sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(1/2), 97-126

doi.org/10.36900/suburban.v11i1/2.832

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0

Ersteinreichung: 1. August 2022

Veröffentlichung online: 15. Juni 2023

Kämpfe um Autonomie und Commons des Ankommens

Urbane Infrastrukturen und Infrapolitiken der Arbeitsvermittlung

Mouna Maaroufi

Der Artikel beschäftigt sich mit Veränderungen in der Vermittlung und Verhandlung von Arbeit seit dem Sommer der Migration 2015. Am Beispiel von Berlin und Potsdam werden die zunehmende Vielfalt und Verknüpftheit von Vermittlungsakteur*innen wie Arbeitsagenturen, Job Center, Bildungs- und Beratungsträgern und Leiharbeitsfirmen aufgezeigt. Diese Akteur*innen werden in Form von Infrastrukturen dargestellt, die zwischen staatlichen, privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Interessen vernetzen und vermitteln. In ihren Funktionen der Extraktion von Informationen, der Aktivierung und Disziplinierung von Arbeitssuchenden, der (Im-)Mobilisierung von Arbeitskräften und der Bewertung oder Abwertung von Fähigkeiten hat ihre Intervention Auswirkungen auf die Konkretisierung von lokalen Arbeitsteilungen und Arbeitsbedingungen. Auf diese Transformationen reagieren Geflüchtete mit Infrapolitiken, durch die sie versuchen, sich in den Infrastrukturen des Ankommens und der Arbeitsmarktteilhabe im städtischen Raum Autonomie zu erstreiten. Insofern werden Infrastrukturen der Arbeitsvermittlung auf viele unscheinbare Weisen von Arbeitenden und Arbeitsuchenden verweigert oder angeeignet, wodurch Verhandlungs- und Mobilitätsmacht auf dem Arbeitsmarkt gestärkt werden kann. So argumentiere ich, dass vermittelnde Infrastrukturen von Arbeit räumlich sowie politisch zu wichtigen Orten der Begegnung, des Austauschs und der Aushandlung werden und somit als Commons des Ankommens dienen können.

An English abstract can be found at the end of the document.

1. Einleitung

Akteur*innen der Arbeitsmarktteilhabe sprechen von einer unübersichtlichen Landschaft, wenn nicht sogar von einem Dschungel, wenn sie den Weg beschreiben, den Geflüchtete sich seit dem Sommer der Migration durch lokale Arbeitsmärkte bahnen.[1] Denn in Reaktion auf das kollektive Überwinden des europäischen Grenzregimes im Sommer 2015, aber auch angestoßen durch den Arbeits- und Fachkräftemangel, wurden in den letzten Jahren vielfältige Formen der Arbeitsvermittlung ausgebaut. Diese Verbildlichungen legen ein unkoordiniertes und willkürliches Wachstum dieser Akteur*innenlandschaft nahe. Dies ist jedoch wegen der zugrunde liegenden interessengebundenen Aushandlungen nicht ganz passend. Vermehrt fassen Forscher*innen die komplexen Verflechtungen zwischen staatlichen Institutionen, ökonomischen Interessen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen mit dem Konzept der Infrastruktur. So auch in der Migrationsforschung, in der Infrastrukturen als wesentlich für die Organisation, Regulation und Kontrolle von Mobilität verstanden werden (Xiang/Lindquist 2014). Am Beispiel von Berlin und Potsdam zeigt dieser Artikel die zunehmende Vielfalt und Verknüpftheit von Akteur*innen der Arbeitsvermittlung wie Arbeitsagenturen, Jobcenter, Bildungsträger, Beratungsstellen oder Leiharbeitsfirmen auf. Ich verstehe diese Akteur*innen als Teil von Ankunfts- und Migrationsinfrastrukturen, da sie aus Institutionen, Technologien und Menschen bestehen, die die Bedingungen und Möglichkeiten des Ankommens prägen und ändern. In ihren Funktionen – der Extraktion von Informationen, der Aktivierung und Disziplinierung von Arbeitssuchenden, der (Im-)Mobilisierung von Arbeitskräften sowie der Bewertung oder Abwertung von Fähigkeiten – wirken sie auf Arbeitsteilungen und Arbeitsbedingungen ein.

Um die urbane Aushandlung dieser Infrastrukturen der Arbeits­vermittlung, die Arbeitsmärkte in Ankunftsstädten mitgestalten, geht es in diesem Aufsatz. Ich argumentiere, dass die zunehmende, wenn auch „differenzielle Inklusion“ von Geflüchteten sowie der politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Einsatz für Arbeitsmarktteilhabe weitreichende Folgen für Machtverhältnisse auf Arbeitsmärkten haben (Mezzadra & Neilson 2013: 159). Laut René Kreichauf, Olivia Rosenberger und Paul Strobel (2020) wurde noch nicht ausreichend erforscht, wie Infrastrukturen der Ankunft intern operieren und funktionieren, inwiefern externe Faktoren, etwa Regulationen oder institutionelle Strukturen, auf sie einwirken und inwieweit sie in Ankunftsstädten migrantische Kapazitäten beziehungsweise Handlungsmacht einschränken oder erweitern (ebd.: 45). Diese Fragen stellen sich meiner Meinung nach erst recht für die Arbeitsvermittlung. Diese ermöglicht und reguliert Migration nicht nur, sondern ist auch eng mit der Strukturierung lokaler Arbeitsmärkte, mit globalen Arbeitsteilungen sowie der Subjektivität und den Kämpfen von Arbeitenden verknüpft.

Den genannten Fragen nach den Funktionen und dem Funktionieren dieser Infrastrukturen gehe ich anhand der Verflechtung lokaler Arbeitsmärkte mit globalen Arbeitsteilungen nach. Meine empirische Analyse wirft schwerpunktmäßig die Frage auf, inwiefern Geflüchtete solche Infrastrukturen verhandeln, sie verweigern oder sie sich aneignen und insofern auf sie einwirken. Dazu analysiere ich empirisches Material, das ich bei Interviews und teilnehmenden Beobachtungen in Berlin und Potsdam erhoben habe. Gleichzeitig verorte und verankere ich meine Analyse in theoretischen Debatten wie dem Ansatz der Autonomie der Migration und daran anschließenden Analysen mobiler und urbaner Commons. Dabei beziehe ich Autonomie und daraus entstehende Commons nicht auf kollektive Praktiken der Mobilität oder „räumlichen Ungehorsam“ auf Fluchtrouten (de Genova/Garelli/Tazzioli 2018: 254, Übers. d. A.). Stattdessen verstehe ich darunter auch die gemeinsame Verhandlung der Bedingungen der Ankunft sowie Teilhabe im Kontext prekarisierender und rassifizierender Asyl- und Arbeitsregime. Durch die Aneignung solidarischer Beziehungen, Infrastrukturen und Informationen können Geflüchtete ihre „Autonomie des Asyls“ stärken und „Commons des Ankommens“ schaffen (ebd.: 243; Avraham/Kubaczek 2018: 63). In diesem Sinne argumentiere ich, dass im Kontext einer Krise der sozialen Reproduktion vermittelnde Infrastrukturen von Arbeit räumlich sowie politisch zu wichtigen und umkämpften Orten – und möglicherweise Commons – des Ankommens werden.

Nach einigen Anmerkungen zur Methode führe ich im ersten Teil in den Forschungsstand zu Infrastrukturen der Arbeitsvermittlung ein. Im zweiten Abschnitt analysiere ich Neuerungen in Arbeitsverwaltungen, bei Bildungs- und Maßnahmenträger*innen sowie in arbeitgeber*innennahen Einrichtungen in Berlin und Potsdam und ordne diese stadtpolitisch ein. Der dritte Teil richtet den Blick dann auf die Praktiken von Geflüchteten in ihrer Navigation, Verweigerung und Verhandlung dieser Infrastrukturen. Diese betrachte als Infrapolitiken. Abschließend diskutiere ich, ob und inwiefern durch solche Infrapolitiken urbane Commons des Ankommens erschaffen werden.

2. Methode

Die folgenden Analysen basieren auf 36 problemzentrierten Interviews sowie auf teilnehmenden Beobachtungen, die ich im Rahmen meiner Doktorarbeit zwischen 2017 und 2019 in Berlin und Brandenburg durchgeführt habe. Während meiner Promotion habe ich in Teilzeit als arbeitsrechtliche Beraterin von Migrant*innen in Potsdam gearbeitet.[2] Diese Beratungsarbeit hat meine Forschungsperspektive und die Auswahl einiger meiner Interviewpartner*innen[3] informiert. Sie war aber nicht Teil der teilnehmenden Beobachtungen. Diese waren fokussiert auf abgesprochene Begleitungen von Interviewpartner*innen sowie auf Veranstaltungen, bei denen Arbeitsvermittlung eine zentrale Rolle spielte, beispielsweise Jobbörsen. In meine Forschung flossen nur Fälle von Ratsuchenden ein, die ich nach Abschluss des Beratungsfalls interviewt und über meine Forschung aufgeklärt habe. Weitere Interviewpartner*innen habe ich über persönliche oder institutionelle Kontakte sowie in Ankunftsinfrastrukturen wie dem Sharehaus Refugio in Berlin-Neukölln kennengelernt. Zwölf Angestellte von Arbeitsagenturen, Jobcentern, Industrie- und Handelskammern sowie orientierenden und weiterbildenden Maßnahmen habe ich ebenfalls interviewt. Viele von ihnen habe ich in meiner Tätigkeit als arbeitsrechtliche Beraterin kennengelernt, was die Auswahl und den Zugang vereinfacht hat. Dabei haben die informellen Eindrücke, die ich als Beraterin sammeln konnte, mir geholfen, möglichst unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven einzubeziehen. Im Mittelpunkt stand die Vermittlung in Ausbildung und Leiharbeit von Geflüchteten, die Mitte der 2010er Jahre nach Deutschland kamen und trotz unterschiedlicher Aufenthaltstitel und Voraussetzungen mit Infrastrukturen der Arbeitsvermittlung in Berührung kamen. In den Interviews habe ich sie als Alltagsexpert*innen ihrer Arbeitsmarktteilhabe adressiert. Mein Interesse galt insbesondere ihrem gesammeltem und geteiltem (Gegen-)Wissen und ihrer Aushandlung der Arbeitsvermittlung und der Arbeitsverhältnisse, die sie erlebt haben.

3. Vermittlungsinfrastrukturen zwischen urbanen Arbeitsmärkten, globalen Arbeitsteilungen und autonomen Infrapolitiken

Urbane Infrastrukturen dienen seit jeher der Reproduktion von Arbeitskräften und somit der Ermöglichung kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Dies gilt für Infrastrukturen, die Subsistenz und soziale Reproduktion ermöglichen, aber vermehrt auch für Infrastrukturen der Bildung, Beratung und Vermittlung. Je nach bestehenden Arbeitsmarktbedarfen vorbereiten und vermitteln diese Arbeitskräfte. Im „Lieferkettenkapitalismus“ ist die reibungslose Zirkulation heterogener Arbeitender zwischen fragmentierten und temporären Arbeitsverhältnissen zu einem zentralen Faktor für Profite und Konkurrenz geworden (Altenried et al. 2018; Tsing 2012: 148). Insofern entspricht der Ausbau der Arbeitsvermittlung der logistischen Ausrichtung der Produktion und Reproduktion an den flexiblen Just-in-time- und To-the-point-Bedarfen globaler Lieferketten. Diese strukturellen Veränderungen, die mit der Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeit einhergehen, werden materiell durch den Ausbau von Infrastrukturen umgesetzt, die einen schnellen und passgenauen Zugriff auf heterogene Arbeitskräfte suchen.

Der Infrastruktur-Ansatz, den ich in diesem Artikel verfolge, lehnt sich an Theoretisierungen aus der Migrationsforschung an. So assoziieren Biao Xiang und Johan Lindquist (2018) Migrationsinfrastrukturen mit der Rekrutierung, Identifizierung und Dokumentation sowie mit dem Transport migrantischer Arbeitskraft. Dabei beobachten sie, dass diese Infrastrukturen zunehmend breit aufgestellt sind, kompliziert operieren und tief in das Leben, die Subjektivität und die Aspirationen von Migrant*innen eingreifen. Vermehrt werden in der Literatur auch „Ankunftsinfrastrukturen“ thematisiert, die weniger die Migration an sich, sondern eher die darauffolgenden multiskalaren Politiken und Prozesse des Ankommens und Zusammenlebens in Städten steuern (Meeus/Karel/van Heur 2019). Andere Debatten wählen den Begriff der Migrationsindustrie, der einleuchtend darlegt, dass private und profitorientierte Vermittlungsakteur*innen eine zentrale Rolle spielen bei der Ermöglichung von Migration und ihrer Verwertung (Cranston/Schapendonk/Spaan 2018; Cohen/Fogelman/Lebuhn 2022). Allerdings trifft der Begriff der Industrie weder auf weiterhin wichtige staatliche Institutionen zu, noch auf die Zivilgesellschaft oder auf Technologien, die von Datenbanken bis hin zu digitalen Tools der Kompetenzerhebung reichen. Daher fasse ich Transformationen im Arbeits- und Migrationsregime seit 2015 im Folgenden als infrastrukturelle Rekonfiguration der Arbeitsmarktteilhabe. Dabei werfe ich einen kritischen Blick auf Infrastrukturen der Arbeitsvermittlung, die – wie alle städtischen Infrastrukturen – als „heteronormativ, rassistisch sowie durch Interessen der Kapitalakkumulation […] strukturiert“ verstanden werden müssen (Hutta/Schuster 2022: 99). Gleichzeitig räumen Jan Hutta und Nina Schuster in einer aktuellen Debatte in n ein, dass Infrastrukturen beweglicher und wandelbarer sind als das, was wir unter Strukturen verstehen. Sie erlauben daher eine „wenn auch nur fragmentarische“ Erschaffung subversiver Infrastrukturen (ebd.). Bezogen auf Arbeitsvermittlung wurde der Begriff der Infrastruktur bisher kaum verwendet. Stattdessen versuchte beispielsweise Chris Brenner (2003) mit einem Netzwerkansatz das Agieren von Arbeitsvermittlungsakteur*innen und deren Eingreifen in die Effizienz von Arbeitsmärkten im Silicon Valley zu fassen. Mit dem Infrastruktur-Begriff wird meiner Meinung nach deutlicher, wie eng die Arbeitsvermittlung mit vorherrschenden Strukturen auf dem Arbeitsmarkt zusammenhängt und wie sie diese konkretisiert und festigt. Der Begriff verweist darauf, dass es sich um hintergründige Gerüste handelt, die für die Erneuerung und den Erhalt von Strukturen wie Arbeitsmärkten und Arbeitsteilungen von zentraler Bedeutung sind.

In der arbeitssoziologischen und -geographischen Literatur wurde vor allem die privatwirtschaftliche Vermittlung in Arbeit umfangreich analysiert, mit der Leiharbeitsfirmen Profite machen. Wie Peck et al. (2005: 4) feststellen, strukturieren solche Firmen Arbeitsmärkte mit, indem sie temporäre und prekäre Arbeitsverhältnisse ermöglichen und erweitern, die ohne sie sozial und logistisch nicht tragbar wären. Zudem stellt die Leiharbeitsbranche Verbindungen zwischen lokalen Kontexten und globalen Produktionsnetzwerken her. Dabei nutzt sie staatliche Regulationen sowie rassifizierte Machtverhältnisse (Gutelius 2015; McDowell/Batnitzky/Dyer 2008). Heterogenität und Ungleichheit unter Arbeitenden werden verwertet und verschärft, indem unterschiedliche migrantische Gruppen bestimmten Branchen zugeordnet, rassifiziert und gespalten werden. Im italienischen Kontext wurde die Ausbreitung der Leiharbeit jüngst mit Rassismus in Verbindung gebracht, der Zugang zu gleichwertiger Beschäftigung verhindere und zugleich prekäre und ausgelagerte Arbeitsverhältnisse durch die Zuschreibung einer minderen Produktivität legitimiere (Piro/Sacchetto 2021). Nicht zuletzt hat die Debatte um die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten dazu geführt, dass die Logistik der Vermittlung in Arbeit und damit einhergehende Rassifizierungen auch in Deutschland näher betrachtet wurden (Altenried et al. 2018; Maaroufi 2020; Birke 2022).

Rassifizierung war stets mit der Ausübung logistischer Macht verbunden. Laut Stefano Harney und Fred Moten (2013) hat der transatlantische Dreieckshandel den Anbeginn der Logistik markiert. Koloniale und imperiale Herrschaftsverhältnisse setzen die globale Hierarchisierung von Arbeitskräften fort und schaffen damit die für die kapitalistische Akkumulation notwendigen Bedingungen und Rechtfertigungen der Ungleichheit (Sarbo 2022). In Anlehnung an die Weltsystemtheorie konstatierten Serhat Karakayali und Vassilis S. Tsianos, „Rassismus sei also die Institutionalisierung der durch die internationale Arbeitsteilung durchgesetzten Hierarchien“ (2006: 59). So reproduzierten sich globale Arbeitsteilungen in den Metropolen des globalen Nordens, wo sie Arbeitsmärkte segmentierten. Die Reproduktion dieser Arbeitsteilungen erfolgt jedoch nicht unmittelbar und unvermittelt, sondern wird durch eine Vielzahl von Interessen und Interventionen bestimmt, die nicht unbedingt intentional und rational sind. Insofern bleibt die Funktionalität von Rassismus zwar widersprüchlich und dynamisch, verspricht aber weiterhin eine gewisse Steuerung von Arbeitskräften unter Bedingungen globaler Ungleichheit.

Zumindest im westdeutschen Migrationsregime spielten Vermittlung­sagenturen schon bei der Anwerbung sogenannter Gastarbeiter*innen eine Rolle. Der verwertungsorientierte Umgang mit Fluchtmigration seit 2015 ähnelt den rassistischen Logiken, die dem Gastarbeitsregime zugrunde lagen. Indem er Migrant*innen auf „brauchbare“ Arbeitskräfte reduziert, sieht er Geflüchtete nur in ihrer Nutzbarmachung für die deutsche Wirtschaft (Kourabas 2021: 19). Im Gegensatz zur Nachkriegszeit werden Migrant*innen nun in einen neoliberalisierten Arbeitsmarkt vermittelt, der durch eine „Vervielfältigung der Arbeit“ (Mezzadra/Neilson 2013: 87, Übers. d. A.) und fragmentierte Arbeitsverhältnisse und -bedingungen gekennzeichnet ist. Insofern muss die Arbeitsvermittlung auf vielfältige wie konjunkturelle Bedarfe und Interessen antworten. Derzeitige Vermittlungsinfrastrukturen verfolgen eine komplexe Logistik der passgenauen Zirkulation von Arbeitskräften, die das staatliche Migrationsmanagement unterfüttert (Altenried et al. 2018). Gezielte Anwerbungs- und Vermittlungsversuche – etwa in der Pflegebranche – sollen als eine Art logistischer und räumlicher fix für den Arbeitskräftemangel dienen. Die damit verbundenen „alltäglichen Aushandlungsprozesse“ (Kordes 2019: 564) fehlen in diesen Analysen jedoch noch.

In den letzten Jahren wurde eine Erschaffung von „Infrastrukturen von unten“ beobachtet, die sich ausschließenden und differenzierenden Migrationsregimen sowie den prekären Bedingungen sozialer Reproduktion widersetzen (Gutiérrez Sanchez 2022: 151, Übers. d. A.). Ich verbinde die Aneignung alternativer Infrastrukturen in meiner Analyse mit dem Konzept der Infrapolitiken, die sich in ihrem Eingreifen in Macht- und Gesellschaftsverhältnisse – quasi analog zu Infrastrukturen – auf untergründige und unscheinbare Akteur*innen und Aktionen konzentrieren (Marche 2012). In einer Erläuterung seines Begriffs bezeichnet James C. Scott Infrapolitiken als „vorsichtige und ausweichende Politiken“, die durch das unbemerkte tausendfache Ausüben solcher Akte dennoch große Konsequenzen haben könnten (2012: 113, Übers. d. A.). Diese flüchtigen, aber fortwährenden Infrapolitiken der Vergangenheit und der Gegenwart haben eines gemeinsam: Die Weigerung, sich auf die jeweiligen Umstände einzulassen oder sich darin einschließen zu lassen (Harney/Moten 2013). Den daraus folgenden unscheinbaren Taktiken des Entweichens, Verweigerns und Verhandelns von Arbeitsvermittlung habe ich mich mit dem Ansatz der Autonomie der Migration genähert und versuche diesen in Bezug auf die Verhandlung der Bedingungen des Asylregimes, des Ankommens und der Arbeitsmarktteilhabe weiterzuentwickeln.

Diese Debatten gehen einher mit einem zunehmenden Interesse für Commons. Der Ansatz der Autonomie der Migration hat schon vor einiger Zeit den Begriff der mobilen Commons hervorgebracht. Er verweist damit auf ein gemeinschaftliches Wesen, auf gemeinsames Wissen und auf ein daraus entstehendes Gemeinwohl, das nicht an einem Ort verankert ist, sondern sich über Migrationsrouten und transnationale sowie digitale Räume hinweg entfaltet (Papadopoulos/Tsianos 2013). Daraus ergeben sich Infrastrukturen der Flucht, der Zuflucht und der Solidarität, die Migration ermöglichen – entgegen den Versuchen, sie zu kontrollieren und einzuhegen. In den letzten Jahren wurde versucht, dieses Verständnis auf die Bedingungen des Ankommens und Verweilens in Ankunftsstädten auszuweiten. Gesprochen wird von einer „Autonomie des Asyls“ oder von „Commons des Ankommens“ (de Genova/Garelli/Tazzioli 2018: 254, Übers. d. A; Avraham/Kubaczek 2018: 63). Wie neue Theoretisierungen von Commons feststellen, müssen diese in ihren kontextuellen, prozessualen, relationalen und dynamischen Dimensionen erkannt werden (Zechner 2022). Dies bedeutet, dass die Auffassung von Commons sich je nach Lokalität, polit-ökonomischer Bedingungen und sozialer Beziehungen und Bedarfe sehr unterscheiden kann. In diesem Sinne stelle ich im Folgenden zunächst die sich rekonfigurierenden Infrastrukturen der Arbeitsvermittlung vor. Daraufhin vertiefe ich die Frage, inwiefern diese verhandelt und verweigert oder als urbane Commons des Ankommens angeeignet werden.

4. Aushandlungen lokaler Interessen und Infrastrukturen in Berlin und Potsdam seit 2015

Kommunale Migrationspolitiken wurden in den letzten Jahren hinsichtlich ihrer Möglichkeiten für progressive Teilhabepolitiken untersucht, die auf Forderungen migrantischer Proteste und Selbstorganisationen eingehen (Hess/Lebuhn 2014: 12). Die Ausrichtung dieser Politiken erkläre sich laut Schammann et al. (2021) durch mehrere Faktoren: die regierende Partei, historisch-strukturelle Umstände, lokale Strukturen der Entscheidungsfindung sowie das Einwirken von Zivilgesellschaft und Diskursen, die für eine humanitäre oder ökonomische Inklusion plädieren. Arbeitsmarktbedarfe beschreibt die Literatur als zuträglich für eine diskursive Befürwortung von Teilhabe. Meiner Meinung nach wird jedoch ihre Bedeutung für verfolgte Standortpolitiken unterschätzt. Städte wie Berlin, die sich als offen präsentieren und sich offiziell Netzwerken wie „Solidarity Cities“ (Berlin o. J.) anschließen, verfolgen damit symbolische und politökonomische Interessen, etwa eine Zuweisung von EU-Mitteln für soziale Infrastrukturen, die Ausweitung regulatorischer Mittel oder eine Bearbeitung des Arbeitskräftemangels (Kreichauf/Mayer 2021). Als Teil dieses stadtpolitischen Balanceakts kann auch der Ausbau von Infrastrukturen der Arbeitsvermittlung verstanden werden. Es galt, den institutionellen Kompromiss um ein aktivierendes und differenzierendes Arbeits- und Migrationsregime durchzusetzen und lokalen Arbeitsmarktbedarfen entgegenzukommen (Maaroufi 2020). Die Interessen Geflüchteter blieben in dieser Konfiguration weitestgehend unbeachtet. Im Folgenden beschreibe ich Bemühungen der Städte Potsdam und Berlin, Zugänge zu Arbeitsmärkten zu stärken. Diese sind für Migrant*innen zwar vorteilhafter als „lokale Politiken der Exklusion“ (Ambrosini 2021: 192, Übers. d. A), die in europäischen Städten vermehrt beobachtet werden. Dennoch müssen die geschaffenen Zugänge kritisch hinterfragt werden, da sie neoliberalen Arbeitsmarktpolitiken entsprechen: Sie aktivieren Geflüchtete auf ungleiche und rassifizierte Art und Weise für prekäre Beschäftigung. So öffnen entstehende Infrastrukturen den Arbeitsmarkt, filtern und kanalisieren jedoch auch die Arbeitsmarktteilhabe. Die Ausstattung und Ausrichtung von Infrastrukturen der Arbeitsmarktteilhabe spiegeln Arbeitskräftebedarfe in Mangelberufen wider. In diesem Sinne verkörpert die Proliferation von Infrastrukturen der Arbeitsvermittlung derzeitige „stadtpolitische Rationalitäten und Institutionalisierungen“ einer „Urbanität der Ungleichheit“ (Rinn 2018: 15). Gleichzeitig werden geschaffene Zugänge und Ressourcen zivilgesellschaftlich und von unten erkämpft und weiter (heraus-)gefordert.

Am Beispiel von Berlin und Potsdam zeige ich, dass sich Aushandlungen um Arbeitsvermittlung besonders in jenen städtischen und von Migration geprägten Räumen abzeichnen, in denen eine Vielzahl von Interessen darauf einwirkt, welche Politiken sich durchsetzen und wie Ressourcen verteilt werden. Bevor ich die handelnden Infrastrukturen und deren Rolle diskutiere, führe ich kurz die erforschten Städte ein: Berlin ist in vielerlei Hinsicht eine Ankunftsstadt, die Geflüchtete gerne als Destination wählen. Einen Asylantrag im östlichen Flächenland Brandenburg stellen Menschen hingegen meist nicht aus freien Stücken. Potsdam ist daher für die Zeit der Wohnsitzauflage[4] oftmals die bestmögliche Wahl. Gleichzeitig machen sich in Potsdam seit dem Sommer der Migration integrationspolitische Entwicklungen sowie die Ausstattung von Infrastrukturen besonders bemerkbar. In einem Brandenburger Kontext, der seit den 1990er Jahren von rassistischen Ausschlüssen und Gewalt geprägt ist, ist es bedeutsam, wenn die Landeshauptstadt Potsdam das Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ (Landeshauptstadt Potsdam o. J.) mitgründet. Gleiches gilt, wenn die Stadt im Zuge der Pandemie verkündet, Geflüchtete künftig dezentral unterzubringen. Einen weiteren Schritt zum Schutz der Rechte von Migrant*innen ergriff die Brandenburger Landesregierung, als sie 2016 die arbeitsrechtliche Beratungsstelle in Potsdam initiierte, bei der ich bis 2022 beschäftigt war. Im Vergleich zu den vielen Infrastrukturen, die insbesondere für die Vermittlung in die wachsende Logistikbranche in Brandenburg entstanden sind, lässt die Verfügbarmachung und Verstetigung der Arbeitsrechtsberatung jedoch zu wünschen übrig.

Auch in Berlin kam es seit 2015 zu einigen Veränderungen. Diese wurden maßgeblich von der Zivilgesellschaft mitgestaltet, aber auch von stadtpolitischen Interessen vereinnahmt. So verhielt es sich etwa mit der Öffnung der Förderung der Arbeitsagentur für Asylbewerber*innen, wie mir eine Mitarbeiterin des Berliner Bleiberechtsnetzwerks (Bridge), erzählte (Bridge 2017). Bridge habe seit 2014 darauf verwiesen, dass Asylbewerber*innen einen Anspruch auf Förderung hätten. Darauf habe die Arbeitsagentur nur recht zögerlich und erst nach dem Anstoß des Sommers der Migration reagiert, indem sie ihre Förderung für Personen mit guter Bleibeperspektive[5] öffnete. In der Folge intensivierte sich die Zusammenarbeit zwischen Bleiberechtsnetzwerken und der Arbeitsagentur, die zuvor bereits bundesweit im Modellprojekt „Early Intervention“ erprobt worden war. Die Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Arbeitsagentur entwarf ein Rahmenprogramm, das dazu aufrief, Willkommenskultur zu praktizieren und migrationsbezogene Potenziale zu nutzen. In den Jobcentern wurden sogenannte Asylteams gebildet, die Geflüchteten Beratung mit telefonisch zugeschalteten Dolmetscher*innen anbieten und einer präziseren Datenerhebung dienen sollten. Eine Arbeitsvermittlerin des Neuköllner Jobcenters (Jobcenter 2019) räumte jedoch im Interview ein, dass die meisten Angestellten des Jobcenters diese Dolmetschdienste nicht nutzten, da sie nur schwer mit den hohen Fallzahlen und ihrem Zeitdruck zu vereinen sei. Auch die Wirkung anderer Innovationen, etwa des digitalen Kompetenzerhebungsprogramms MySkills (Bertelsmann Stiftung 2023), auf Arbeitsbedingungen und die Arbeitsteilung blieb ungewiss. Die anhand von bild- und videobasierte Fragen erhobenen Fähigkeiten Geflüchteter führten nicht zu einer formalen Anerkennung beruflicher Erfahrungen oder einer tariflichen Eingruppierung (siehe zur Abwertung beruflicher Fähigkeiten ausführlich Maaroufi 2020).

Die Jobcenter entwickelten in Zusammenarbeit mit Bildungsträgern einige pauschale Maßnahmen, die sehr unterschiedliche Zwecke erfüllen: Von der alltäglichen Aktivierung und Disziplinierung der zur Teilhabe Gezwungenen über Berufsorientierung und Bildung bis hin zur Vermittlung in Arbeit und Praktika. In Potsdam besuchte ich mehrere Bildungsträger, die teilweise schon nach der Wende entstanden waren und vom Jobcenter geförderte Maßnahmen für Arbeitssuchende umsetzen. Dabei erzählte mir eine Lehrkraft der Maßnahme „Perspektiven für Flüchtlinge“ (PerF), dass sein Träger seit Anfang 2016 Maßnahmen für Geflüchtete anbietet. Seitdem hätten sie „immer genug Leute gehabt, die wir betreuen“ (Lehrkraft 2018). Gleichzeitig beschrieb die Lehrkraft ihre Arbeit als vom Jobcenter gesteuert. Sie haben nur wenig Handlungsspielraum, der zusätzlich durch die rassistische Ablehnung seitens Potsdamer Betriebe eingeschränkt werde. Auch in Berlin wurde mir von subtiler Ungleichbehandlung geflüchteter Auszubildender berichtet. Mein Interviewpartner Ghiath erzählte mir, dass er seine Ausbildung als Kfz-Mechatroniker aufgrund des abwertenden Verhaltens seines Ausbilders abbrechen musste. Solche Entscheidungen, keine Ausbildung zu machen oder diese aufgrund der schwierigen Bedingungen und der schlechten Bezahlung abzubrechen, frustriert Maßnahmenträger. Diese streben durchaus eine Vermittlung in langfristige Arbeitsverhältnisse an. Mit informellen Potenzialanalysen und ihrem Einwirken auf Teilnehmende und Betriebe beeinflussen Maßnahmenträger, welche Branchen und Berufe angestrebt werden und welche Arbeits- und Praktikumsplätze gefunden werden. Dabei fällt auf, dass viele Maßnahmen auf Handwerksbetriebe ausgelegt sind, die aber trotz des Arbeitskräftemangels nicht immer bereit sind, Geflüchtete einzustellen. Gleichzeitig streben auch Geflüchtete nicht unbedingt Handwerksberufe oder überhaupt eine Ausbildung an. Insofern entsprechen ihre Pläne nicht unbedingt der Laufbahn, die sich Maßnahmenträger vorstellen. In meinen Interviews mit Lehrenden der Maßnahmen klingt ein Selbstverständnis an, das darauf abzielt, Geflüchtete zu orientieren, zu motivieren und gegebenenfalls zu disziplinieren. Die Ausrichtung und Einschränkung von Berufsaspirationen wird so zu einem wichtigen Teil der Bildungs- und Beratungsarbeit. Dennoch bleibt die Rolle dieser Lehrenden umkämpft und kompromissreich. Eine Lehrkraft in einer Maßnahme für geflüchtete Frauen in Potsdam (Lehrkraft 2017) verriet mir, dass ihr die Zielsetzung, eine angeblich fehlende Arbeitsmarktmotivation bei Geflüchteten zu erzwingen, nicht sehr sinnvoll erscheint. Stattdessen versuche sie eher auf alltagspraktische und bürokratische Sorgen einzugehen und Aktivitäten zu organisieren, die Spaß machen sowie Zusammenhalt und Selbstvertrauen stärken. Auch die bereits zitierte Lehrkraft einer PerF-Maßnahme (2018) scheint auf akademische Aspirationen mancher Teilnehmender einzugehen. Wenn er entsprechendes Potenzial sieht, sei er sogar bereit, dafür kleine Konfrontationen mit dem Jobcenter auszuhalten. Für die verbreitete Skepsis, eine Ausbildung oder ein Praktikum zu beginnen, habe er wiederum kein Verständnis:

„Sie sagen: ‚Ich möchte lieber irgendwo arbeiten, wo ich Geld verdiene.‘ Aber ich versuche immer, ihnen zu erklären: Als Helfer ist man nur Arbeitnehmer zweiter Klasse, man muss oftmals die schlechtere oder die niedere Arbeit tun und man wird auch noch schlechter bezahlt. Und Intelligenz ist auch bei den Leuten vorhanden. Wir haben auch ganz hochintelligente Leute schon gehabt, die wirklich studiert waren. Natürlich haben wir denen gesagt: ‚Zur Uni zu gehen, da unterstützen wir Sie schon.‘ Wenn die nach kurzer Zeit bei uns weggehen und an die Uni gehen, ist das für die oftmals viel besser, als wenn die in irgendeinem Betrieb ein Praktikum machen würden. Da sind wir auch die allerletzten und wie gesagt, die Absprache mit dem Jobcenter ist so eng. Das Jobcenter, die knirschen dann zwar auch ein bisschen, wieder einer sozusagen, der immer noch auf der Tasche liegt.“

(Lehrkraft 2018)

Diese Unterstützung bei der Durchsetzung akademischer Aspirationen – so selektiv sie auch sein mag – ist in der Tat notwendig. Denn die Jobcenter scheinen vielen Geflüchteten – so auch Ghiath – ein Studium zu verwehren, etwa indem sie keine Deutschkurse auf C1-Niveau finanzieren, die Voraussetzung für ein Studium sind. Die interviewte Arbeitsvermittlerin erklärte mir: „Studium ist nicht primär ein Ziel, was vom Jobcenter irgendwie gefördert wird“ (Ghiath 2019). Die Frage, inwiefern Giaths Weg in den Arbeitsmarkt von lokalen und globalen Entwicklungen geprägt ist, wird später noch Thema sein. Feststellen möchte ich zunächst, dass es in Berlin und Potsdam nach 2015 zu Veränderungen kam, die vor allem die Zuständigkeit der Arbeits- und Sozialverwaltung sowie die Ausstattung von Bildungsträgern betrafen. Dadurch ergaben sich neue Zugänge und Unterstützungsangebote, die allerdings nicht für alle gleich gelten und lokale Arbeitsmarktbedarfe sowie globale Arbeitsteilungen widerspiegeln.

Neben zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, die eine Projektförderung für die Betreuung Geflüchteter erhalten, stellten sich auch arbeitgeber*innennahe Verbände auf die neuen Potenziale ein, indem sie Betriebe bei der Einstellung Geflüchteter unterstützten. Im Zuge des Sommers der Migration schuf die Industrie- und Handelskammer (IHK) in Potsdam ein „Welcome Integration Netzwerk“, das versucht, aller Ablehnung und Barrieren zum Trotz die Einstellung benötigter Arbeitskräfte durchzusetzen. Eine Mitarbeiterin der IHK Potsdam deutete an, Geflüchtete sollten die Chancen nutzen, die ihnen geboten werden, um Rassismus quasi individuell entgegenzuwirken. Sie führte aus:

„Zum einen kommt die Person aus einem anderen Herkunftsland, zum anderen weiß sie einfach nicht, wie Deutschland funktioniert. Das ist ja eh schwierig, mit einem neuen Job anzufangen, auch für Menschen, die hier aufgewachsen sind. Aber dann noch aus einem anderen Land zu kommen, überhaupt nicht zu wissen, wie funktioniert ein Büro oder wie funktioniert eine Baustelle, das ist extrem schwierig. Und die Menschen, die sozusagen schon immer so gearbeitet haben, verstehen nicht, warum die Person das nicht versteht und dann schaukelt sich so was hoch, also unabhängig davon, dass es dann noch Menschen gibt, die rassistisch sind. […] Aufgrund des Fachkräftemangels ist die Notwendigkeit von Unternehmen, die sich noch nicht so geöffnet haben, sich auch der Gruppe der Geflüchteten zu öffnen, aber einfach so groß und ich glaube, je mehr positive Beispiel man schafft, desto mehr wird das auch andere Unternehmen motivieren, mit jemandem eine Ausbildung zu versuchen, der aus einem anderen Kulturkreis kommt.“

(IHK Potsdam 2018)

In ihren Vermittlungsbemühungen bietet die IHK Potsdam Betrieben interkulturelle Schulungen an. Diese können allerdings nicht gegen tief verankerte und sich laufend fortsetzende Abwertungen ankommen, die selbst in der Beschreibung der Mitarbeiterin subtil anklingen. Mit Verweis auf globale Unterschiede stellt sie die Arbeitserfahrungen Geflüchteter als anders und somit weniger passend und produktiv dar. Durch die Beratung von Ausbildungssuchenden im Rahmen dieses Netzwerks bekam die interviewte Mitarbeiterin auch Einblicke in die ihrer Meinung nach politisch bedingten Hindernisse und Ungleichbehandlungen. Diese machten es Einzelpersonen und Gruppen, beispielsweise afghanischen Geflüchteten, unmöglich, (erfolgreich) am Arbeitsmarkt teilzuhaben. Daher bemühten sie sich um einen „kurzen Weg zur Ausländerbehörde“, um direkte Nachfragen zu stellen und auf die Ausstellung von Arbeitserlaubnissen[6] einzuwirken. Zudem ist die IHK Potsdam seit 2015 Teil eines Bündnisses für Beschäftigung in Potsdam mit über 40 Partner*innen. Auch in verschiedenen Berliner Bezirken haben sich runde Tische gebildet, an denen Akteur*innen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammenkommen. So fand der „Pankower Runde Tisch für Arbeit, Ausbildung und Integration“ reichlich Anerkennung. Diese kommunale Zusammenarbeit dient dazu, Betriebe „anzuregen, Geflüchtete auszubilden und sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen“ sowie ihre Arbeitsmarktbedarfe zu identifizieren und ihnen Informationen und Planungssicherheit zu vermitteln (Neumann 2021: 5). Weitere vermittelnde Akteur*innen setzen bei der Arbeitgeber*innenseite an, wie die 2016 in Brandenburg gegründete Betriebliche Begleitagentur (BEA) oder der von den Unternehmensverbänden Berlin-Brandenburg initiierte und kommunal geförderte Arbeitgeber*innenservice bei Arrivo Berlin. Während Arrivo Berlin die Situation Geflüchteter ohne gesicherten Aufenthalt berücksichtigt und mit Arbeitsmarktintervention darauf abzielt, Bleibeperspektiven zu schaffen, stehen beim Arbeitgeber*innenservice die Bedarfe der Unternehmen im Vordergrund. Ursprünglich angedacht, um zögernde kleine und mittlere Unternehmen bei der Einstellung von Geflüchteten zu unterstützen, verschaffen diese Vermittlungsinfrastrukturen auch Ressourcen für die Personalgewinnung und tragen den Diskurs mit, dass die Einstellung Geflüchteter eine Belastung für Betriebe darstelle.

Nach der Vorstellung der zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Akteur*innen möchte nun ich wieder den Bogen zum staatlichen Einwirken spannen. Daher schließt dieser Teil mit einem Einblick in die Logik der Jobcenter. Mein Interview mit einer Arbeitsvermittlerin bestätigte, dass diese vor allem handwerkliche Erfahrungen von Geflüchteten wahrnehmen, während sie andere Fähigkeiten mit Verweis auf Sicherheitsbedenken und deutsche Standards absprechen. Dabei stellte die Vermittlerin fest, dass es nicht zuletzt am Einwirken der Wirtschaft liege, dass Geflüchtete häufig nicht entsprechend ihrer Qualifikation eingestellt würden:

„Es gibt im Jobcenter einen Arbeitgeberservice. Das sind Arbeitsvermittler, die nah am Arbeitgeber arbeiten und im Grunde genommen mit Arbeitgebern versuchen, Jobs zu finden und da auch Kunden einladen. Und irgendwann wurde auch ein ‚Arbeitgeberservice Asyl‘ aufgebaut, die dann speziell Arbeitgeber an der Hand hatten, die bereit waren, Menschen mit Fluchthintergrund zu beschäftigen. Aber es waren nicht unbedingt immer die Stellen, die passend waren.“

(Jobcenter 2019)

Neben dem Handwerk, so die Interviewte, gäbe es vor allem im Securitybereich und in der Logistikbranche im Stadtrand Berlins, zum Beispiel in Großbeeren, „ganz, ganz viele Arbeitsplätze“ (ebd.), in die zum Teil Personen vermittelt würden, die dafür überqualifiziert seien. Die Entfernung, die schlechte Anbindung sowie die schlechte Bezahlung erklären ihrer Meinung nach den dortigen Arbeitskräftemangel. Sie erschwerten auch die Vermittlungsarbeit des Jobcenters. Zwar konzentrieren sich Infrastrukturen in städtischen Ballungsräumen, sie beliefern jedoch das Umland mit dort mangelnden Arbeitskräften. In Städten können konjunkturelle und infrastrukturelle Veränderungen, die sich später strukturell ausweiten und festigen, schneller umgesetzt werden. Sie sind auch eine Reaktion auf das Einwirken zivilgesellschaftlicher Akteur*innen. Auf diese Weise wird die neoliberale Stadtpolitik, die seit Jahrzehnten die soziale Ungleichheit antreibt, stetig weiterverhandelt.

5. Infrapolitiken der Mobilität und der Verweigerung auf dem Arbeitsmarkt

Das Entfliehen aus ausbeuterischen Verhältnissen wird in der black radical tradition schon lange als Form des Protests und als Infrapolitik rassifizierter Arbeitender bewertet (Kelley 1994). Neben solchen Infrapolitiken der Mobilität wurden auch andere unscheinbare Taktiken wie Diebstahl, Verspottung, Ungehorsam oder Sabotage beobachtet. Sie dienen in unterschiedlichen Kontexten dazu, sich diskret einen Teil ungleich verteilter Macht und Eigentum anzueignen (Marche 2012). Im Folgenden liegt der Fokus auf Infrapolitiken auf dem Arbeitsmarkt, die auf Autonomie und Verbesserungen in der Arbeitsmarktteilhabe abzielen. Dies erfolgt mittels des Vergleichens, Verhandelns, Verlassens oder Verweigerns bestimmter Arbeitsverhältnisse und -bedingungen, aber auch durch eine Umgehung der privatwirtschaftlichen Vermittlung und der staatlichen Arbeitsverwaltungen sowie stattdessen einer Aneignung und Einforderung solidarischer Infrastrukturen und Beziehungen. Diese Infrapolitiken gilt es in ihrer kontextuellen und konjunkturellen Entwicklung zu betrachten. Mit der zunehmenden Prekarisierung von Arbeits- und Lebensbedingungen hat sich die Organisierung von Arbeitenden und Arbeitssuchenden verändert. Paul Apostolidis (2019) erforschte dies für den aktuellen US-amerikanischen Kontext. Basierend auf den temporären und wechselhaften Arbeitsverhältnissen von Migrant*innen beobachtete er, „dass prekarisierte Subjekte Mobilität fürchten sowie brauchen“ (ebd.: 137, Übers. d. A). Diese Analyse teile ich. Obwohl Arbeitgeber*innen und staatliche Institutionen oft flexible, mobile und unbeständige Arbeitsverhältnisse erzwingen, verhandeln gleichzeitig prekär Arbeitende durch ihr bewusstes Ausüben von Mobilität den Arbeitsmarkt. Arbeitende nutzen, wie Gabriela Alberti (2014) argumentiert, Mobilität zwischen Arbeitsverhältnissen und Arbeitslosigkeit für ihre Interessen, um „Arbeitsmobilitätsmacht“ (ebd.: 866, Übers. d. A.) zu erlangen. Bei der Ausübung von Mobilität müssen allerdings intersektionale Machtverhältnisse abgewogen werden. Im Folgenden zeige ich, wie Geflüchtete sich trotz ihrer multiplen und migrationsbezogenen Abhängigkeiten durch eine Aneignung von Gegenwissen und Infrastrukturen Autonomie und Verhandlungsmacht in ihrer Arbeitsmarktteilhabe erstreiten.

Seit 2015 wurden einige Regulationen eingeführt, die die Vermittlung von Geflüchteten in Arbeit und Ausbildung auf drängende und disziplinierende Weise steuern. So wirken aufenthalts- und sozialrechtliche Zwänge darauf ein, dass Geflüchtete Ausbildungen aufnehmen, allen voran die Ausbildungsduldung: Sie verspricht Geduldeten – das heißt abgelehnten Asylantragstellenden – eine Verfestigung ihres Aufenthaltsstatus auch über die Zeit der Ausbildung hinaus, wenn anschließend ein adäquates Erwerbsarbeitsverhältnis besteht. Zugangsbarrieren, aufenthaltsrechtliche Unsicherheit und Zeitdruck führen in der Folge dazu, dass Geflüchtete Ausbildungen in Berufen und bei Betrieben beginnen, „die ganz, ganz händeringend Auszubildende suchen“. „Das ist dann nicht unbedingt immer freie Wahl“, wie mir eine Angestellte bei Bridge (2017) erzählt. Ob diese Ausbildungsverhältnisse anhalten, abgebrochen oder gewechselt werden, hängt wiederum von der Situation und Mobilitätsmacht der Auszubildenden ab. Auch die Vermittlung von Geflüchteten in Leiharbeitsverhältnisse erfolgt mit rechtlichem und institutionellem Druck. Meine Interviewpartner*innen berichten von der drängenden Rolle des Jobcenters. Zwar unterscheide sich diese je nach Mitarbeiter*in, dennoch bewege die Behörde viele Geflüchtete zur schnellen Arbeitsaufnahme. Zusätzlich knüpft das Aufenthaltsrecht den Anspruch auf Familienzusammenführung oder eine Niederlassungserlaubnis an eine Beschäftigung. Die strukturellen Abhängigkeiten und die „multiple Prekarität“ (Birke 2022: 55) Geflüchteter führen dazu führt, dass Mobilitätsmacht ungleich verteilt ist. Dennoch sehe ich im derzeitigen Kontext des Arbeitskräftemangels Möglichkeiten für Geflüchtete, Verhandlungsmacht auf dem Arbeitsmarkt zu erlangen. In diesem Sinne analysiere ich, inwiefern die Vervielfältigung von Infrastrukturen der Arbeitsmarktteilhabe nicht nur Zwänge von Arbeitenden verstärken kann, sondern auch zu einer aktiven Ansprache der heterogenen Infrastrukturen führt, mit dem Ziel, prekäre und ungleiche Arbeitsbedingungen zu vermeiden. Diese Aneignung von Gegenwissen und Infrastrukturen von Arbeitenden kann dazu führen, dass Arbeitgeber*innen Mobilität und Temporalität nicht mehr in ihrem Sinne steuern können (Andrijasevic/Sacchetto 2016).

Bei meiner Forschung stellte sich heraus, dass geflüchtete Leiharbeitende häufig die Erfahrung machen, über weite Distanzen hinweg entliehen zu werden. Dabei wird über den Einsatzort rassistische Ungleichbehandlung vermittelt. So wird versucht, Geflüchteten die Aufnahme schlecht gelegener oder schlecht bezahlter Jobs aufzubürden. Sie werden beispielsweise häufig an schlecht angebundene Logistikzentren im suburbanen Umland vermittelt. Auch Bewirtungsbetriebe sind aufgrund von Personalmangel auf den Einsatz von Leiharbeitenden angewiesen – seit der Pandemie umso mehr. Leiharbeitsfirmen organisieren die Mobilisierung der Arbeitskräfte und stellen dafür Infrastrukturen oder lagern die Verantwortung für Arbeitswege an Arbeitende mit wenig Verhandlungsmacht aus. Letzteres galt auch für meinen Interviewpartner David, der in einer Gemeinschaftsunterkunft am nördlichen Stadtrand Berlins wohnte, als wir uns kennenlernten. Neben einer IT-Weiterbildung, die sein Informatikstudium in Kenia aufwerten soll, arbeitete er als Leiharbeiter. Eine Agentur in Berlin-Mitte entlieh ihn an Hotels in Berlin und Potsdam. David erzählt:

„Der Fakt, dass ich Informatiker bin, hat mich auf den Boden der Tatsache geholt, als ich diesen Job als Kellner begann. Dort kannte niemand meinen Hintergrund. Niemand weiß, dass du gebildet bist. Dann macht es dein kultureller Hintergrund noch schlimmer, denn sie denken: ‚Das ist ein ungebildeter Afrikaner.‘ […] Vor einiger Zeit wurde ich in Potsdam eingesetzt und ich sage, dass die Firma mich ausgenutzt hat, denn sie wussten genau, wo ich lebe, außerhalb von Oranienburg. Von dort sind es drei Stunden nach Potsdam. Es ist ein ziemlich langer Weg und die Firma wusste dies. Zum Glück war es noch Sommer, als ich dort zuerst eingesetzt wurde. Ich habe um 17 Uhr angefangen und bin meistens um 3 Uhr morgens von dort los und hatte dann noch den ganzen Transit vor mir. Wenn man sich das jetzt im Winter vorstellt, wird es wirklich schwierig. Zudem ist Potsdam gegenüber Ausländern nicht wirklich freundlich. Ich erinnere mich an eine Nacht, in der die Temperaturen schon gesunken waren und nachts wurde es wirklich kalt. Ich musste den Transit machen und habe zweimal meine Verbindung bei Gesundbrunnen verpasst. Dann musste ich von 1 bis 4 Uhr nachts auf dem Gleis bleiben, in der Kälte. Und mir wurde klar, dass die Firma mich dorthin schickte, da niemand sonst dort arbeiten wollte. Ich fuhr drei Stunden hin und drei Stunden zurück. Also das macht wirklich keinen Sinn, sechs Stunden fahren, um sechs Stunden zu arbeiten und dann noch draußen in der Kälte zu schlafen. Ich habe ihnen dann gesagt: ‚Schaut, Potsdam mache ich nicht mehr, ich gehe dort nie wieder hin!‘ Und ich glaube, sie haben sich geändert, weil ich auf den Tisch gehauen habe!“

(David 2019)

Diese Erfahrungen waren für David lehrreich. Er erkannte, dass seine Leiharbeitsfirma unter Arbeitskräftemangel litt und die Verweigerung bestimmter Einsätze durchaus erfolgreich sein konnte. Daraufhin beschloss er, bei weiteren Verhandlungen mit der Leiharbeitsfirma die Unterstützung einer arbeitsrechtlichen Beratungsstelle in Potsdam einzufordern. In seiner Reflexion über dieses Arbeitsverhältnis, das zum Zeitpunkt des Interviews schon beendet war, beschrieb er eine weitere „große Lehre“ aus seiner Erfahrung: „Menschen in der Serviceindustrie wertzuschätzen, denn man weiß nicht, was sie im Hintergrund durchstehen“ (David 2019). Wie Davids solidarischer Bezug und Zusammenhalt mit anderen sich trotz der erfahrenen rassistischen Arbeitsteilungen und Spaltungen entwickelte, führe ich im letzten Abschnitt aus. Zunächst richte ich meinen Blick auf weitere Infrapolitiken der Mobilität, Verhandlung und Verweigerung auf dem Arbeitsmarkt.

Bei meiner Forschung begegneten mir verschiedene Formen der Verhandlung, die sich im kollektiven Austausch und in der Unterstützung bei der Arbeitssuche sowie in der direkten Aushandlung mit Betrieben und dem Jobcenter bemerkbar machen. Auffällig ist dabei der Rückgriff auf Infrastrukturen der Arbeitsvermittlung zum Zwecke des Vergleichens, Abwägens, Verhandelns oder Ablehnens von Arbeitsverhältnissen. Vermittelt über einen Berliner Jobcoach traf ich im Herbst 2018 drei miteinander verwandte syrische Geflüchtete. Sie kamen gerade von einer Schicht in ihrem Nebenjob im Lager eines Textilvertriebs am Alexanderplatz. Im Hauptjob setzte eine Leiharbeitsfirma sie fünf Tage die Woche im Logistikzentrum eines Onlinevertriebs im Osten Berlins ein. In unserem Gespräch berichteten sie mir von ihrer kollektiv gestalteten Arbeitssuche. Mithilfe von Google Maps hatten sie eine Leiharbeitsfirma nach der anderen aufgesucht und sich nach den angebotenen Einsatzorten und jeweils dort gültigen Bedingungen erkundigt. Arbeitsort und -zeit spielten dabei ebenso eine Rolle wie Urlaubstage und der Arbeitslohn. Dieser musste höher als 1.200 Euro netto pro Person sein, damit die drei einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen können. Ihr Versuch, den Stundenlohn auszuhandeln, wurde allerdings mit Verweis auf ihre Sprachkenntnisse und das niedrige Lohnniveau in Syrien abgewiesen. Daher entschieden sich die drei, neben ihrer Tätigkeit als Leiharbeiter einen zusätzlichen Minijob auszuüben. Nach dem Besuch von 30 Leiharbeitsfirmen befragten sie den Jobcoach sowie Bekannte aus migrantischen Communitys nach ihren Erfahrungen und Einschätzungen. Sie erzählten mir, dass sie bereits von einer Leiharbeitsfirma eine fristlose Kündigung erhalten hatten. Daraufhin hätten sie im Büro der Firma lautstark die Abänderung der Kündigung in eine fristgerechte eingefordert, um nicht vom Jobcenter sanktioniert zu werden.

Auch die Verstetigung des Aufenthaltsstatus erfordert eine Beschäf­tigung. So erzählte mir Ghiath, dass er, nachdem er ein Studium aufgegeben und seine Ausbildung abgebrochen hatte, viel Druck vom Jobcenter erfahren habe. Für ihn rückte das Ziel in den Vordergrund, eine Niederlassungserlaubnis zu erhalten. Über eBay-Kleinanzeigen fand er schnell eine Teilzeitstelle bei einer Leiharbeitsfirma. Diese setzte ihn bei einer Firma ein, die Außenwerbung in Städten anbringt. Es gefiel ihm, zu regelmäßigen Zeiten eingesetzt zu werden und viele Einblicke in verschiedene Berliner Bezirke zu erhalten. Nach neun Monaten erhielt er entsprechend der Regelung, die Leiharbeit zeitlich begrenzen soll, eine Kündigung. Daraufhin versuchte er eine andere Leiharbeitsfirma zu finden, die ihm relativ gute Bedingungen bot. Schließlich landete er bei einer kleinen Agentur, die sich auf ihrer Website als moderner Personaldienstleister beschreibt. Die Agentur versprach, Servicekräfte bei interessanten Events einzusetzen und sie ihr Arbeitstempo mitbestimmen zu lassen. Ghiaths Entscheidung für diese Agentur basierte auf seinen vorherigen Erfahrungen. Diese hatten sein Bewusstsein für die Intransparenz von Leiharbeitsfirmen geschärft und seinen Willen geprägt, wählerisch zu sein. Er berichtet:

„Einmal hat mich das Jobcenter [zu einer Leiharbeitsfirma] geschickt und die haben gefragt: ‚Was sind deine Vorstellungen?‘ Ich habe gesagt: ‚Ich möchte eigentlich feste Arbeitszeiten, immer morgens.‘ – ‚Ok, wir haben was für dich, du kannst morgen kommen und einfach den Arbeitsvertrag unterschreiben.‘ Dann bin ich am nächsten Morgen da und sie sagt: ‚Hier ist der Vertrag, einfach unterschreiben und du fängst nächste Woche an.‘ Ich habe gesagt: ‚Ich wollte eigentlich den Arbeitsvertrag mit nach Hause nehmen und ganz in Ruhe lesen.‘ – ‚Ah, wieso, warum?‘ […] Sie war ein bisschen enttäuscht und sauer. ‚Ok, dann machen wir es nicht mehr.‘ Ich habe gesagt: ‚Ok.‘ Sie haben gesagt: ‚Du musst unterschreiben.‘ Ich wollte nicht. Hier, wenn man unterschreibt, dann ist man wirklich am Arsch und ich habe nicht unterschrieben und gesagt: ‚Ok, dann mache ich das nicht mehr‘ und es gab Ärger mit dem Jobcenter: ‚Warum hast du das abgelehnt?‘ Ich habe nicht abgelehnt, ich wollte das eigentlich nur in Ruhe lesen, ich kannte nicht alle Gesetze und so.“

(Ghiath 2018)

Mehrere Interviewpartner berichteten mir von vergleichbaren Inter­aktionen mit Leiharbeitsfirmen. Sie klangen dabei skeptisch. Viele vermuten, dass die Leiharbeitsbranche ihre migrationsbedingte Unwissenheit und Unsicherheit gezielt ausnutzt. Ghassan (2018) etwa sagte mir: „Weil wir nichts wissen, ist es möglich, dass wir ausgebeutet werden.“ Gleichzeitig strahlen er und andere viel Skepsis, Wissen oder Gegenwissen aus, das sie veranlasst, sich stetig online oder vor Ort miteinander auszutauschen und alternative Informationen zu suchen. Ghassans Vorsicht führt auch zu aufmerksamem Zuhören. Er habe schon ein Leiharbeitsverhältnis abgelehnt, da ein dortiger Angestellter ihm dazu gratulieren wollte, dass er „verkauft“ worden sei (ebd.). Auch in Bezug auf eine Jobcenter-Maßnahme in Potsdam, an der er teilnahm, ist Ghassan kritisch: Dort hätten sie vor allem Bewerbungen für Leiharbeitsfirmen geschrieben. Als ich ihn im Rahmen eines Workshops kennenlernte, zeigte er seine Kritik vor anderen Teilnehmenden umso deutlicher. Er eignete sich die Inhalte und Infrastrukturen der Maßnahme an, um Gegenwissen zu teilen. Auf diese Weise bieten Infrastrukturen der Arbeitsmarktteilhabe auch die Möglichkeit, Wissen und Verhandlungen zusammenzubringen. Sie können dazu beitragen, kollektive Subjektivität und Solidarität zu stiften sowie Kämpfe anzustiften. Angesichts solcher kollektiven Verknüpfungen können Infrapolitiken der Arbeitsvermittlung im Lieferkettenkapitalismus an Bedeutung gewinnen. Denn die Produktion hängt zunehmend von der Verfügbarmachung von Arbeitskräften just in time and to the point ab. Anders formuliert: Die gar nicht so unkoordinierte Mobilität und Verweigerung von Arbeitenden stören die anvisierte reibungslose Vermittlung und Zirkulation von Arbeitskräften.

6. Von mobilen Commons zu urbanen Commons des Ankommens

Die bisher dargestellten Infrapolitiken erstrecken sich neben dem Migrieren auf das Ankommen und Arbeiten. Es geht darum, soziale Reproduktion bestmöglich autonom sowie gemeinschaftlich zu planen und zu realisieren, indem Geflüchtete Arbeitsverhältnisse bewusst wählen, meiden, oder aushandeln. Dabei erkennen sie den Wert gemeinsamer Quellen von Information oder Ermächtigung und suchen Beziehungen, Räume und Infrastrukturen, die als Commons des Ankommens dienen. Der Begriff der undercommons von Stefano Harney und Fred Moten (2013) ist aus meiner Sicht hilfreich, um die damit zusammenhängende Subjektivität und Solidarität zu betonen. Er bezieht sich auf ein kollektives Gedächtnis erfahrener Ungerechtigkeiten sowie der Auswege aus diesen. Dieses Vermächtnis besteht fort und ist „in den Zwischenräumen, im Untergrund flüchtig organisiert und vernetzt: eine lokale oder temporäre Form des Gemeinsamen, das oft nur für einen bestimmten Zweck existiert“ (Avraham/Kubaczek 2018: 64). Die infrapolitische Mobilisierung von Gegenkulturen wird häufig mit Praktiken Schwarzer Communitys assoziiert, die Beziehungen und Lebensweisen außerhalb des rassifizierten Kapitalismus am Leben erhalten (Kelley 1994). Ein solche Fähigkeit des Festhaltens an gemeinsamen Erinnerungen und Erfahrungen zeigt sich meines Erachtens auch in Biografien und Commons von Menschen auf der Flucht oder beim Ankommen. Entstehende urbane Commons dienen – wie schon die mobilen Commons im Transit – als Speicher kollektiver Affekte, Beziehungen und von Wissen (Papadopoulos/Tsianos 2013).

Insbesondere in krisenhaften Konjunkturen erschaffen sich Menschen „von unten“ eigene Infrastrukturen oder konstituieren sich selbst als „solidarische Infrastrukturen“ (Schilliger 2020), die dem alltäglichen Überleben dienen. Dies zeigt etwa Isabel Gutiérrez Sanchez (2022) am Beispiel von Athen als Ort des Transits und Ankommens. Die Prekarisierung von Arbeits- und Lebensbedingungen wirkt sich auf die Organisierung von Arbeitenden aus, indem sich Formen von community organizing, sozialen Kämpfen und Arbeitskämpfen miteinander verschränken. Dies findet seinen Niederschlag in aktivistischen und zivilgesellschaftlichen Commons des Ankommens, die dem kollektiven Austausch und der gegenseitigen Fürsorge dienen. Als solche urbane Commons können etwa die Besetzung des Oranienplatzes in Berlin-Kreuzberg oder das Sharehaus Refugio in Berlin-Neukölln angesehen werden, aber eben auch verschiedene Bildungs- und Beratungsangebote, die als solidarisch erlebt werden. An diesen Orten haben sich viele meiner Interviewpartner*innen gegenseitig informiert und gestärkt (Lambert/Wilcke 2015; Kreichauf/Rosenberger/Strobel 2020). Eine neu entstehende Initiative diverser Aktivist:innen und Arbeiter:innen für ein workers’ center in Berlin verweist darauf, dass viele den Bedarf an Räumen der Vernetzung und Selbst-Organisierung von prekär Arbeitenden sehen. In Potsdam ist die solidarische Infrastruktur zwar begrenzter, doch auch dort wurden in den letzten Jahren neben staatlich geförderten Angeboten einige offene und selbstorganisierte Zusammenkünfte geschaffen. Zu nennen ist etwa die Gruppe „Refugees’ Emancipation“, die am Weltflüchtlingstag 2017 vor den Landtag zog und sich dort mehrere Tage lang in Workshops rechtliche Kenntnisse aneignete und politische Forderungen stellte.

Doch Geflüchtete eignen sich nicht nur alternative und solidarische Infrastrukturen als Commons des Ankommens an, sondern versuchen auch, sich in den Infrastrukturen und unter den Bedingungen des derzeitigen Asyl- und Arbeitsregimes Autonomie zu erstreiten. In einem aktivierenden Sozialstaat, der den Zugang zu Sicherheit und Ressourcen von Potenzialen, Arbeitsmarktnähe und Bleibeperspektiven abhängig macht, werden zunehmend auch Infrastrukturen sozialer Sicherung als Commons aufgefasst und angegangen. Das legen zumindest Forderungen nach einem universellen Grundeinkommen oder „Commonfare“ nahe, die den vorherrschenden hierarchischen und disziplinierenden Wohlfahrts- oder Workfare-Ansatz ablehnen (Casas-Cortes 2014). Ich konnte beobachten, wie Geflüchtete sich für einen strategischen Rückzug in die Arbeitslosigkeit oder in eine Weiterbildung entschieden, wenn ihre Arbeitsverhältnisse unerträglich wurden. In alltäglichen Konfrontationen mit Jobcentern versuchen Geflüchtete, trotz der Tendenz zu stetiger Aktivierung und Arbeitszwang sowie in Ablehnung mancher Arbeitsverhältnisse die Sicherung ihrer sozialen Reproduktion autonom zu gestalten. Leiharbeitende lehnen entfernte Einsatzorte und schwierige Arbeitszeiten zunächst ab, um dadurch Kündigungen zu erwirken, die nicht zu einer Sperre ihrer Leistungen führen. Daraus ergeben sich Verhandlungen mit Institutionen, die in Form von Austausch und Unterstützung durch Beratungsstellen, mit Anwält*innen und Ehrenamtlichen ausgefochten werden. Ghiath erzählte mir von Problemen mit seinem Jobcenter wegen einer Weiterbildung und der Kostenübernahme für seine Miete. Diese Probleme konnte er mithilfe einer Anwältin lösen. Daraufhin eignete er sich ein sorgfältiges und selbstbestimmtes Verhalten gegenüber den Angestellten des Jobcenters an. Er versucht nun, Interaktionen mit ihnen weitgehend zu vermeiden, denn sie fragten ihn ständig: „Was machst du, was ist dein Ziel und warum bist du nicht so motiviert?“ (Ghiath 2018). Deshalb entschied er sich, seine Ausbildung ohne vorherige Absprache abzubrechen. Ihm war bewusst, dass das Jobcenter die Schuld bei ihm suchen würde. Dabei griff er einerseits auf Taktiken zurück, die ihn für Institutionen unerreichbar und unverfügbar machen, und andererseits auf staatliche Logiken und Narrative der individuellen Motivation, um seine Forderungen zu unterfüttern. Ghiath führt aus:

„Der Mindestlohn hier ist wenig. […] Man kann sich eigentlich beim Jobcenter anmelden und Sozialleistungen kriegen und es ist genauso, wie wenn man für Mindestlohn arbeitet, und das gibt den Leuten keine Motivation zu arbeiten. […] Das ist die Sache, das ist sozusagen die Schuld der Regierung.“

(Ghiath 2018)

Ähnlich argumentieren auch andere Interviewpartner*innen. Sie erkennen im Arbeitskräftemangel ein Verhandlungsmittel. Obwohl viele Verweigerungen individuell verhandelt werden, beruhen sie auf geteiltem und gemeinsamem Wissen. Dieses wird oftmals in denselben Infrastrukturen ausgetauscht, die für die Arbeitsvermittlung erdacht wurden. Solche Infrapolitiken, die seit dem Sommer der Migration vermehrt von Ehrenamtlichen unterstützt werden, entziehen sich zwar nicht den vorherrschenden Machtverhältnissen, die von hierarchisierenden und paternalisierenden Beziehungen geprägt sind. Sie können aber dennoch als präfigurierend für kollektive Subjektivierung und Solidarität angesehen werden (Karakayali 2018). Geflüchtete und Migrant*innen erleben und erkennen die rassifizierte Hierarchie und Arbeitsteilung, die selbst unter ihnen unterscheidet und spaltet. Dennoch schweißen die gemeinsamen Erfahrungen der Arbeitsmarktteilhabe sie zusammen und können so zu einer Überwindung von Differenzen führen, wie David eindrücklich erzählt:

„Er machte denselben Orientierungskurs wie ich. Ich erzählte ihm, dass ich nach einem Job suche und er teilte den Kontakt der Leiharbeitsfirma. Und so habe ich mich dort beworben und der Rest ist Geschichte. Jedenfalls, ist er dann gegangen, er hat selbst gekündigt. Er ist ursprünglich aus der Ukraine und deshalb sage ich, dieser Ort ist ein Schmelztiegel von uns. Ich meine Leute mit verschiedenen kulturellen Hintergründen. Und er ist eine sehr coole Person, er hat gekündigt, weil er ähnliche Erfahrungen mit der Firma gemacht hatte wie ich. Glücklicherweise fand er dann einen Job in einem der Hotels, wo wir eingesetzt waren. So blieb er mein Kollege, weil ich dort auch immer noch arbeitete. Der einzige Unterschied war, dass er nun direkt bei der Firma angestellt war. Das hat einen großen Unterschied gemacht, denn er war nun mein Vorgesetzter. Ich meine, wenn du einen Freund als Vorgesetzten hast, das ist wirklich cool. Ich habe mich dann darauf gefreut zu arbeiten, wenn sie mich dort eingesetzt haben, ich habe mich glücklich und sicher gefühlt.“

(David 2019)

In der wertschätzenden Beschreibung seiner Beziehung zu einem Kollegen verweist David auf die vielen Unterschiede zwischen Menschen, die sich in Integrationskursen wiederfinden und trotz verschiedener Herkünfte und Lebensläufe Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit aufrechterhalten können. Selbst als sich die Positionen Davids und seines Kollegen im Arbeitsverhältnis hierarchisieren, kann David sich auf die gewachsene Beziehung verlassen. Dadurch kann er sich eine Sicherheit bewahren, die er an anderen Einsatzorten mit rassistischen Vorgesetzten nicht verspürt. Die fortwährende Differenz wirkt sich nicht nachteilig aus, sondern beide verstehen es, diese für ihre gemeinsame Situation und ihr Wohlbefinden zu nutzen. In David wecken die Arbeitsverhältnisse, die er erfährt, auch politische Forderungen. So empfindet er es als zentral, bei unangemessenen, schlechten oder ungerechten Arbeitsbedingungen kündigen zu können, ohne dafür sozialrechtliche Sanktionen zu erleiden oder als faul abgestempelt zu werden. Er ist, wie er beteuert, nicht gekommen, um „rumzusitzen“, denn er weiß genau, „was ich hier möchte, wofür ich gekommen bin und wovor ich wegrenne“ (David 2019). Davids Fähigkeit, selbst in von Hierarchie und Spaltung geprägten Kontexten anhaltende, sorgende und solidarische Beziehungen aufzubauen, trägt sein autonomes Vorhaben des Ankommens und Weiterkommens. Autonomie liegt nicht in der Leistung, sich alleine durchzuschlagen, sondern in der Fähigkeit, sich mit anderen zu verbinden und die Realisierung von Plänen und Träumen untereinander zu verknüpfen und zu stützen (Avraham/Kubaczek 2018). Diese Fähigkeit führt schließlich dazu, dass Migration unter widrigen Umständen fortgesetzt wird und Ankommen gemeinsam verhandelt wird.

7. Schlusswort

In den erforschten Ankunftsstädten Berlin und Potsdam wurden seit dem Sommer der Migration urbane Infrastrukturen der Arbeitsvermittlung ausgeweitet und mit Ressourcen ausgestattet. Dabei spielen die Bedarfe lokaler Arbeitsmärkte eine bedeutsame Rolle, aber auch der sozialrechtliche Aktivierungsdiskurs und -druck. Dieser macht die schnelle Aufnahme von Beschäftigung zu einer Priorität. Die analysierten lokalen Interessen und die darauf ausgerichteten Infrastrukturen können nicht von einem größeren globalen Kontext gelöst werden. Dieser ist geprägt von nationalstaatlichen Regulierungsweisen, globaler Arbeitsteilung und entsprechenden Ungleichheiten und Rassismen. Zwar schaffte die von den Städten Berlin und Potsdam verfolgte Politik mehr Zugänge zum Arbeitsmarkt und zu vermittelnden Infrastrukturen. Diese können aber Prekarität, rassifizierte Arbeitsteilungen und Spaltungen verstärken und verstetigen. Geflüchtete werden vor allem in Mangelbereiche vermittelt, zudem mit wenig Rücksicht auf bestehende Erfahrungen, Kenntnisse oder Wünsche. Gleichzeitig eignen sich Arbeitende und Arbeitssuchende Infrastrukturen der Arbeitsvermittlung im städtischen Raum auf eine Art und Weise an, die Autonomie und Verhandlungsmacht auf dem Arbeitsmarkt sowie in Arbeitsverhältnissen stärken kann. In diesem Sinne erachte ich die von Geflüchteten ausgeübten Infrapolitiken der Ablehnung und Mobilität zwischen Arbeitsverhältnissen und Arbeitslosigkeit als eine Taktik, um ungleiche und prekäre Arbeitsbedingungen zu umgehen und ihnen langfristig zu entkommen. Die Erfahrungen der Vermittlung und des Austauschs, die Erkenntnis des Arbeitskräftemangels und die Erschaffung solidarischer Infrastrukturen und Beziehungen wirken sich auf eine autonome Teilhabe am Arbeitsmarkt aus. Obgleich dies nicht immer zu einer unmittelbaren Verbesserung der individuellen Arbeitssituation führt, verdeutlichen solche Infrapolitiken, die fortwährende Verhandlung und Verweigerung der derzeitigen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt und in Arbeitsverhältnissen. Diese Infrapolitiken werden durch die kollektiven Bezüge und Beziehungen erleichtert, die in Infrastrukturen der Bildung, Beratung und Vermittlung geschaffen werden und die Geflüchtete sich als Commons des Ankommens aneignen.