sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(1/2), 185-203

doi.org/10.36900/suburban.v11i1/2.829

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0

Ersteinreichung: 30. Juli 2022

Veröffentlichung online: 15. Juni 2023

Care-Ökonomien im ländlichen Raum am Beispiel eines ostdeutschen Gemeinschaftsprojektes

Inga Haese

Der Aufsatz thematisiert das Potenzial von Care-Ökonomien in ländlich geprägten Regionen in Ostdeutschland. Einzelne Projekte von Care-Ökonomien, so meine These, weisen dem ländlichen Raum in Ostdeutschland bei der Findung alternativer Arbeits- und Lebensweisen eine experimentierfreudige Rolle zu. Anhand eines Gemeinschaftsprojektes wertet der Artikel Care-Praktiken und Elemente einer Care-Ökonomie aus, die widersprüchliche Entwicklungen jenseits von Idealisierungen oder Romantisierungen aufzeigen. Eine Erkenntnis der geschilderten Feldforschung ist, dass transformative Praktiken in Care-Ökonomien die kapitalistische Differenzierung zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit irritieren. Jedoch sind Aushandlungen über die Arbeitszeiten und die Inwertsetzung der (un-)sichtbaren Arbeit in der Care-Ökonomie Gegenstand von Widersprüchen und Konflikten.

An English abstract can be found at the end of the document.

„Dass erst (Re)Produktion die Produktivkraft Arbeit dauerhaft hervorbringt und ermöglicht, wird unhinterfragt vorausgesetzt – ebenso wie die als unerschöpflich geltende (Re)Produktivität der Natur. Wie Wiederherstellung geschieht, bekümmert dieses ökonomische System nicht – es spielt sich außerhalb seiner Sphäre ab, jenseits des Marktes“.

(Biesecker/Hofmeister 2012: 242)

1. Einleitung

Ein zentrales Motiv aktueller Zeitdiagnosen ist die Kritik an einer extraktiven Wachstums- und Marktökonomie, die eine sorgsame Befriedigung der Bedürfnisse von Mensch und Umwelt außer Acht lasse (Dengler et al. 2022: 311; Wichterich 2020). Innovationen zu deren Veränderung sind Topoi einer soziologischen Forschung. Diese lief bisher vor allem auf die These hinaus, die Orte solcher Transformationen – also Orte, die mit wirtschaftlichen und/oder sozialen Praktiken experimentieren – seien Städte (Schneidewind 2020: 139). Tatsächlich werden aktuell aber ländliche Räume als heimliche Gravitationszentren, ja gar als „Keimzellen sozialökologischer Transformation“ (Unthan/Heuser/Kratzer 2022: 222) gehandelt. Die jüngere Forschung zu Care-Ökonomien und anderen alternativen Wirtschaftsformen in ländlichen Räumen wirft jedoch Fragen auf. Die Forschung stilisiert die Potenziale sozialer Innovationen in der Peripherie hoch und lobt lokale Selbstorganisation, Gemeinschaftsgüter sowie kleinbäuerliche Landwirtschaften als „kreative, experimentelle Herangehensweisen“ (ebd.). Oder aber sie kritisiert, wie zuletzt in der Kritik des Community-Kapitalismus, solidarische Care-Ökonomien für deren freiwilligen Einsatz, da sie sich gerade in ländlichen und strukturschwachen Regionen als Antwort auf die Krise der Daseinsvorsorge in den Dienst des Sozialstaats stellten (Haubner/van Dyk 2021). Die Forschungsarbeiten weisen einen gemeinsamen Kern auf: Es gibt im ländlichen Raum – und zwar gerade im strukturschwachen ländlichen Raum – offenbar soziale Experimente und innovative Projekte, die aus Dörfern Laboratorien neuer Gesellschafts- und Arbeitsformen zu machen versuchen. Akteur*innen, die sich bewusst in solchen ländlichen Regionen niederlassen, gehen offenbar zunehmend sozial-ökologische Herausforderungen an, und zwar in kreativen und genossenschaftlich oder anderweitig gemeinschaftlich organisierten Projekten (u. a. Wember/Reusch 2021; Kumnig/Rosol 2020; Burke et al. 2018; Frech/Scurrell/Willisch 2017). Meine Forschungsthese greift diese Beobachtungen auf. Ich behaupte, dass auch in ländlichen, strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands einzelne Projekte von Care-Ökonomien dem ländlichen Raum eine experimentierfreudige Rolle bei der Findung alternativer Arbeits- und Lebensweisen zuweist. Die empirische Forschung, auf der dieser Aufsatz basiert, deckt (ver-)sorgende oder (re-)produktive Praktiken in Care-Ökonomien auf. Diese versuchen, herkömmliche Modelle von Lohnarbeit zu überschreiten, aber auch Konflikte, die in und mit ihnen entstehen. Die zugrunde liegenden qualitativen Daten wurden 2019/2020 zur Analyse eines Personenförderprogramms im ländlichen, strukturschwachen Raum erhoben.[1] Die Geförderten sind Mitstreiter*innen solidarischer, experimenteller Projekte in verschiedenen ostdeutschen Bundesländern.

Der Aufsatz ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil präzisiere ich die Ausgangsthese anhand von Forschungen zur Care-Ökonomie und leite daraus die Elemente der zu analysierenden Care-Ökonomie ab. Im zweiten Teil erläutere ich die Quelle meiner Daten und stelle anschließend exemplarisch einen Fall vor, der die Experimentierfreude, aber auch die Konflikte einer Care-Ökonomie aufzeigt. Im dritten Teil folgt ein Fazit, das Schlüsse aus der Empirie zieht und weiterführende Fragen formuliert: Haben wir es in strukturschwachen ländlichen Räumen wirklich mit „Keimzellen sozialökologischer Transformation“ (Unthan/Heuser/Kratzer 2022) zu tun? Falls ja: Was ist das Innovative an den Arbeits- und Lebensformen in diesen Care-Ökonomien?

2. Care-Ökonomie

Der Begriff der Care-Ökonomie geht auf eine traditionsreiche geschlechtersoziologische Debatte über den gesellschaftlichen Stel­lenwert von Sorgearbeit[2] zurück, die als „Herzstück feministischer Gesellschaftskritik“ (Brückner 2021) gilt. Sorgearbeit bezeichnet dabei „alle praktischen Relationen zwischen Menschen, [...] die sich [...] aus dem Werden und Vergehen des Lebens ergeben“ (Klinger 2014: 83). Da der Begriff der Sorge Macht- und Herrschaftsverhältnisse fortschreiben kann (insbesondere Fürsorge, vgl. Hofmeister et al. 2021: 44f.) hat sich zur Bezeichnung von Sorgearbeit auch hierzulande der englische Begriff Care[3] durchgesetzt. Für Sabine Hofmeister und ihre Mitautorinnen zeigt sich Care-Arbeit in Praktiken, die handelnde Personen in ihren Sorgebeziehungen ausüben: „‚Care‘ wird […] als Tätigkeit adressiert, als etwas, das Menschen tun sollten, um ihre Welt zu erhalten, fortzuführen und zu reparieren“ (ebd.: 40, eigene Hervorhebung). Nach einer weiter gefassten Definition, die Joan C. Tronto (2015) in ihren Überlegungen zu einer caring democracy vorschlägt, fallen auch Tätigkeiten der Kinderbetreuung und Pflege von Kranken über helfende Aufgaben, die wir Angehörigen oder Freund*innen angedeihen lassen bis hin zur Pflege eines Ackers unter Care. Für Tronto sind Care-Tätigkeiten all jene Handlungen, die als unsichtbare Arbeiten die Voraussetzung eines funktionierenden Gemeinwohls und des gesellschaftlichen Zusammenhalts bilden. In diesem Sinne können auch Tätigkeiten Care-Praktiken sein, die Objekte der Sorge einbeziehen und diese subjektivieren. Care wird also nicht als moralische Gesinnung verstanden, sondern als „sorgendes Sich-in-Beziehung-Setzen“ (Hofmeister et al. 2021: 41). Im Anschluss an die Akteur-Netzwerk-Theoretikerin Puig de la Bellacasa kann unter Care eine Beziehung zwischen Sorgenden und Umsorgten (bzw. umsorgten Dingen) verstanden werden. Das lässt sich auch auf die Haltung von Nutztieren oder auf die Landwirtschaft beziehen, also konkret auf ländliche Räume (vgl. ebd.). Die Irritation einer Trennung von als reproduktiv verstandener Arbeit und als produktiv verstandener Arbeit ist somit in der Praxis von Care bereits angelegt.[4]

Luise Gubitzer und Katharina Mader verstehen unter Care-Arbeit jegliche geleistete unbezahlte Arbeit. Care-Ökonomie definieren sie mit Susan Donath als „the other economy“ (2011: 13 ff.), als die andere Seite der Marktökonomie. Auch diese Vorstellung hält an der Dichotomie zwischen ökonomisch In-Wert-Gesetztem und nicht In-Wert-Gesetztem fest. Interessant ist, dass die Autorinnen der Makroperspektive eine analytische Mikroperspektive voranstellen, über die Merkmale einer Care-Ökonomie in den Blick geraten. Diese sei durch zehn Elemente markiert (ebd.: 14): 1. Die Motivation (bei der Betrachtung von Care-Beziehungen ist etwa die Unterscheidung zwischen Nutzenorientierung und moralischer Überzeugung wichtig), 2. die Zeit (mit der für die Care-Arbeit zur Verfügung stehende Zeit als wichtigem Bestimmungsmerkmal), 3. der Ort (Care-Arbeit verlangt Anwesenheit), 4. die Beziehung/Kommunikation (also das Eingehen von Beziehungen als notwendige Voraussetzung), 5. die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung (Geschlechterverhältnisse sind Machtverhältnisse, die sich in Care-Ökonomien „besonders in der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung“ zeigten, ebd.: 14), 6. die der Care-Ökonomie zugrunde liegende Normen, 7. die jeweils zur Verfügung stehenden Ressourcen, 8. die in der Care-Beziehung herrschenden Abhängigkeiten oder Machtverhältnisse, 9. die einsetzbaren Technologien sowie 10. die Lebensnotwendigkeit (Care-Ökonomie für Kinder, kranke oder betagte Menschen). Dabei unterscheiden die Autorinnen zwischen direkter Care-Arbeit, die in „direkter Beziehung zwischen zwei Personen“ (oder Lebewesen) stattfindet und unterstützender, indirekter Care-Arbeit, die „direkte Care-Arbeit erst ermöglichen, sie organisieren, unterstützen“ würde (ebd.: 18). Den Prozess des „Caring“ differenzieren sie nach Berenice Fisher und Tronto in die vier Phasen: „caring for“, „taking care“ und „care­giving“ als akute Phasen der Aufgabe selbst sowie „care-receiving“, das Reaktionen auf die ersten drei Phasen umfasst (zitiert nach ebd.: 15; vgl. Tronto 2015). Ein solches mehrschichtiges Modell einer Mikroökonomie von Care zeigt auch, dass sich Care-Ökonomien über die Analyse ihrer Praxis sinnvoll erforschen lassen. Dabei verstehe ich soziale Praxis mit Pierre Bourdieu als praktische Logik, deren Sinn „nur im Handeln erfasst werden kann“ (1993 [1987]: 168). Eine Praktik, die mit hegemonialen Herangehensweisen bricht, definiere ich wiederum als transformative Praktik (vgl. Howaldt/Schwarz 2017; Shove/Pantzar/Watson 2012: 73). Zur Erforschung von Care-Ökonomien bietet sich ein praxeologischer Ansatz an, als adäquate Methode zur Datenerhebung die Ethnographie (Lüders 2017 [2000]). Im Folgenden erläutere ich die Studie, deren Ergebnisse meine Eingangsthese untermauern.

3. Wege in die Care-Ökonomie? Forschung im ländlichen Raum Ostdeutschlands

Mit einem Förderprogramm förderten eine westdeutsche Stiftung und ein ostdeutsches Institut für Regionalentwicklung zwischen 2013 und 2021 rund 100 engagierte Personen und deren Projekte im ländlichen, strukturschwachen Raum Ostdeutschlands. Die qualitative Evaluierungsstudie des Förderungsprogramms stellt die Grundlage meiner Forschung dar. Die geförderten Projekte sind dabei keine herausgehobenen Best-Practice-Projekte. Im Gegenteil: Bei den Förderern laufen regelmäßig Anträge aus ländlichen Regionen ein, von denen viele nicht berücksichtigt werden können, die aber alle ähnlich gemeinwohlorientierte Ziele verfolgen.[5] Die untersuchten Care-Ökonomien in Ostdeutschland heben eine experimentierfreudige und zukunftsweisende Rolle des ländlichen Raums bei der Hervorbringung von Arbeits- und Lebensformen hervor. Hierzu stelle ich exemplarisch Erkenntnisse aus einer Einzelfallstudie vor. Zuvor folgt jedoch ein Überblick über das Forschungsvorgehen.

Methoden

Die Evaluierung[6] des Förderprogramms umfasste eine Dokumenten­analyse von 80 bewilligten Anträgen aus vier Förderrunden, 30 qualitative, leitfadengestützte Interviews mit geförderten Personen sowie drei ethnographische Fallstudien im Rahmen von Feldbesuchen. Die in den Einzelfallstudien eingehender untersuchten Fälle beschreiben beispielhaft eine Entwicklung in vielen vorgefundenen Projekte in abseits gelegenen ländlichen Regionen Ostdeutschlands. Als qualitativ Forschende wissen wir, dass sich aus Einzelfällen eine allgemeingültige Struktur rekonstruieren lässt (Bude 2017 [2000]: 577). In diesem Sinne ging es bei der Auswahl der Interviewpartner*innen sowie der drei Fallstudien zunächst um eine Sättigung nach dem theoretischen Sampling (vgl. Glaser/Strauss 1998).[7] In Anlehnung an Knoblauch (2001) wurden die Einzelfallstudien in Form einer fokussierten Ethnographie durchgeführt. Diese beinhaltete Methoden wie teilnehmende Beobachtungen, Gruppendiskussionen und problemzentrierte Interviews zur Unterfütterung der Erkenntnisse. Sie ermöglicht zudem ein tageweises Eintauchen ins Feldgeschehen.

Bei den untersuchten Projekten stellte sich eine Gemeinsamkeit heraus: Sie alle entwickeln gemeinschaftliche und gemeinwohlorientierte Praktiken der (Vor-)Sorge, die von der Produktion und Versorgung mit nachhaltig angebauten Lebensmitteln über die Ausbildung von Netzwerken bei der Betreuung Pflegebedürftiger bis zur Gründung von Energiegenossenschaften reichen. Arbeit, so unsere Beobachtung, dürfe über die Differenzierung von Erwerbs- und Reproduktionsarbeit hinausgehen und in umfassendere Sorgetätigkeit münden: Sorge für Menschen, aber auch für Kulturgüter, Bauwerke, Ernährung und deren Grundlagen und nicht zuletzt für eine gemeinwohlorientierte digitale Infrastruktur. Anhand eines erforschten Projektes möchte ich im Folgenden die Praktiken einer solchen Care-Ökonomie aufzeigen. Dazu stelle ich eine der Einzelfallstudien vor, die acht der zehn genannten Elemente der Mikroökonomie von Care bezogen auf die direkte und indirekte Care-Arbeit auswertet. Die für den Fall acht relevanten Elemente sind Ort, Zeit, Motivation, Beziehungen, Ressourcen, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung oder Hierarchien, Normen sowie Abhängigkeiten oder Machtverhältnisse.

Eine Einzelfallstudie: Die Care-Ökonomie Ahornhof

„Der Garten ist nicht nur da unten, sondern der Garten ist auch zwischen den Menschen. Die Menschen müssen genauso gepflegt werden wie der Acker. Und das nicht aus dem Blick zu verlieren, spielt eine große Rolle.“

(Ein Mitglied des Vereins Ahornhof e. V.[8])

Der hier vorgestellte Fall ist die Mikroökonomie des Vereins Ahornhof im kleinen Dorf Zürgosen. Der Verein hat rund fünfzig Mitglieder, überwiegend Frauen*. Der Vorstand des Vereins besteht ausschließlich aus Frauen*. Diese haben sich zum Ziel gesetzt, durch das gemeinsame Bestellen von 3,8 Hektar Ackerfläche und Anbautunneln im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern eine kleinteilige Anbaukultur und eine gesunde Ernährung sicherzustellen – von der Anzucht bis zur Ernte. Der Verein stellt Biokisten für seine Mitglieder zur Verfügung. Um diese zu produzieren, gärtnern alle gemeinsam. In der angrenzenden Küche wird die Ernte gemeinschaftlich verarbeitet und verspeist. Kinder werden während der kollektiven Arbeitszeiten gemeinsam betreut und in Saatgutwerkstätten wird die örtliche Nachbar*innenschaft miteinbezogen. Sabine, ein Vorstandsmitglied, lebt in einem Haus im Nachbardorf sowie in einer 40 Kilometer entfernten Stadt, wo sie Erwerbsarbeit leistet.

Ort

Der Ahornhof liegt im ländlich-peripheren Raum Mecklenburg-Vorpommerns, nahe der Grenze zu Schleswig-Holstein. Das Dorf Zürgosen ist mit 250 Einwohner*innen sehr klein. Die Landstraße ist gesäumt von Einfamilienhäusern, vereinzelt gibt es Baracken alter Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG) aus der DDR, zu erkennen an der Betonplattenbauweise. Eine Bushaltestelle gibt es nicht. Der Ahornhof wurde Ende der 1990er Jahre als Demeterhof[9] gegründet und Anfang der 2010er Jahre aufgegeben, bevor er zum Gemeinschaftsprojekt wurde. Der Hof selbst besteht aus zwei Gebäuden: Vorn ein stattliches Bauernhaus mit Reetdach, dahinter der Ort der Gemeinschaftsarbeit, an dem gemeinsam geackert, gekocht, gesät und betreut wird. Neben einem scheunenartigen Bau mit Vordach, einem selbstgezimmerten Tresen und Sitzgelegenheiten erstrecken sich die Anbautunnel und das große Feld zum Ackern, Daneben liegt eine Obstbaumplantage. Rund um die Sitzecken blühen Stockrosen, in ihrer Nähe wurde ein Sandberg aufgeschüttet, der Kindern als Spielort dient. Im Innern der Scheune gibt es eine gut ausgestattete Industrieküche mit einem Holzfeuerofen zum Backen von Brot und Pizza sowie einen Gemüseputzraum, in dem auch die Gemüsekisten lagern.

Zeit

Die Care-Ökonomie des Ahornhofes hat zwei Kernzeiten: Das Wochenende und den Mittwoch. An diesen Tagen kommen die Mitglieder zum gemeinsamen Gärtnern zusammen. Mittwochs kochen alle gemeinsam, zur Erntezeit auch am Wochenende. Es gibt Konflikte um die Arbeitszeiten. Jedes Jahr wurde ein anderes Verfahren ausprobiert, aber die solidarische Teilung der Arbeitszeiten funktioniere nie reibungslos, so Sabine im Interview. Dieses Jahr gibt es einen sogenannten Erbsenzähler: Für jedes Mitglied wurde ein Röhrchen angebracht, in das Erbsen für geleistete Arbeitsstunden gesteckt werden. Die Röhrchen von Eva, einer Gärtnerin, aber auch der Vorstandsmitglieder, sind randvoll mit Erbsen. Der Stand der anderen Röhrchen variiert stark. Zeit spielt als Arbeitszeit eine wichtige Rolle. Andererseits ist der Zeitaspekt verquickt mit den Beziehungen zwischen Gärtnerinnen, Kindern und Vereinsmitgliedern: Während Eva und Sabine auf dem Acker beschäftigt sind, kochen die anderen Frauen ein Mittagessen und nehmen sich dabei Zeit für die Betreuung der spielenden Kinder von Eva, Anneliese und Caro. Auch die Zeiten fürs Kochen, für die Betreuung, für die Pflege der Website oder die Kommunikation mit dem Finanzamt sind Zeiten, die sich Vereinsmitglieder mit Erbsen in ihrem Röhrchen gutschreiben können. Diese Zeiten gelten als für den Verein erbrachte Arbeitszeit, da sie das gemeinsame Gärtnern überhaupt erst möglichen. Damit werden Formen (re-)produktiver Tätigkeiten, die in einer Care-Ökonomie eine wichtige Rolle einnehmen wertgeschätzt und bleiben eben nicht „unsichtbar“. In unserer Beobachtung ist die Arbeit auf dem Acker und am Kompost mit dieser indirekten Care-Arbeit verwoben.

Auch ein anderer Aspekt der Zeitlichkeit ist ein wichtiger Bestandteil der Care-Ökonomie: Es geht bei der Arbeit explizit nicht um Effizienz (Protokoll Gruppendiskussion). Die Zeit, um das Heranwachsen der Kinder begleiten oder die jahreszeitlichen Stadien des Wachstums bewusst erleben zu können, ist ebenso Kern des Tuns im Verein. All das sind Anhaltpunkte für ein Verständnis von Zeit, das mit hegemonialen Herangehensweisen und Verwertungslogiken bricht.

Motivation

Die Motivation der Mitglieder ist entscheidend für die Existenz der Care-Ökonomie auf dem Ahornhof. Ein Auszug aus einer Gruppendiskussion[10] verdeutlicht dies:

Sabine: „Wenn man das in Szenen aufteilt, ist das hier eine gewisse alternative Szene, die eine gewisse Neigung zur Natur hat, häufig auch etwas Spirituelles sucht und auch eine große Gemeinschaft, Lust auf Leute, aber auch – vielleicht gehe ich zu weit – aber auch sehr konsumkritisch.“ […]

Mitglied 1: […] „Wobei so ein Bild zu schaffen, das sagt: ‚Wir sind so ein wilder, alternativer Haufen‘, ist auch nicht ganz richtig, weil ganz viele der Mitglieder kommen aus irgendwie ganz klassischen Berufswegen, sind vielleicht Lehrer oder…“

Sabine: „Buchhalter, Architekt.“

Mitglied 1: „Da ist eine ganze Bandbreite.“

(Protokoll Gruppendiskussion)

Die Motive der Freude an der gemeinsamen Bewirtschaftung des „Gartens“ (ebd.) und der Konsumkritik werden von einem weiteren Motiv überlagert: der milieuübergreifenden Zusammenarbeit mit vielen unterschiedlichen Menschen in alternativer Vielfalt an diesem abgelegenen, ländlichen Ort. Ein weiteres Motiv ist die Bildungsarbeit, die besonders Eva in Workshops für den Verein leistet:

Eva: „Es geht darum, die Leute zu befähigen, selber ihr Saatgut herzustellen. Es gibt vier Termine im Jahr, das sind ein paar Projekte, die sich auch über das Jahr verändern. Beim letzten Mal war ganz groß Tomate das Thema. Da habe ich gezeigt, wie man Nassreinigung macht und Saatgut gewinnt. […] Es ist so ein Praxisworkshop, Grundlagen. Was ist zu beachten bei den Kulturen, und Fertigkeiten zeigen. Nächstes Mal ist die Aufbereitung vom Saatgut dran: Dreschen, Reinigen.“

(Protokoll Gruppendiskussion)

Evas Motivation als Gärtnerin und Mitglied liegt in der Anwendung ihres umfangreichen Wissens über Praktiken wie die Saatgutherstellung sowie in dessen Weitergabe. Andere zu „befähigen“ ist eine direkte Care-Praktik. Wir beobachten, dass die Gärtnerinnen Eva und Anneliese sowie Caro, die erste Vorsitzende des Vereins, die Weitergabe von gärtnerischem und ökologischem Wissen auch an ihre Kinder absichern. Dies deuten wir als weitere Motivation, da die Kinder von Eva und Caro auf dem Hof „quasi aufgewachsen“ seien (ebd.). Eva habe noch hochschwanger im Feld gestanden, dann mit dem Säugling im Tragetuch weitergearbeitet, berichten die Frauen (ebd.).

Ressourcen

Die Möglichkeit zur Care-Arbeit in einer Care-Ökonomie hängt entscheidend von den zur Verfügung stehenden Ressourcen ab. Die entscheidende Ressource ist zunächst der Acker selbst. Aufgrund seiner Lage im peripheren ländlichen Raum ist diese Ressource (noch) nicht umkämpft. Den Hof verpachtet ein Vereinsmitglied für einen symbolischen Betrag an den Verein. Ohne diese Geste der Solidarität wäre diese Care-Ökonomie nicht denkbar.

Für die Care-Ökonomie arbeiten zwei bis drei Gärtnerinnen. Eva als ein Mitglied der ersten Stunde arbeitet dabei „weit über die vereinbarten 20 Stunden hinaus“ (Interview mit Sabine). Die Gärtnerinnen können mit dem beim Verein erzielten Auskommen ihren Lebensunterhalt nur rudimentär bestreiten. Eva verdient als Selbstständige knapp 1.000 Euro im Monat (Protokoll Gruppendiskussion). Allein die Fixkosten zur Bewirtschaftung des Hofes betragen 20.000 Euro jährlich. Die Zurverfügungstellung dieser Ressourcen ist die grundlegende indirekte Care-Arbeit, die im Verein anfällt:

Annette: „Ein Punkt, den wir von Anfang an hatten, dass wir die Möglichkeiten schaffen, diese Personen finanziell auch zu tragen. Und das ist uns zum Teil gelungen, aber nicht wirklich gut. Es ist gelungen dadurch, dass wir den Verein geöffnet haben für die Fördermitgliedschaften, die dann Gemüsekisten hier einkaufen können über die Selbständigkeit [der Gärtnerinnen]. Wir haben einen Kooperationsvertrag, z.B. mit Eva, so dass sie in Eigenregie die Infrastruktur hier nutzen kann und Gemüsekisten verkaufen.“

Interviewerin: „Funktioniert das einigermaßen?“

Eva: „Jo, eigentlich schon. Also, seit diesem Jahr ist Anneliese mit dabei und dafür reicht es hinten und vorne nicht, bei uns beiden. Die [Fördermitglieder] kommen alle an einem Tag, am Freitag, da wird vormittags geerntet und da [weist in den Gemüseputzraum] bauen wir das schön auf und dann kommen die alle am Nachmittag und holen ihre Kisten ab.“

(Protokoll Gruppendiskussion)

Der Einwand, es „reiche hinten und vorne nicht“ zeigt, dass es Konflikte über die Entlohnung der aufwändigen händischen Gartenarbeit gibt. Die Vereinsmitglieder widmen sich auf zwei Ebenen der Vorsorge: erstens der nachhaltigen Natursorge, und zweitens in einem generationenübergreifenden, finanziellen Füreinander-Sorgen-Wollen. Diese Aufgaben der Care-Ökonomie, um einer Ausbeutung entgegenzuwirken, leisten Sabine und Annette als indirekte Care-Arbeit. Damit ist die Zeit, die den Mitgliedern zur Verfügung steht, eindeutig die zweitwichtigste Ressource in der Care-Ökonomie.

Beziehungen

Auf dem Ahornhof gibt es drei Ebenen von Care-Beziehungen. Erstens die Vernetzung als übergeordnete Care-Ökonomie mit lokalen Akteur*innen – wie dem lokalen Biosphärenreservat oder einem Waldkindergarten, dessen Kinder jede Woche den Ahornhof besuchen. Zudem gibt es im Sommer Camps mit Jugendlichen aus der Region, mit denen Mitglieder gemeinsam Permakulturgärten anlegen. Zweitens gibt es eine kooperierende Beziehung zwischen Annette, die erwerbsmäßig für einen Bildungsträger im Bereich Nachhaltigkeit arbeitet, und den Gärtnerinnen auf dem Ahornhof. Letztere versorgen über diese Beziehung Schulen und Bildungsträger im gesamten Bundesland mit ihren selbstgezogenen Setzlingen. Ihre Care-Arbeit wird ökonomisch in Wert gesetzt, kommt aber Kindern und Lernenden wiederum als Erleben nachhaltigen Gemüseanbaus zugute. Mit anderen Worten: Diese Kooperation irritiert die Trennungslinie zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit, aber auch idealisierende Vorstellungen, die eine Care-Ökonomie als fein säuberlich abgetrennt von und außerhalb einer marktwirtschaftlichen Sphäre operierend imaginieren. Dies sorgt wiederum für Konflikte in den Beziehungen innerhalb des Vereins. Diese beschreiben als dritte Ebene der Care-Beziehungen die Kommunikation zwischen den Mitgliedern. Auf die Frage, ob das Fortbestehen des Vereins über das wirtschaftliche Element abzusichern sei, antwortet Sabine:

Sabine: „Das sind die Dauerthematiken, ob man das als Entfremdung [wahrnimmt]. Für mich ist es das nicht, weil, ich bin aber auch wirtschaftlich anders abgesichert, von daher, finde ich ist das für die Hauptbeteiligten total wichtig, dass die davon leben können. Und das nicht Ehrenamt mit so einer Selbstausbeutung einhergeht […] Von irgendwas musst du eben leben können außer eben Salat.“

Annette: „Und Luft und Liebe.“

Interviewer: „Aber es gibt keinen Konflikt darüber in der Gruppe?“

Annette: „Doch.“ [Alle: „Ja.“]

Sabine: „Ja, ja!“

Interviewer: „Und was ist die andere Position?“

Sabine: „Das sind hier die Realos und die Fundamentalos, um das mal so….“

Interviewer: „Und was ist das Argument?“

Sabine: „Ja, völlig dem Ideal verhaftet, dass… Ich glaube, dass sie da keinen Betrieb hier haben wollen, dass dann die Stimmung verloren und kaputt geht. Ihnen geht es um das Gemeinschaftliche und die gute Stimmung hier, und sie sind zwar einerseits damit einverstanden, dass die Hauptbeteiligten damit Geld verdienen, aber irgendwie…“

Eva: „Nicht bereit, mehr zu zahlen.“

Sabine: […] „Über diesen Schritt gab es beträchtliche Diskussionen.“

(Protokoll Gruppendiskussion)

Alle Beteiligten der Gruppendiskussion sind sich darüber einig, dass es einen Konflikt über die Entlohnung der Gärtnerinnen gibt. Annette und Sabine beschreiben in dem Konflikt zwei politische Lager, ein realistisches und ein fundamentalistisches. Dahinter kommt eine Hierarchisierung zwischen aktiven und passiven Vereinsmitgliedern zum Vorschein, die die beiden vornehmen. Infolge einer Aussprache über die konflikthafte Frage, ob der Verein die ehrenamtliche Selbstausbeutung der „Hauptbeteiligten“ weiter tolerieren soll oder ob eine weitere Verbetrieblichung zu einer Entfremdung der Arbeit der Vereinsmitglieder führe, traten einige Mitglieder aus dem Verein aus. Die Solidarität, die Annette, Sabine und andere den Gärtnerinnen erweisen, wird nicht von allen geteilt:

Eva: „Letztes Jahr hatten wir dieses Treffen mit dem ganzen Verein, und bei mir hat das eine Erschütterung ausgelöst, so: ‚Oh man, für wen mach ich das eigentlich hier alles?‘ Das war echt übel so, weil die so laut waren, in dem Unverständnis, dass es notwendig ist, hier auch etwas zu schaffen, womit man Geld verdienen kann. Und dann nicht nur ich, auch Caro, Anneliese und so weiter.“

(Protokoll Gruppendiskussion)

Die Erschütterung der Beziehungen zwischen den Vereinsmitgliedern und den „Hauptbeteiligten“ wirkt bis heute nach. Die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Lagern waren zur Zeit der ethnographischen Erhebung eingefroren.

Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Hierarchien

Die Geschlechterverhältnisse innerhalb des Vereins sind davon bestimmt, dass mehr als die Hälfte der Mitglieder Frauen* sind. Im Verein sind Menschen aus allen Milieus und Altersgruppen vertreten („Vom Arzt bis zum Zimmermann“, ebd.). Das Ringen um die zukünftige Ausrichtung der Gemeinschaft vollzieht sich auch über eine unterschwellige Hierarchisierung zwischen viel arbeitenden und wenig arbeitenden Vereinsmitgliedern. Dies fordere die Care-Ökonomie auf dem Ahornhof als eine bedürfnisorientierte, sorgsame Ökonomie heraus, so Annette: „aber dennoch ist es so, dass es zwei, drei Mitglieder gibt, Eva und Anneliese sind zwei davon, die hier ein großes Haupttätigkeitsfeld in ihrem Leben haben und die hier sehr viel Ehrenamt leben.“ (ebd.)

Das Ehrenamt zu leben, bedeutet in der Care-Ökonomie, dass die Akteurinnen versuchen, in der Care-Ökonomie alternative Arbeits­modelle jenseits von leistungsorientierter Lohnarbeit zu etablieren. Diese Neuausrichtung stößt jedoch an Grenzen, wie die erwähnte Hierarchisierung zeigt.

Normen

Sabine: „Das Ganze hat auch etwas Idealistisches. Es ist nicht so, dass die Leute, die hierherkommen, Gewinnabsichten haben wie in einer Firma, sondern man kommt hierhin, weil man den anderen trifft, weil es etwas Meditatives hat oder zur Entspannung beiträgt. Oder weil man einfach das Gefühl hat: ‚Ich kriege gutes, frisches Gemüse und nicht um die Welt gekarrt. Ich verarbeite das selber vom Samenkorn bis zur Ernte.‘“

(Protokoll Gruppendiskussion)

Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und die in erster Linie uneigennützige Gemeinschaftsarbeit sind geteilte Normen der Care-Ökonomie auf dem Ahornhof. Dennoch fördert der genannte Konflikt auch unterschiedliche Normvorstellungen innerhalb der Gemeinschaft zutage: Dem Verständnis von Sabine, Annette und Eva zufolge geht es darum, dass die Gärtnerinnen gerecht entlohnt werden und mit der Entlohnung für das, was sie dem Verein geben, finanziell vorsorgen können. Andere Vereinsmitglieder vertreten hingegen die Vorstellung eines solidarischen Gärtnerns unter Gleichen. Ihrem Verständnis einer solidarischen Care-Ökonomie nach sollte es keine Hierarchien geben. Daher sollte auch niemand etwas verdienen. Geringere Ernteerträge stellen aus dieser Perspektive kein Problem dar. Der dabei unausgesprochene Konfliktpunkt ist der unentlohnte Mehrwert, den Eva und Anneliese aus ihrer Arbeit für den Verein ziehen können: Es ist die nicht-entfremdete Arbeit in der gemeinsamen Produktion[11] gesunder Lebensmittel, die Vereinsmitglieder als freiwilligen Beitrag leisten, während alle anderen einer am Arbeitsmarkt orientierten Lohnarbeit nachgehen.

Abhängigkeit

Die Gärtnerinnen sind von Entscheidungen des Vereins über dessen weitere Ausrichtung abhängig. Eva ist als Selbstständige im „Konstrukt Ahornhof“ (Protokoll Gruppendiskussion) gleichsam Mitgründerin des Arbeitgebers als auch Lohnabhängige. So zeigt sich in der Care-Ökonomie deutlich die Abhängigkeit von Lohnarbeit in der sie umgebenden kapitalistischen Marktwirtschaft.

Direkte und indirekte Care-Praktiken: Verwobenheiten in der Care-Ökonomie

Direkte Care-Praktiken, die in der Care-Ökonomie des Ahornhofes vorgefunden wurden, sind Säen, Kultivieren, Ernten, Befähigen, Betreuen (der Kinder). Darüber hinaus stellen die Mitglieder Saatgut selber her und erhalten es lebendig, dreschen und reinigen es, bauen eine Saatgutbörse für alte Sorten auf, kochen und essen gemeinsam. Indirekte Care-Praktiken sind Fertigkeiten zeigen (z. B. in Workshops), sich weiterbilden (vereinsrechtlich, betriebswirtschaftlich), finanziell und ökologisch vorsorgen, kooperieren und Konflikte moderieren.

Diese Praktiken zeigen ein Verweben von indirekten und direkten Care-Praktiken (etwa der Herstellung von Lebensmitteln mit der Betreuung von Kindern). Genauso bringen die zur direkten Care-Arbeit zählende ökologisch-dynamische Erzeugung von Nahrungsmitteln sowie deren Verkauf eine Irritation des Verhältnisses zwischen reproduktiven und produktiven Tätigkeiten mit sich, indem die Praxis der Gärtnerinnen die beiden Sphären der Reproduktion und der Produktion miteinander verwebt. Formen reproduktiver Tätigkeiten werden in der Care-Ökonomie als Arbeitszeit wertgeschätzt. Auf diese Weise wird die kapitalistische Differenzierung in produktive und reproduktive Arbeit im Sinne der Kategorie der „(Re)Produktivität“ (Hofmeister et al. 2021) irritiert.

Die Irritationen des hegemonialen, hierarchischen Verhältnisses zwischen Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit sowie der in der Landwirtschaft üblichen Geschlechterhierarchie (vgl. Wember/Reusch 2021) durch eine weiblich dominierte landwirtschaftliche Ökonomie lesen sich als wichtiger Beitrag, um starre Denkmuster über ländliche Räume aufzubrechen. Zugleich wirken sie durch ihre transformative Praktik in den ländlichen Raum zurück. Auch das alternative Verständnis von Zeit sowie die bewusste Entscheidung der Handelnden gegen Effizienz und Zeitdruck, die hegemonialen Denkweisen widerspricht, kann als Element einer transformativen Praktik in der vorgefundenen Care-Ökonomie betrachtet werden.

Die Ergebnisse der Fallstudie untermauern meine These, dass solche transformativen Praktiken, die bisher vor allem in Städten vermutet wurden (Schneidewind 2020), auch in peripheren ländlichen Gebieten in Ostdeutschland zu finden sind. Kritisch anzumerken ist die Gefahr einer Re-Romantisierung von Ländlichkeit durch die Praktiken der Akteur*innen. Romantisierende Bilder und Ideale eines ländlichen Idylls (Maschke/Mießner/Naumann 2021: 37) transportiert etwa der zitierte Verweis auf die hochschwanger auf dem Feld arbeitende Eva. Die anhaltenden Konflikte um eine angemessene Bezahlung, die bis zur Spaltung der Gemeinschaft führten, zeigen jedoch, dass Care-Ökonomien nichts mit solchen Imaginationen ländlicher Idylle zu tun haben.

4. Fazit: Care-Ökonomien zwischen solidarischen Praktiken und widersprüchlichen Entwicklungen

Dörfer und Kleinstädte wurden von der kritischen, emanzipatorischen Stadtforschung lange Zeit vernachlässigt (vgl. ebd.). Dabei sind Entwicklungen in ländlichen Räumen für diese Forschung ebenfalls von Interesse. Der Artikel konnte ansatzweise die Konturen und Konflikte solidarischer Care-Ökonomien im ländlichen Raum nachzeichnen. Diese bedürfen jedoch weiterer Erforschung. Die gefundenen Praktiken zeichnen das Bild einer Care-Ökonomie, die mit sorgenden und (re-)produktiven Praktiken experimentiert und dabei Konflikten ausgesetzt ist, die sich bei der Suche nach alternativen Modellen von Arbeit ergeben, zumindest solange nicht alle Mitglieder der Care-Ökonomie von deren Strukturen leben können. Die Care-Praktiken der hier geschilderten Mikroökonomie des Ahornhofes erzählen jedoch von einer Care-Ökonomie, die als Lernort, als Kulturgut und als generationenübergreifende Gemeinschaft Räume für transformative, experimentelle Praktiken in ländlichen Räumen eröffnet.