leader and his workers goes beyond that, with the team leader acting paternally“ (ebd.: 204). So werde der Leiter einer Arbeitsbrigade auch als ein älterer Bruder wahrgenommen und die Praxis, Nachbarn anzuheuern, resultiere aus einem Solidaritätsgefühl und Verantwortungsbewusstsein füreinander – Arbeitnehmer und Arbeitgeber könnten aufeinander zählen (ebd.). In meinem Aufsatz untersuche ich eine ähnliche Konstellation: informelle Arbeit auf dem Bau, die von einem männlichen Netzwerk von Bekannten organisiert wird, das den Arbeitern ein gewisses Maß an Sicherheit bietet.

Meine Erhebungsmethoden waren vornehmlich teilnehmende Beobachtung und Interviews. Aufgrund meines Genders hatte ich kaum Zugang zu als weiblich angesehenen Räumen, hier vor allem das Haus. Im Gegensatz dazu ist die Straße ein Ort vor allem männlicher Sozialisation (Frederiksen 2011, 2013; Koehler 2000; Curro 2015; Zakharova 2010, 2017).

Im Laufe meiner Feldforschung führte ich 20 Interviews, davon jeweils zur Hälfte mit Frauen und Männern. Letztere lernte ich vornehmlich auf der birzha kennen, die ich im Zeitraum von März bis Oktober mindestens fünf Mal pro Woche besuchte. Das Alter der Männer dort bewegte sich zwischen 18 und 70 Jahren. Das heißt, sie waren sowohl in der Sowjetunion als auch zu postsowjetischer Zeit sozialisiert worden. Ihre Qualifikation ging fast nie über die Regelschulzeit (zehn Jahre) hinaus. Sie gehörten meist lokalen ethnischen Minderheiten an (Armenier, Aserbaidschaner und Kurden bzw. Jesiden), die nicht selten sozial und ökonomisch benachteiligt sind. Meine Beobachtungen beziehen sich also nur auf diese Gruppe. Da ich in dem von mir untersuchten Viertel wohnte und auch schon vor meiner Feldforschung Bekannte dort hatte, konnte ich schnell Kontakte zu meinen männlichen Nachbarn knüpfen und fand rasch Zugang zu den Männertreffen. Für die Männer war ich einerseits ein Nachbar, andererseits ein Forscher, der möglicherweise über ihr Verhalten, vor allem aber über ihre Gespräche, schreiben könnte. Dementsprechend zeichneten die Männer, besonders in den Interviews, ein idealisiertes Selbstbild. Die meisten informellen Gespräche und Interviews fanden während der Treffen dieser Gruppe auf der Straße statt. Zakharova beobachtete Schwierigkeiten bei der Forschung zu den Männertreffen, da diese bis 2012, wie erwähnt, unter Kriminalitätsverdacht standen und Männer oft die Sorge hatten, für ihre Teilnahme an den Treffen belangt zu werden (2017: 251). Da ich meine Forschung erst 2016 durchführte, spielte dies kaum eine Rolle. Nur in einem Fall nahm ein junger Mann immer Reißaus, wenn ich Interviews auf der birzha aufnahm. Die anderen Teilnehmer zogen ihn deshalb regelmäßig auf, und es wurde zu einem Running Gag, ihm zu erzählen, dass ich wieder einmal ein Interview führen würde.

In der Nachbarschaft, die ich untersuchte, gab es verschiedene solcher Männertreffen, die fast jeden Tag an festgelegten Orten auf der Straße stattfanden. Etwa alle 200 Meter befand sich ein solcher Treffpunkt für die birzha, wo sich die Bewohner der angrenzenden Häuser trafen. Einer davon war direkt vor meinem Haus, wo am häufigsten diejenigen anzutreffen waren, die keiner oder nur einer unregelmäßigen Arbeit nachgingen. Die Hauptbeschäftigung auf der birzha ist das „Herumhängen“: Die Männer unterhalten sich, rauchen, und manchmal trinken sie. Dies war auch meine Beschäftigung dort.

In einem ersten Teil stelle ich nun den Arbeitsmarkt in Georgien vor. Danach erörtere ich die Auffassung von „richtigem“ männlichen Verhalten, also die Erwartungen, die Männer an die Mitglieder ihrer Gruppe haben. In einem letzten Teil zeige ich anhand von zwei Beispielen im Bausektor, welche Auswirkungen diese Erwartungen auf den Zugang zu Arbeit, die soziale Absicherung und die Beziehung zwischen „Angestellten“ und ihren „Vorgesetzten“ in der Praxis haben. Ich umreiße dann kurz die Auswirkungen idealisierender Vorstellungen von Männlichkeit auf die Gesellschaft. Mein Anliegen ist es, die Bedeutung der Männertreffen (birzha), also informeller männlicher Netzwerke, für einen unregulierten Arbeitsmarkt herauszuarbeiten.

Zur Transkription aus dem Georgischen nutze ich das Nationale System zur Romanisierung, aus dem Russischen das System der United States Library of Congress. Für allgemein bekannte Namen nutze ich die englische Schreibweise, um Namen einheitlich aus der Literatur zu übernehmen.

2. Deregulierung – informelle Wirtschaft in Georgien

Aufgrund politischer Konflikte und nationalistisch motivierter Unruhen im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion brach die Produktion in Georgien zwischen 1990 und 1995 um 78 Prozent ein. Der größte Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten verlagerte sich in den informellen Sektor (EI-LAT 2012: 3). Die nationale Wirtschaft erholte sich erst nach 1997, insbesondere nach den Reformen, die auf die sogenannte Rosenrevolution 2003 folgend umgesetzt wurden. Diese Reformen unter dem damaligen Präsidenten Mikheil Saakashvili gingen mit enormen sozialen Kosten einher, wie Lela Rekhviashivili in ihrer Studie über informellen Straßenhandel in Tbilisi zeigte (2015: 5). Kern dieser Reformen war eine umfassende Deregulierung, aus der ein Wirtschaftswachstum folgte, während sich aber gleichzeitig die Armut vergrößerte. Für die meisten Menschen bedeutete die Transformation unsichere Arbeitsbedingungen, lange Arbeitszeiten und schlechte Bezahlung.

Für Westeuropa bezeichneten Robert Castel und Klaus Dörre (2009) eine solche Entwicklung als „Prekarisierung“ – eine „Wiederkehr der sozialen Unsicherheit“ seit den 1970er-Jahren. Eine Folge sei eine „Entkollektivierung beziehungsweise […] Re-Individualisierung“ (ebd.: 23 f.) der Arbeitsorganisation und der beruflichen Laufbahn. Für Westeuropa gilt als prekäre Arbeit ein Beschäftigungsverhältnis, „das bestimmte soziale und rechtliche Standards unterschreitet, die üblicherweise […] als ‚normal‘ angesehen werden. […] Prekarität ist das Ergebnis sozialer Zuschreibungen auf der Basis eines normativen Vergleichsmaßstabs.“ (Kraemer 2008: 78, 85)

Als Maßstab für ein „normales“ Beschäftigungsverhältnis gilt in Westeuropa staatlich regulierte und sozial abgesicherte Arbeit, wie sie in den 1960er- und 1970er- Jahren etabliert wurde (Castel/Dörre 2009: 24). Als Maßstab für ein „normales“ Beschäftigungsverhältnis sahen meine Informant_innen in Tbilisi jedoch die Arbeitswelt der Sowjetunion an.

Während meiner Feldforschung beschrieben sie ihre aktuelle Lage als „nicht normal“. Alex, einer meiner Nachbarn (ca. 60 Jahre alt), erklärte: „Jetzt haben wir Demokratie, was ist Demokratie? Die Leute haben kein Geld! Zu sowjetischen Zeiten hatte jeder Essen. Jetzt geben sie uns nichts […]. Du arbeitest dein Leben lang und gehst in Rente und kannst davon nicht normal leben. So ist das.“ (Interview vom 18.10.2016) Personen, die in der Sowjetunion aufwuchsen und arbeiteten, und sogar später geborene Generationen gleichen ihre gegenwärtige Situation ständig mit der (manchmal idealisierten) Vorstellung der sowjetischen Vergangenheit ab.

Tatsächlich garantierte die Verfassung der Sowjetunion der 1970er-Jahre eine Vielzahl sozialer und kultureller Rechte (Novosti Press Agency 1985), deren Inanspruchnahme mit der Anstellung in einem Staatsbetrieb verbunden war. Die Mitgliedschaft in einem solchen Kollektiv garantierte soziale Sicherheit und das Anrecht auf staatlich organisierte Freizeitaktivitäten, aber auch Netzwerke von Kolleg_innen. Sowjetbürger_innen seien, so Georgi Derluguian, im sowjetischen Wohlfahrtsstaat vollständig abgesichert gewesen: „The ‚common‘ Soviet men and women – i.e. predominantly the state-dependent proletarians – subsisted on fixed-wage incomes paid regularly (usually twice a month) over their whole lifetime, until eventually these incomes were replaced by state pensions.“ (2005: 141 f.)

Ob die materielle Situation der Menschen in Sowjetgeorgien tatsächlich deutlich besser war, ist hier weniger entscheidend als ihre subjektive Wahrnehmung der eigenen Lage. Heute haben viele Menschen ein geringes, unregelmäßiges Einkommen, lange Arbeitszeiten und wenig Urlaubsanspruch, keine Krankenversicherung, sind nicht fest angestellt und auf Gelegenheitsjobs angewiesen. Diese Situation wird als nicht normal angesehen. Als normal hingegen gilt die oben beschriebene staatliche Organisation von Arbeit, Freizeit und Rente, die jedem Mitglied eines Kollektivs in der Sowjetunion zustand.

Mit dem Verlust dieser Privilegien seien, so Caroline Humphrey, viele Sowjetbürger zu Enteigneten geworden, und zwar „in a double sense. The dispossessed are people who have been deprived of property, work, and entitlements, but we can also understand them as people who are themselves no longer possessed.“ (2002: 21) Sie hätten neben materiellen Verlusten auch ihren sozialen Status als Mitglieder eines Kollektivs verloren. Das bedeutet, dass Status nicht mehr an Arbeit gebunden war. David Kideckel (2004) beschrieb die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Geschlechterrollen in Kohlearbeiterfamilien in Rumänien. Ihm zufolge habe sich die vormals klare Rollenverteilung mit dem Mann als Ernährer und der Frau als Hausfrau aufgelöst und ihre Geschlechtsidentität sei unsicher geworden. Frauen hätten nun das Überleben der Familien sichern müssen, wodurch sich Männer ihrer privilegierten Position beraubt gesehen hätten (ebd.: 43). Für Georgien hat Frederiksen diese Entwicklung mit dem Konzept „gender damage“ beschrieben: „[T]he post-socialist experience has stripped away predictable contents and practices of gender identities. This kind of dispossession I will refer to as emasculation.“ (2011: 167) Da das Arbeitskollektiv nun nicht mehr ökonomische und soziale Sicherheit bieten konnte, gewannen informelle Netzwerke (wie etwa die birzha) an Bedeutung. Für viele Männer ist sie nach dem Verlust ihrer Mitgliedschaft im Arbeitskollektiv ein Ort, ihren Status als Mann zu bestätigen, also mit emasculation fertig zu werden.

Um überhaupt Einkommen zu erzielen, sind viele Menschen auf Freundesnetzwerke angewiesen, über die sie Arbeit finden. Die meisten meiner Nachbarn gingen einer Beschäftigung als selbstständige Handwerker auf dem Bau nach. Nur eine Minderheit von ihnen erzielte ihr Einkommen auf dem regulären Arbeitsmarkt in einer festen Anstellung, die meisten davon im öffentlichen Dienst. Fast jeder aber war in diverse nicht formalisierte Geschäfte verwickelt. Der informelle Sektor spielte in jedem Fall eine wichtige Rolle bei der Generierung von Einkommen.

Keith Hart betonte in seiner Studie über informelle Beschäftigung im urbanen Raum in Ghana, dass formelles und informelles Einkommen eng miteinander verwoben seien und sich gegenseitig ergänzten (1973: 88). Manuel Castells und Alejandro Portes (1989: 18, 26) zufolge kann der informelle Sektor sogar integraler Bestandteil ganzer nationaler Ökonomien sein, da dezentralisierte und ausgelagerte Arbeit flexibler sei und sich einer Regulierung entziehen könne. Das Nicht-vorhanden-Sein eines effektiven Arbeitsrechts wird so zu einem Standortvorteil. So warb etwa das georgische Wirtschaftsministerium auf einer Informationsseite, die „unemployment rate is 12.4% in 2016. The Georgian labour market offers investors young workforce – half of the unemployed are aged 20-34. Additionally, no work permits are required […].“ (Invest in Georgia)

Der Druck auf die Bevölkerung, alternative Einkommen zu generieren, ist hoch. Informelle Netzwerke spielen dabei eine wichtige Rolle, wobei gegenseitige Unterstützung aber kein neues Phänomen der postsowjetischen Zeit ist. Auch zu Zeiten des Staatssozialismus waren die Bürger_innen auf Netzwerke angewiesen, um knappe Produkte zu organisieren oder Gefälligkeiten auszutauschen (Ledeneva 1998). Die Schattenwirtschaft in der Sowjetunion beinhaltete „moonlighting in second, unofficial roles, bartering, favour-exchange, stealing or employees using enterprise resources, to name but a few practices“ (Polese/Morris 2015: 4 f.). Georgien stach dabei besonders hervor. So stellte Yochanan Altman fest: „Georgia is unrivalled in the USSR both at the level and the sophistication of its second economy.“ (1983: 3) Der Grund hierfür sei, dass das formelle Einkommen nur einen Teil der gesamten Einkünfte ausmachte und „that it was extra income from the second economy that is vital to a full social role“ (Mars/Altmann 1983: 559). Eine der wichtigsten sozialen Rollen für Männer in Georgien sei es, so Gerald Mars und Yochanan Altmann, sich permanent als Mann zu beweisen. Am besten gelinge dies durch gegenseitige Einladungen zum Essen und „excessive and competitive drinking“ (ebd.: 549). Damit wären soziale Netzwerke aufrechterhalten worden, die wiederum dem Erwerb von zusätzlichem Einkommen gedient hätten (ebd.). In der Sowjetunion waren demzufolge Netzwerke von Männern essenziell, um zusätzliche Einkünfte zu erzielen und um den Status als Mann zu unterstreichen und zu bewahren.

Im Jahr 2016 waren mit 42,4 Prozent der Beschäftigten weniger als die Hälfte der georgischen Bevölkerung fest angestellt, während Selbstständigkeit mit 53 Prozent der Beschäftigten die gängigste Form des Broterwerbs darstellte (Geostat 2017). In der Hauptstadt Tbilisi betrug die Arbeitslosenquote im selben Jahr 23,5 Prozent, wohingegen 65 Prozent angestellt und 11,5 Prozent selbstständig tätig waren. Der durchschnittliche Monatslohn dort betrug circa 500 Dollar (ebd.). In einer Umfrage der Caucasus Research Resource Centers aus dem Jahr 2015 (CRRC 2015) allerdings gaben 24 Prozent der Befragten an, nur halb so viel zu verdienen. In der gleichen Erhebung sagten lediglich 11 Prozent der Befragten, dass es möglich sei, mit weniger als 250 Dollar monatlich ein „normales Leben“ zu führen. Als normales Leben, in Anlehnung an die Erfahrungen aus dem sowjetischen Wohlfahrtsstaat, beschrieb Maia (ca. 35 Jahre alt), eine meiner Nachbarinnen: „genügend Mittel, um Kinder großzuziehen, sodass sie Sport treiben können, dass wir mit ihnen außerhalb der Stadt Urlaub machen können – zwei Wochen im Winter und zwei Wochen im Sommer. Verstehst du?“ Sie führte weiter aus, dass ihr Ehemann (Dato) für seine harte Arbeit keine angemessene Entlohnung bekommen würde: „Wir arbeiten hier wie die Esel; wir haben viel Arbeit und nur geringe Entlohnung […]. Siehst du, wie Dato arbeitet? Er ist kaum zu Hause und kommt nur von Zeit zu Zeit. Aber sein Lohn besteht nur aus ein Paar Kopeken (k‘ap‘ek‘ebi)!“ (Interview vom 24.10.2016)

Da es so gut wie keine beziehungsweise nur unzureichende staatliche Hilfen für Arbeitslose gibt und auch das reguläre Einkommen kaum zum Leben reicht, müssen die Menschen zusätzliche Einkommen generieren. Ähnlich wie in der Sowjetunion sind die Menschen auf den informellen Sektor angewiesen, allerdings ohne die zusätzliche Absicherung durch staatlich organisierte Arbeit.

Der (informelle) Bausektor bietet viele Arbeitsmöglichkeiten, da die meisten Bewohner der Hauptstadt privates Wohneigentum besitzen. Vermietung, vor allem in touristisch geprägten Vierteln (wie das Quartier, in dem ich forschte), ist eine gute Möglichkeit, das eigene Einkommen aufzubessern. Im Bausektor, um den es hier vor allem gehen soll, arbeiteten 2016 11,4 Prozent aller Angestellten (Geostat 2017). Das Arbeitsrecht in Georgien reguliert zwar die Arbeits- und Pausenzeiten, Urlaub, Bezahlung und die Sicherheitsvorschriften (The Parliament of Georgia 2010), aber es wird kaum durchgesetzt und 2006 wurden die Kontrollen ganz abgeschafft. Erst 2016 wurde das Department of Inspections of Labour Conditions wieder geschaffen (Chubabria 2017: 10). Generell sind die Arbeitsbedingungen schwierig, und Beschwerden über niedrige Löhne, prekäre Arbeitsverhältnisse, lange Arbeitszeiten und fehlenden Arbeitsschutz werden immer wieder laut (Aptsiauri/Ghedaschwili 2016; Chubabria 2017; Chubabria/Gvishiani/Jokhadze 2017). Vor allem die Sicherheit auf den Baustellen ist ein großes Problem. Dem Human Rights Education and Monitoring Center zufolge wurden zwischen 2011 und 2016 724 Personen bei Arbeitsunfällen verletzt und 252 starben (Chubabria 2017: 10). Außerdem gilt das Arbeitsrecht nur für Angestellte, nicht aber für die selbstständig Arbeitenden und erst recht nicht für nicht registrierte Arbeit.

Wie oben bereits beschrieben, existierte in der Sowjetunion neben der offiziellen Wirtschaft eine Schattenwirtschaft, die das offizielle Einkommen ergänzte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aber verschwanden die Arbeitskollektive, und mit ihnen entfiel die staatliche Regulierung von Arbeit und Freizeit. Außerdem war mit der Auflösung der Kollektive sozialer Status nicht mehr an staatlich regulierte Arbeit gebunden. Informelle Wirtschaftspraktiken waren nun oft keine Ergänzung mehr, sondern die einzige Einkommensquelle und boten keine Möglichkeit, den Erwartungen an die Geschlechterrolle (Männer als Ernährer, Frauen als Hausfrau) gerecht zu werden. Diese Situation änderte sich mit der Deregulierung der Wirtschaft unter Saakashvili nicht. Die männlichen Netzwerke, wie sie Mars und Altmann für Sowjetgeorgien beschrieben, gewannen weiter an Bedeutung. Im Folgenden gehe ich näher auf die birzha als wichtigstes – und für viele häufig einziges – Männernetzwerk ein.

3. Der Männertreff als Ort der Sozialisation

Die birzha hat keinen geregelten Ablauf. Jeden Tag kommt irgendein Nachbar an einen bestimmten Ort auf der Straße, und nach einer Weile gesellen sich weitere hinzu. Dies geschieht in der Regel ohne vorherige Absprache. Entweder haben sie ihren Nachbarn aus dem Fenster beobachtet oder sie kommen zufällig vorbei. Die Treffen können prinzipiell zu jeder Jahres- und Tageszeit stattfinden, häufig konzentrieren sie sich aber auf den Nachmittag und Abend in wärmeren Monaten (etwa März bis November). Eine typische birzha-Zeit ist ab circa 18 Uhr. Das bedeutet aber nicht, dass sie in anderen Zeiträumen, etwa am Morgen oder im Winter, niemals erfolgen. Die Teilnehmer sind fast ausschließlich Männer aus derselben Nachbarschaft, häufig direkte Nachbarn, die miteinander aufgewachsen sind. Obwohl die Treffen auf der Straße stattfinden, bedeutet dies nicht, dass wir hier automatisch von öffentlichem Raum reden können. Die Straßen des eigenen Viertels gelten den Nachbarn als Teil des eigenen Heims. Das zeigt sich auch in der legeren Art, sich zu kleiden. Sandro, ein Mann um die 50, erklärte mir:

„Du bist zur Hälfte zu Hause, wenn du in der Nachbarschaft bist. Im Kopf gehört es zu dir, das Viertel. Wir sind hier seit der Kindheit aufgewachsen. Du kennst alles hier, überall, wo jemand wohnt. […] Unsererseits wird das so wahrgenommen, weil die Leute, auch ich selbst, hier in Badelatschen herumlaufen, wenn sie 15, 20 Meter vor die Tür gehen, denn das ist meine Straße. Aber nicht in der Stadt, dort gibt es so etwas nicht, nur in der Nachbarschaft.“

(Interview vom 23.10.2016)

Die birzha ist aufs Engste mit dem Viertel verbunden, sie unterstreicht die Zugehörigkeit zu einer Nachbarschaft – zum physischen Raum und zu den (männlichen) Nachbarn. Frauen nehmen nur sehr selten teil. Manchmal klinken sich ältere Damen der Nachbarschaft in die endlosen Diskussionen auf der birzha ein, meist bringen sie aber ihr Missfallen über Lautstärke oder Trunkenheit zum Ausdruck. Aufgrund meines Genders hatte ich kaum Zugang zu einer dezidiert weiblichen Sicht auf die birzha und ihre Zuschreibung von Status an die Männer. Deshalb war es mir fast gar nicht möglich, Bewertungen und Vorstellungen von Männlichkeit aus einer nicht männlichen Perspektive in die Untersuchung einzubeziehen. Das Männlichkeitsbild, das gesellschaftlich weitgehend anerkannt ist, ist nicht explizit Gegenstand meiner Untersuchung. Dennoch umreiße ich kurz, welche Vorstellungen von Männlichkeit in der georgischen Gesellschaft von den meisten Menschen, die sich innerhalb der heteronormativen Vorstellung von Geschlecht verorten, unhinterfragt als „natürlich“ angesehen werden. Ich beziehe mich dabei – in Anschluss an Raewyn Connell – auf das Konzept hegemonialer Männlichkeit. Es beschreibt die Vorstellung von Dominanz des männlichen Geschlechts über das weibliche: „Hegemonic masculinity was understood as the pattern of practice (i.e., things done, not just a set of role expectations or an identity) that allowed men’s dominance over women to continue.“ (Connell/Messerschmidt 2005: 832) Michael Meuser und Sylka Scholz zufolge bilde sich „in der sozialen Praxis der Elite […] ein Muster von Männlichkeit aus, das kraft der sozialen Position der Elite hegemonial wird“ (2012: 25). Kritiker_innen bemängelten, dass es

„essentializes the character of men or imposes a false unity on a fluid and contradictory reality. […] [It] is criticized for being framed within a heteronormative conception of gender that essentializes male-female difference and ignores difference and exclusion within the gender categories.“

(Connell/Messerschmidt 2005: 836)

Das Konzept ist für meine Untersuchung aber nützlich, da es von einem vorherrschenden Männlichkeitsbild ausgeht, das allgemein akzeptiert ist und sich in der Praxis wiederfindet, in meinem Fall auf der birzha. Das entsprach insbesondere den Erfahrungen meiner Informanten: Sie bewegten sich täglich innerhalb einer als homogen männlich empfundenen Gruppe, aus der alles als nicht männlich Empfundene ferngehalten wurde. Wie ich zeigen werde, ist die Vorstellung von Männlichkeit innerhalb der birzha einheitlich. Alle Mitglieder verstehen sich als Männer und streben danach, den gemeinsamen Vorstellungen von Männlichkeit zu entsprechen. Eines der Ziele der Männertreffen ist es gerade, Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Aus diesem Grund gehe ich davon aus, dass jeder dem von allen akzeptierten Bild hegemonialer Männlichkeit (oder zumindest dem, was die Gruppenmitglieder dafür halten) entsprechen will. Die Tatsache, sich in einem exklusiv männlichen Raum (auf der birzha, aber auch auf dem Bau) zu bewegen, bewies in den Augen meiner Informanten die Allgemeingültigkeit der von ihnen gepflegten Vorstellung männlicher (also ihrer eigenen) Dominanz. Das Männlichkeitsideal zumindest innerhalb dieser Gruppe verstehe ich deshalb als hegemonial.

Da ich nur die Idealvorstellung innerhalb einer Männergruppe, die sicherlich nicht zur gesellschaftlichen Elite zu zählen ist, untersucht habe, kann ich über das vorherrschende Männlichkeitsbild in der georgischen Gesellschaft im Allgemeinen nur Vermutungen anstellen. Dennoch gehe ich davon aus, dass die Ideale innerhalb der von mir untersuchten Gruppe der gesellschaftlich dominierenden Vorstellung von Männlichkeit entsprechen, ihr zumindest aber nicht widersprechen.

Im Folgenden skizziere ich nun kurz das Männlichkeitsideal, von dem ich vermute, dass es das in der georgischen Gesellschaft dominierende ist. Zumindest für die wenigen Gespräche, die ich während meiner Feldforschung mit meinen Nachbarinnen über die Männer auf der birzha führte, galt, dass Frauen das „Abhängen“ auf der Straße eher als Faulheit interpretierten. Hoher Status außerhalb und innerhalb der birzha wurde aber denjenigen zugesprochen, die eine Familie hatten, diese ernähren und ihr etwas bieten konnten. Darüber hinaus wurde das Unterstützen von Nachbarn, Freunden und Bekannten positiv bewertet. Eine Befragung der Caucasus Research Ressource Centers in Georgien aus dem Jahr 2019 zeigte, dass 65 Prozent der Befragten grundsätzlich Männer als die alleinigen Ernährer der Familie ansehen, während nur ein Prozent Frauen diese Rolle zuschrieben. Die übrigen 34 Prozent konnten sich vorstellen, dass Frauen und Männer gleichermaßen die Familie ernähren sollten. Die Realität weicht aber von diesem Idealbild ab: In 43 Prozent der Familien sind Frauen die alleinigen Ernährerinnen, demgegenüber stehen 34 Prozent mit Männern als alleinigen Ernährern, bei 21 Prozent waren es Frauen und Männer gleichermaßen (CRRC 2019). Das könnte auf eine Vorstellung hegemonialer Männlichkeit hinweisen, bei der Männer für die Familien und Freunde sorgen oder diesen etwas bieten sollen. Hoher Status wird Männern zugeschrieben, wenn sie diese Rolle ausfüllen. Frauen wurde diese Rolle hingegen abgesprochen. Auch wenn das die Ausübung von Lohnarbeit impliziert, ist Männlichkeit nicht zwingend mit dieser verbunden. Wie die Unterstützung konkret aussieht und woher die Mittel kommen, ist weniger wichtig als die Unterstützung selbst. Darauf deutet auch Frederiksen hin, wenn er feststellt, Männlichkeit sei

„based on questions of abundance and display. Being able to take care of one’s family, being a generous host, and being able to provide an abundance of wine, verses, and toasts has a long history as a key marker of masculinity in the southern Caucasus […]. A newer version of masculine success is the nouveau-riche businessman with a big chin, a big belly, and a new four-wheel-drive car.“

(Frederiksen 2011: 166 f.)

Die Rolle als Ernährer ist wichtig, ebenso jedoch, auf irgendeine Art zum Wohlergehen des Familien- und Freundeskreises beizutragen und dies zu zeigen. Auch wenn es nicht der Realität entspricht, in der es vor allem Frauen sind, die die Familien ernähren, kann diese Vorstellung von Männlichkeit als hegemonial gelten. Es ist daher naheliegend, dass dieses Männlichkeitsbild eher ein Ideal ist, das aber auf der birzha eine wichtige Rolle spielt und gesellschaftlich anerkannt ist, in jedem Fall aber innerhalb der Männergruppe Ausschließlichkeitsanspruch hat.

Im Folgenden beschreibe ich, was meine (männlichen) Informanten auf der birzha unter männlichen Idealen verstanden und welches Verhalten sie von den Mitgliedern ihrer Gruppe erwarteten. Daraus ergaben sich von meinen Informanten allgemein akzeptierte Prinzipien, an denen sich ihnen zufolge Männer orientieren sollten. Pierre Bourdieu beschrieb solche verinnerlichten, allgemein akzeptierten Dispositionen, die das Handeln von Individuen bestimmen, als Habitus (1977: 72). Da die birzha ein abgegrenzter, exklusiv männlicher Ort ist, verstehe ich diesen, in Anschluss an Bourdieu, als einen „homosozialen Raum“ in dem Männer um ihren Status wetteifern und so einen „männlichen Habitus“ kreieren (Meuser/Scholz 2012: 25). Männlichkeit wird hier vor allem unter Männern verhandelt. Meuser zufolge dient dieser Wettbewerb als ein „Mittel männlicher Vergemeinschaftung“. Die „Verzahnung von Wettbewerb und Solidarität [ist] das Prinzip […], das der Konstruktion von Männlichkeit in den unterschiedlichsten Kulturen zugrunde liegt“ (2008: 5176). Die Idee männlicher Hegemonie über Frauen, oder allem als weiblich Gelesenem, ist wesentlicher Bestandteil solcher Gruppen (ebd.: 5172 f.). Die Mitgliedschaft in dieser Gruppe ist in den Augen ihrer Mitglieder also schon Beweis, ein Mann zu sein. Solidarität und Wettbewerb sind auch für die Etablierung und Verinnerlichung eines männlichen Habitus auf der birzha charakteristisch. Wie ich später zeigen werde, ist dieser männliche Habitus für die Arbeitsverhältnisse auf dem Bau enorm wichtig.

Während meiner Feldforschung erklärten mir meine Nachbarn ununterbrochen, was sie unter richtigem (männlichem) Verhalten verstanden. Ihre Vorstellungen waren in hohem Maße idealisierend. Aus den Erzählungen stachen drei immer wiederkehrende Motive hervor, mit denen die Männer ihre Beziehungen untereinander charakterisierten. Alle drei kulminierten in einem Imperativ, der von den Männern beständig wiederholt wurde: Nachbarn (gemeint war hier die eigene Männergruppe) sollten „in Pest und Fest (lkhinshi da ch‘irshi)“ zusammenstehen, wie eine ständig angeführte Redensart lautete. Sandro, ein Mann um die 50 Jahre, erklärte:

„Freundschaft ist das Wichtigste […]. Wir haben eine Redensart: ‚Wenn du einen Freund zum Feiern hast, dann könnte er dich betrügen, aber wenn du einen wahren Freund hast, dann betrügt er dich nie.‘ Auf einer Tischgesellschaft gibt es einen guten Trinkspruch: ‚Komm, lass uns Freunde sein. Lass uns nicht Freunde fürs Feiern, sondern Freunde von Herzen sein.‘“

(Interview vom 23.10.2016)

Die Männer sehen Freundschaft als einen, wenn nicht den wichtigsten männlichen Wert an. Dementsprechend präsentieren sich alle Männer einer birzha als enge Freunde. Frederiksen betont in seiner Arbeit zu jungen Männern in Batumi die Wichtigkeit, die diese Männer ihren Netzwerken beimessen. So verstünden sich Mitglieder eines Netzwerks nicht selten auch als Bruderschaft. Letztere werde als familienähnlicher Bund aufgefasst, der seinen Mitgliedern Respekt und ein hohes Selbstwertgefühl verschaffe (Frederiksen 2013: 60, 99). Als eine Unterkategorie von Freundschaft kann der dzmak‘atsi (Bruderfreund, wörtlich: Brudermann) gelten. Die Freundschaftsbeziehung wird als dzmak‘atsoba (Bruderfreundschaft, wörtlich: Brudermännlichkeit) bezeichnet. Sandro erklärte, „dzmak‘atsoba ist völlig anders [als Freundschaft, J.S.], ein dzmak‘atsi kann die Verantwortung für seinen dzmak‘atsi übernehmen, er kann sein Leben für ihn geben. Er kann wirklich sein Leben für seinen dzmak‘atsi geben.“ (Interview vom 23.10.2016)

Ein weiteres wichtiges Merkmal einer männlichen Gemeinschaft ist gute Nachbarschaft. Da die Mitglieder einer birzha in der Regel gleichzeitig direkte Nachbarn sind, erwarten sie auch ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis voneinander – nicht nur zwischen den Männern der birzha, sondern im Viertel insgesamt. Sandro erklärte mir, sein Vater habe ihn gelehrt, dass Nachbarn sogar eine noch engere Beziehung zueinander haben könnten als Verwandte. Er führte aus, welche Erwartungen er an einen guten Nachbarn habe:

„Ich sage dir, Joseph, woran man einen guten Nachbarn erkennt. Wenn ich im Moment kein Brot kaufen kann: ‚Kann ich mir Brot von dir borgen wie unsere Vorväter?‘ Natürlich teilst du welches mit mir, warum auch nicht? Oder wenn der Blutdruck eines Nachbarn zu hoch ist, dann sagen sie: ‚Kannst du bitte den Krankenwagen rufen, meine Kinder sind nicht zu Hause‘, und natürlich rufen wir ihn sofort. Ein Nachbar kommt zu Besuch – ein Nachbar aus dem gleichen Hof, dann sagen wir: ‚Komm herein und trinke ein Glas Wein an meinem Tisch.‘ Das erwartest du eigentlich in Georgien. Nachbarschaft ist, besonders in Tbilisi, von höchster Bedeutung.“

(Interview vom 23.10.2016).

Ein gutes Miteinander zwischen Nachbarn ähnele einer Beziehung zwischen Freunden oder sogar Verwandten, die gemeinsam Geburtstag feiern oder eine Familienfeier besuchen. Sandro erläuterte:

„Nachbarn haben gute Beziehungen (urtiertoba) zueinander. Sie tauschen liebe Grüße aus und geben dir manchmal etwas, das du brauchst. Es gibt eine hiesige Redensart aus der Generation meines Vaters, die besagt: ‚Ein enger Nachbar ist besser als ein entfernter Verwandter.‘“

(Interview vom 23.10.2016)

Neben Freundschaft oder auch Bruderfreundschaft und Nachbarschaft gilt Gemeinschaft (urtiertoba, wörtlich: Gegenseitigkeit, Beziehung) im Allgemeinen als wichtiger Bestandteil aller sozialen Beziehungen. Einmal lieferte mir ein 30-jähriger Mann eine enthusiastische Beschreibung seines Viertels:

„Hier verstehen wir einander, Liebe, gegenseitige Hilfe, Gastfreundschaft … Du bist jetzt der Gast von Alex. Deshalb respektieren dich alle, denn jeder respektiert Alex. Das ist Liebe. Von hier leitet sich Gemeinschaft (urtiertoba) ab. […] Wenn du Leute grüßt, aufeinander aufpasst. Ich gratuliere dir, wenn dein Geburtstag ist, ich gratuliere diesem, wenn sein Geburtstag ist. Wenn es eine Familienfeier gibt, kommen wir alle zusammen.“

(Interview vom 27.10.2016)

Die zentralen Werte, die Männer in ihren Erzählungen immer wieder hervorhoben, waren Freundschaft beziehungsweise Bruderfreundschaft, Nachbarschaft und Gemeinschaft. Aus dem immer wiederkehrenden Verweis auf verschiedene Beziehungsformen in den Erzählungen der Männer lässt sich schließen, dass das Konzept von Männlichkeit an enge Beziehungen zwischen Mitgliedern einer Männergruppe geknüpft ist. Jede birzha stellt sich als besonders eng verbundene Gruppe dar und unterstreicht damit ihre maskulinen Qualitäten. Die Männlichkeitsideale finden in der Praxis durch gegenseitige Unterstützung ihre Umsetzung.

Die Vorstellung, Mitglied eines exklusiven Bundes von Freunden zu sein, mag keine Besonderheit für die birzha in Tbilisi oder in Georgien sein. Erving Goffman (2003) zufolge versuchen die meisten Gruppen, sich nach außen als harmonische Einheit zu präsentieren, und oft glauben sie an die Rolle, die sie spielen. Die Selbstdarstellung entspricht nicht selten den Erwartungen der Gesellschaft an die Gruppe (ebd.: 13, 19, 35). Die idealisierende Selbstdarstellung auf der birzha zwingt die Männergruppen aber, ihre Ideale ernst zu nehmen und ihren Ansprüchen zu genügen – zumindest in ihren Erzählungen, besser noch durch ihre Handlungen. Die stetige Versicherung ihrer gegenseitigen Freundschaft kann auch als Ausdruck der Angst vor dem Alleinsein und dem Verlust von Unterstützung gelesen werden. Der Status als Mann und die Männlichkeit der Gruppe insgesamt ist an enge Beziehungen geknüpft, die durch gegenseitige Unterstützung ihren Ausdruck finden.

Innerhalb der von mir untersuchten Gruppe stellte sich jeder als besonders nützlich und hilfsbereit dar, aber die Gruppe vermittelte auch nach außen das Bild, dass sie den oben genannten Männlichkeitsidealen folgt. Daraus leitete sich die Praxis ab, füreinander da zu sein und „in Pest und Fest (lkhinshi da ch‘irshi)“ zusammenzustehen. Ein Mann um die 40 erklärte mir während eines der Treffen auf der Straße: „Wir helfen uns gegenseitig und tragen des anderen Last. Mir wurde oft geholfen, meine Last wurde getragen und mir abgenommen, wir haben zusammengearbeitet.“ (Interview vom 9.11.2016) Artur, einer meiner Nachbarn, etwa 60 Jahre alt, brachte es folgendermaßen auf den Punkt: „Ein guter seelenverwandter Freund ist jemand, der dir hilft, wenn du etwas brauchst, wenn du Probleme hast. Oder ich helfe ihm, wenn er sich körperlich oder moralisch nicht gut fühlt.“ (Interview vom 18.10.2016)

Dabei war es nicht entscheidend, wie häufig jemand die Männertreffen besuchte, sondern dass er die Gemeinschaft in irgendeiner Form achtete. Gerade Männer, die lange Arbeitszeiten hatten, nahmen nur selten an den Treffen teil. Wie ich beobachtete, reichten aber auch nur eine kurze, unregelmäßige Anwesenheit, ein kurzes Gespräch oder Händeschütteln aus, um die Zugehörigkeit zur Gruppe glaubhaft deutlich zu machen.

Innerhalb der Gruppe genoss hohes Ansehen, wer viele Freunde hatte und ein enges Verhältnis zu ihnen pflegte, insbesondere, wer andere unterstützte. Als Qualitätsmerkmal eines Mannes galt die Unterstützung seiner Gruppe. Wer diesem Ideal am besten entsprach, galt in den Augen meiner Informanten als „guter Junge (k‘ai bich‘i)[2] oder „guter Mann (k‘ai k‘atsi)“. Beides bezeichnet einen hohen Status innerhalb der Gruppe. In Georgien sind dies geradezu Titel oder Auszeichnungen, welche Jungen oder Männer, die durch „richtiges“ Verhalten auffallen, verliehen bekommen. Bei der Suche nach oder der Vermittlung von Arbeit, aber auch während der Arbeit selbst bietet sich die Gelegenheit, die eigene Männlichkeit (in Form von Beistand) unter Beweis zu stellen.

4. Der Männertreff als Jobbörse – Baustellen als Männertreff

Das richtige Verhalten den Freunden und Nachbarn gegenüber (charakterisiert vor allem durch gegenseitige Unterstützung) ist entscheidend, um als „echter“ Mann zu gelten. Das macht die Männergruppen zu einem wichtigen informellen Unterstützungsnetzwerk – besonders für jene, die auf zusätzliches Einkommen angewiesen sind und sich etwa als Tagelöhner verdingen müssen, aber auch für diejenigen, die zuverlässige Arbeitskräfte suchen.

Die Art und Weise, wie meine Nachbarn Einkommen erzielten, stand oft im Zusammenhang mit den Männlichkeitsidealen, die sie während ihrer Treffen auf der Straße präsentierten. Auf der birzha wurden nicht nur die eigene Männlichkeit und die Vorzüge der Gruppe verhandelt, sondern Informationen über Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten geteilt. Einige Nachbarn boten ihren Freunden während der Treffen auch kleine Jobs an. Die Börse fungierte hier im wahrsten Sinne des Wortes als Jobbörse, auf der lokale Handwerker Gehilfen anheuerten. Erstere waren vor allem Männer, die aufgrund der guten Auftragslage wenig Zeit hatten und daher nur selten oder nur kurz an den Treffen auf der Straße teilnahmen. Dennoch genossen sie, wie ich feststellte, höchsten Respekt, da sie ihre Freunde nicht vergaßen und ihnen sogar kleine Jobs anboten.

Wenn die Handwerker ihre Bekannten auf der birzha um Hilfe fragten, war für mich zunächst nicht ersichtlich, ob es sich um einen Freundschaftsdienst oder eine Anstellung handelte. Das hier vermittelte Arbeitsverhältnis entsprach in etwa der Vorstellung von einem guten Miteinander und der Forderung nach gegenseitiger Hilfe. Die Arbeit wurde immer an Freunde und Bekannte vermittelt, aber in der Regel auch bezahlt. Das Arbeitsverhältnis hatte einen hybriden Charakter, eine Mischung aus Freundschaftsdienst und Angestelltenverhältnis mit „Vorgesetztem“ und „Angestellten“.

Ein Beispiel war das Verhältnis zwischen Varlam, einem Klempner, dessen (informelle) Auftragslage hervorragend war, und seinen Gehilfen. Neben seiner Arbeit als Klempner hatte Varlam auch eine Festanstellung in Teilzeit bei der Wasserwirtschaft, die ihm ein geringes, aber geregeltes Einkommen verschaffte. Kunden hatte er, nach eigener Aussage, „so viele, dass ich gar nicht alles schaffe“. Dennoch fand er, dass sein Einkommen nicht hoch sei, „aber ich muss auch nicht verhungern“, wie er mir mitteilte (Interview vom 14.2.2017).

Varlam konzentrierte sich in erster Linie darauf, möglichst viel zu arbeiten und Geld zu verdienen. Als Klempner hatte er eine Schlüsselposition auf dem oft informellen Bausektor inne. Renovierung, Neu- und Umbau sind in einer Stadt wie Tbilisi, wo im Jahr 2014 86 Prozent der Bewohner in Eigentumswohnungen lebten (Colliers International 2014: 24), an der Tagesordnung. Die Installation, Instandhaltung und Reparatur von Heizungen, Wasseranschlüssen und der Warmwasserversorgung sorgten für nicht endende Aufträge. Varlams Vorteil war, dass er auf ein festes Gehalt aus seiner offiziellen Arbeit sowie billige Arbeitskräfte zurückgreifen konnte. So waren seine Angebote sehr preisgünstig. Seine Kunden, die über die gesamte Stadt verteilt waren, akquirierte er nach eigener Aussage durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Mit seinen Kunden vereinbarte er einen festen Preis für seine Arbeit und einen zusätzlichen Betrag für das Material, wenn er es nicht gestellt bekam. Aufgrund seiner Auftragslage benötigte er oft Gehilfen. So nahm er häufig die Hilfe seines Freundes Alex in Anspruch und zahlte ihm dafür zwischen fünf und acht Dollar pro Tag. Auch andere Helfer aus seinem Bekanntenkreis heuerte er an. In jedem Fall waren alle seine Mitarbeiter Freunde und Bekannte.

Diese Praxis verschaffte Varlam, neben den dringend benötigten Helfern, auch ein hohes Ansehen innerhalb seines Männernetzwerks, was ihm wiederum die Unterstützung seiner Freunde und Bekannten sicherte. Obwohl er aufgrund seiner vielen Aufträge nur wenig Zeit hatte, zu den täglichen Treffen auf der Straße zu kommen, genoss er als „Arbeitgeber“ einen hervorragenden Ruf. Außerdem waren auch die allermeisten Männer der birzha (die ja in der Regel auch gleichzeitig Wohneigentum besaßen) früher oder später auf seine Fähigkeiten als Klempner angewiesen. Er vergaß nie seinen Freunden zu helfen, entweder indem er ihnen Arbeit anbot oder Klempnerarbeiten bei ihnen verrichtete.

Der hohe Status, den Varlam unter seinen Bekannten genoss, lässt sich in erster Linie auf seine Fähigkeiten als Handwerker und die Vermittlung von Arbeit zurückführen. Die Bestätigung und das Anwachsen seiner Reputation fanden aber vor allem in den Gesprächen auf der birzha statt. Hier wurden seine Qualitäten immer wieder hervorgehoben. Wenn er doch einmal Zeit fand, an den Treffen teilzunehmen, sah ich, wie seine Anwesenheit mit allgemeiner Begeisterung aufgenommen wurde, denn sein Verhalten entsprach den Idealen der Männergruppe.

Ein anderes Beispiel, bei dem der hybride Charakter der Arbeits­beziehungen deutlich wurde, war die Renovierung eines Hotels im Viertel durch Gio, einen Mann um die 40 Jahre, und seine Freunde, alle zwischen 18 und 25 Jahre alt und damit deutlich jünger. Das Haus war in den 1980er-Jahren errichtet und in den 1990ern zu einem Hotel umgewandelt worden. Ein privater Investor erwarb es schließlich und wollte es renovieren lassen. Dafür stellte er Gio ein, dem er Geld für Baumaterial sowie Arbeitskräfte, die dieser organisieren sollte, zur Verfügung stellte. Er kannte Gio bereits, der in seinem Haushaltselektronikgeschäft angestellt war, aber gleichzeitig auch eine Geflügelfarm besaß. Wie Varlam verfügte Gio über ein festes Gehalt, das er durch informelle Arbeit auf dem Bau aufbesserte.

Gio stammte aus einer anderen Stadt, und seine Mitarbeiter waren fast ausschließlich Freunde und Bekannte, die aber alle nicht im Viertel wohnten, in dem sich das Hotel befand. Zu einigen hatte er ein besonders enges Verhältnis. Sie bezeichneten sich gegenseitig als Bruderfreunde (dzmak‘atsi). Gio überwachte die Renovierung und legte auch oft selbst Hand an. Er motivierte seine Helfer (einige von ihnen gelernte Handwerker), hart zu arbeiten. Von Zeit zu Zeit, wenn ich ihn auf der Baustelle besuchte, hatten sie die Arbeit eingestellt und warteten auf das Geld für ihre Entlohnung. Gio selbst wies sie an, erst wieder zu arbeiten, wenn das Geld eintraf. Als ich Gio zum ersten Mal begegnete, schätzte er, dass die Renovierung innerhalb eines Jahres erledigt sein würde. Die Arbeit ging aber langsamer voran – sie begann 2016 und war erst im Jahr 2019 abgeschlossen.

Das Gebäude wurde nur von innen renoviert: neue Badezimmer eingebaut, die Wände gestrichen, die Terrasse erneuert und eine Kellerbar installiert, worauf Gio besonders stolz war. Neben der Arbeit verbrachten er und seine Helfer viel Zeit damit, gemeinsam abzuhängen, zu rauchen und zu trinken oder zu feiern. Gio half auch den Nachbarn im Viertel bei kleineren Arbeiten und schenkte ihnen überschüssiges Baumaterial. So strich er etwa die Fassade eines Nachbarhauses mit übrig gebliebener Farbe.

Das Hotel diente außerdem als Treffpunkt für die Jugendlichen des Viertels. Hier konnten sie ungestört und ohne Kontrolle ihrer Nachbarn trinken und kiffen. Die Baustelle verwandelte sich außerhalb der Arbeitszeit in einen Männertreff. Manchmal waren im Haus aber auch junge Frauen anwesend, was auf der Straße problematisch gewesen wäre. Obwohl Gio vor allem der Chef war, sahen ihn seine Helfer, aber auch die Bewohner des Viertels, als Freund an. Er genoss ein ausgesprochen hohes Ansehen bei seinen Angestellten, Freunden und Nachbarn im Viertel. Die Form der Akquise von Arbeitskräften und das Verhältnis zwischen Bauleiter und (informell) „Angestellten“ entsprach hier ebenfalls den Vorstellungen „richtigen“ Verhaltens, die auf der birzha vermittelt wurden und allgemein akzeptiert waren, auch wenn in diesem Fall die Männergruppe aus einer anderen Region stammte.

Das Verhältnis zwischen Gio beziehungsweise Varlam und den von ihnen Beschäftigten war aber kein offizielles Vorgesetzten-Angestellten-Verhältnis wie auf dem offiziellen, formalen Arbeitsmarkt, sondern ausschließlich als Schwarzarbeit organisiert. Es erinnerte an die Beziehungen zwischen den Männern der birzha, da auch sie nach der Arbeit noch Zeit miteinander verbrachten. Dabei unterstrichen sie immer wieder ihr freundschaftliches Verhältnis, zudem erfüllten die Helfer Pflichten, die typisch sind für die Männertreffen, zum Beispiel Bier, Zigaretten oder Snacks zu kaufen. Allerdings erwarteten sie von ihrem „Vorgesetzten“, dass er alle Kosten übernahm.

Die Anforderungen an einen „guten Mann (k‘ai k‘atsi)“ vermischten sich mit den Anforderungen an einen guten Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sie sollten füreinander da sein und sich gegenseitig unterstützen. Die Mitglieder der Männergruppen konnten sich sicher sein, dass die Anforderungen jeweils erfüllt wurden. Wer andere um (bezahlte) Hilfe auf der Baustelle bat, bekam einen zuverlässigen Gehilfen. Dieser wiederum bekam einen (wenn auch nur vorübergehenden) Job mit sicherer Bezahlung (wenn auch niedrig) und Spesen, außerdem erhielt er die Aussicht auf mehr Arbeit.

Die gute ökonomische Lage und Reputation von Varlam und Gio resultierte auch aus ihrer Fähigkeit, formelle und informelle Wirtschaftspraktiken miteinander zu verbinden. Beide erzielten ein sicheres Einkommen aus einer festen Anstellung sowie ein zusätzliches Einkommen, im Fall von Varlam sogar den größten Teil, im informellen Sektor. Für Letzteres griffen sie auf ihr Freundschaftsnetzwerk zurück, anstatt formalisierte Arbeitsbeziehungen zu schaffen. Da ihr Geschäft nicht offiziell registriert war, wäre das auch kaum möglich gewesen.

Varlam und Gio vergaben Arbeit ausschließlich an Freunde und Bekannte, obwohl sie andere qualifizierte Handwerker hätten auswählen können, die auch auf dem inoffiziellen Arbeitsmarkt zur Verfügung gestanden hätten. Das Angebot an Arbeitskräften wäre dafür ausreichend gewesen. Im Falle des Hotels ist die Annahme gerechtfertigt, dass die Arbeit bei Weitem schneller vonstattengegangen wäre, wenn die Baustelle nicht parallel als Treffpunkt für freundschaftliches Beisammensein (d. h. gemeinsames Trinken und Kiffen) genutzt worden wäre.

Es erschloss sich mir nicht vollständig, ob sich eine gute Reputation daraus ergab, Freunden eine Arbeit zu vermitteln, oder ob Männer eher bereit waren, für Freunde mit guter Reputation zu arbeiten – also für jene, denen sie zutrauten, einen guten Lohn pünktlich zu zahlen und auf der Arbeit für sie zu sorgen. Immerhin besaßen sowohl Varlam als auch Gio von vornherein schon eine gewisse ökonomische Sicherheit durch ihr Einkommen aus ihrer offiziellen Arbeit. Es gab aber eine klare Hierarchie zwischen den angeheuerten Freunden und ihren „Arbeitgebern“, nicht zuletzt wegen ihrer ungleichen ökonomischen Situation, aber auch aufgrund des höheren Ansehens, das diese innerhalb der Gruppe besaßen. In der Regel hatten (informelle) „Arbeitnehmer“ einen niedrigeren sozialen Status innerhalb der Gruppe – auch außerhalb der Arbeitszeit, wie ich herausfand. Sie waren oft jünger und ihr Wort hatte weniger Gewicht während der endlosen Diskussionen auf der birzha.

Die Arbeit, die dort vermittelt wurde, hatte eher den Charakter von Hilfe oder Gefälligkeiten zwischen Bekannten, auch wenn diese bezahlt wurden. Das Ansehen von Handwerkern, die ihren Freunden von Zeit zu Zeit kleinere Arbeitsmöglichkeiten anboten, konnte sich so erhöhen. Die Arbeiter wiederum konnten sich darauf verlassen, dass ihr „Arbeitgeber“ die Abmachungen einhielt, wenn er nicht eine empfindliche Schädigung seiner Reputation innerhalb der Gruppe in Kauf nehmen wollte. Im schlimmsten Fall würde ein unzuverlässiger „Arbeitgeber“ sein soziales Netzwerk und damit Sicherheit verlieren. Neben Respekt konnte der Handwerker auf einer birzha und in seinem Freundeskreis (die sich in der Regel überschnitten) auch zuverlässige Arbeiter akquirieren, die dort auf neue Arbeit, aber auch auf Reputation hofften. Beide Seiten nahmen an, einander einen Gefallen zu tun, was den Idealen entsprach, die Männer auf ihren informellen Treffen auf der Straße erlernten. Vermittlung sowie Verrichtung von Arbeit waren in jedem Fall eng mit den Netzwerken verbunden, die zwischen den Männern geknüpft wurden. Wie ich häufig beobachtete, nutzten vor allem diejenigen, die als Selbstständige im informellen Sektor arbeiteten, also fast alle, die birzha als Ort der Rekrutierung von Arbeitskräften, aber auch als Zugang zu Arbeit.

Männlichkeitsbilder beziehungsweise die sozialen Pflichten innerhalb einer Gruppe von Männern beeinflussen (neben der Deregulierung der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts) die Arbeitsbeziehungen. Weil viele Männer die Erfahrung machen, dass sie als Mitglieder einer Männergruppe an Arbeit kommen, das Arbeitsverhältnis durch ein zusätzliches Freundschaftsverhältnis abgesichert ist und Handwerker nicht registrierte Arbeitskräfte akquirieren können, gewinnt diese Gruppe an Bedeutung. Gleichzeitig reproduzieren sich die als männlich angesehenen Ideale (Freundschaft, gute Nachbarschaft, Gemeinschaft) und die daraus abgeleiteten Praktiken (gegenseitige Hilfe, füreinander da sein), weil sie die Freundschafts- und die damit verbundenen Arbeitsbeziehungen absichern.

Der Ausschluss von Frauen von der birzha spiegelt sich im Ausschluss von Frauen auf dem Bau wider. Es ist aber naheliegend, Letzteres eher als das Ergebnis von geschlechterspezifischen Zuschreibungen von Arbeit zu sehen. Die Männertreffen finden auf den Straßen eines Viertels statt, was nahelegt, dass Männer diesen Raum beanspruchen und dass dieser männlich konnotiert ist. Allerdings nehmen nur Außenstehende die Straßen einer Nachbarschaft als öffentlichen Raum war. Die Nachbarn selbst sehen ihn als Teil ihres Zuhauses. Die Rekrutierung von Arbeitskräften findet eher in einem abgeschlossenen, exklusiv männlichen Raum statt und weniger auf einem öffentlichen oder gar staatlich regulierten Arbeitsmarkt.

Das Männlichkeitsbild, bei dem Status an die Unterstützung von Familie, Freunden und Bekannten gekoppelt ist, gewinnt an Bedeutung – und das, obwohl oft vor allem Frauen die alleinigen Versorgerinnen der Familien sind. Das Bestehen auf diese Männlichkeitsideale aber garantiert tatsächlich gegenseitige Unterstützung zwischen den Männern. Dies mag – neben der Schwierigkeit, einen einmal erlernten Habitus abzulegen – ein Grund sein, warum sie weiterhin exklusiv männlicher Vergemeinschaftung anhängen und so das hegemoniale Männlichkeitsbild reproduzieren. Ein Verhalten, das den Männlichkeitsidealen, wie sie auf der birzha etabliert werden, widerspricht, schadet der Reputation. Hoher Status hingegen ist an die Umsetzung der männlichen Ideale in die Praxis gekoppelt. Dies geschieht häufig über Arbeit. Hier zeigt sich, ob ein Mann wirklich ein „guter Mann (k‘ai k‘atsi)“ ist, ob er diesen Titel also verdient. Diese Vorstellung von Männlichkeit ist für all jene wichtig, die kein offizielles, formalisiertes Angestelltenverhältnis eingehen. Da in Georgien der Arbeitsmarkt und die Arbeitsverhältnisse ohnehin nur rudimentär reguliert sind, bieten informelle Netzwerke und Vorstellungen von „richtigem“ (männlichem) Verhalten eine gewisse Absicherung. Deregulierung gipfelt hier in der Stärkung männlicher Netzwerke und Ideale. Zumindest in den Augen der Mitglieder dieser Netzwerke bietet das Festhalten an einem essenzialistischen Männlichkeitsbild, demzufolge Männer die starken Versorger sind, eine Form von materieller, aber auch mentaler Sicherheit. Immerhin entsprechen sie wenigstens als Mitglieder einer Männergruppe den vorherrschenden Männlichkeitsidealen. Weiter zu untersuchen wäre, ob und wie auch alternative Ideale an Bedeutung gewinnen, etwa in anderen, besser ausgebildeten, gesellschaftskritischen Milieus; ob die birzha für alle Männer eine gleichermaßen große Bedeutung hat; wie Menschen, die sich nicht dem heteronormativen Gesellschaftsbild unterordnen, zu dieser Form exklusiv männlicher Vergemeinschaftung stehen und ob der exklusiv männliche Raum der birzha vielleicht offener wird.

5. Fazit

Die Deregulierung des Arbeitsmarkts in Georgien führte zu einem Anwachsen von Beschäftigungsverhältnissen, die unsicher, schlecht bezahlt und mit langen Arbeitszeiten und wenig Freizeit verbunden sind. Viele Menschen in Georgien kontrastieren diese Situation mit der staatlich regulierten Arbeit in der Sowjetunion. Vor allem auf dem Bau sind die Arbeitsbedingungen schlecht, besonders aber für all jene, die als Selbstständige arbeiten müssen. Die Deregulierung des Arbeitsmarkts und -rechts hat zur Folge, dass sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer auf informelle Netzwerke zurückgreifen. Letztere entstehen vor allem auf Männertreffs, auch birzha genannt, auf der Straße eines jeden Stadtviertels. Dort handeln die Männer ihren sozialen Status aus, vermitteln Männlichkeitsideale (Freundschaft, Nachbarschaft, Gemeinschaftlichkeit) und einen männlichen Habitus sowie damit verbundene Erwartungen an ein „richtiges“ Verhalten. Letzteres bedeutet in den Augen meiner Informanten, füreinander da zu sein und sich gegenseitig zu helfen. Die Unterstützung der eigenen Gruppe gilt als Merkmal eines „guten Mannes (k‘ai k‘atsi)“. Die Netzwerke sind daher wichtig, um mittels des Beweises der eigenen Nützlichkeit für das Netzwerk einen hohen männlichen Status zu demonstrieren und aufrechtzuerhalten. Das geschieht etwa durch die Vermittlung von Arbeit – die Unterstützung von befreundeten Handwerkern auf dem Bau und die Bereitstellung von durch informelle Regeln gesicherten Gelegenheitsjobs – oder aber durch die schlichte Anwesenheit auf der birzha. Das Fehlen staatlicher Regulierung von Arbeit wird durch die Beachtung „richtigen“ männlichen Verhaltens, dessen Kern gegenseitige Unterstützung ist, kompensiert. An die Stelle staatlicher Strukturen, die Arbeitsverhältnisse ordnen, tritt das Männernetzwerk, das zusammen mit den dort etablierten Männlichkeitsidealen essenziell für die Absicherung der Arbeitsverhältnisse ist und daher von seinen Mitgliedern als enorm wichtig empfunden wird.