sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(1/2), 17-45

doi.org/10.36900/suburban.v11i1/2.836

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0

Ersteinreichung: 5. August 2022

Veröffentlichung online: 15. Juni 2023

Kommodifizierung, Fragmentierung, Auslagerung

Restrukturierung städtischer Räume und Arbeit in technologischen Experimenten mit Hausarbeit

Yannick Ecker, Anke Strüver

Vor dem Hintergrund des wachsenden Drucks auf die gesellschaftliche Organisation der Sorgearbeit und des überschüssigen Risikokapitals ist das Feld der sozialen Reproduktion zum zentralen Schauplatz der Akkumulation durch technologiegetriebene Experimente geworden. Eine Folge ist die zunehmende Kommodifizierung, Fragmentierung und Auslagerung reproduktiver Tätigkeiten wie Kochen oder Einkaufen. In der Bereitstellung solcher häuslichen Tätigkeiten als plattformvermittelte Dienstleistungen führen Unternehmen neue Logiken der Kontrolle und Koordination ein, die die Räumlichkeit, Sichtbarkeit und Bedingungen von Arbeit transformieren. In diesem Beitrag überdenken wir diese Transformationen aus der Doppelperspektive der sozialen Reproduktion und der Logistik. Statt unsere Analyse auf den Arbeitsprozess zu beschränken, der mit einer gegebenen Plattform einhergeht, fokussieren wir die multiplen Arbeitsorte, die mit der Auslagerung von Hausarbeit in das städtische Gefüge verbunden sind. Wir veranschaulichen diese Perspektive anhand zweier qualitativer Fallstudien zu gastronomischen Lieferdiensten und zum Online-Lebensmitteleinzelhandel.

An English abstract can be found at the end of the document.

1. Einleitung

Die Verschärfung globaler Krisendynamiken und wirtschaftlicher Unsicherheiten im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine läutet auch für Teile urbaner Plattform-Ökonomien ein neues – wenn auch bereits früh vorausgesagtes – Kapitel ein, da die zurückgehende Verfügbarkeit von Risikokapital den meist defizitären Geschäftsmodellen ihre Finanzierungsgrundlage entzieht. Während in der Financial Times im Juni 2022 bereits mit Häme das „Farewell to the servant economy“ angestimmt wurde (O’Connor 2022), sorgen sich andere Stimmen über die Existenzen der meist prekarisierten und nun zunehmend ihrer Arbeit entzogenen Arbeiter_innen bei Liefer- und Taxidiensten.

Die sich andeutende Krise der Plattform-Ökonomie knüpft an eine Zeit rasanten Wachstums sowie an die anhaltende Care-Krise an: Sowohl das Segment der Lebensmittellieferungen als auch der Restaurant-Bestelldienste erlebten pandemiebedingt einen enormen Schub (Polkowska 2021; Ecker/Strüver 2022; Shapiro 2022; Vecchio et al. 2022). Vor dem Hintergrund des wachsenden Drucks auf die gesellschaftliche Organisation von sozialer Reproduktion einerseits und des überschüssigen Risikokapitals andererseits können – zumindest die Bewohner_innen europäischer Großstädte – vielerorts auf widersprüchliche Weise beobachten, wie aus Teilen von Haushaltstätigkeiten wie alltäglichen Besorgungen und Kochen warenförmige plattformvermittelte Dienstleistungen geworden sind. Das Feld der Haus- und Sorgearbeit wurde dadurch zu einem zentralen Ort technologischen Experimentierens (Huws 2019; Schwiter/Steiner 2020; Altenried/Animento/Bojadžijev 2021).

Trotz dieses Booms muss das Versprechen einer kommodifizierten Auslagerung von Hausarbeit jedoch als brüchig und unvollständig betrachtet werden. Erstens, da es sich auf die zahlungskräftige Nachfrage in Großstädten beschränkt; zweitens, da sich die Auslagerung dieser Arbeit alles andere als reibungslos darstellt. Im Bereich der Restaurantlieferungen zeigen sich Spannungen in der Koordination von Fahrer_innen, Restaurants und Konsument_innen (Richardson 2020; Bissell 2020). Im Lebensmitteleinzelhandel stoßen Anbieter wie der REWE Lieferservice in der Ausweitung von Kapazitäten bei einer gleichzeitig relativ dichten Abdeckung durch den stationären Handel an die Grenzen der Logistik der arbeitsintensiven letzten Meile, sodass Kund_innen Bestelltermine gar nicht erst buchen können (Rock 2022: 242). Die Lieferarbeit in beiden Bereichen weist Gemeinsamkeiten mit weiteren Branchen der on-demand Plattform-Ökonomie auf wie Taxivermittlung, Betreuungs- und Reinigungsarbeit. Sie alle eint die Problematik der raumzeitlich äußert sensiblen Koordination von Angebot und Nachfrage sowie die ausgeprägte Relevanz körperlich und auch psychisch anspruchsvoller Arbeit (Altenried 2019; Richardson 2020; Bor 2021; Gregory/Sadowski 2021). In der Stadtforschung entfaltet sich die Debatte hierzu unter den Begriffen „Logistischer Urbanismus“ und „Plattform-Urbanismus“ (Altenried 2019; Barns 2019; Bauriedl/Strüver 2020; Shapiro 2022) und begrenzt sich häufig auf die Arbeitsverhältnisse und -bedingungen der auf beziehungsweise über die jeweilige Plattform vermittelten Arbeit (für einen Überblick s. Altenried/Dück/Wallis 2021). Diese Dienstleistungen versprechen für Teile der Bevölkerung eine Transformation der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, indem sie für einzelne Elemente von Hausarbeit eine warenförmige Auslagerung als einfache Dienstleistungsarbeit anbieten. Diese Transformation bringt neue Logiken der Kontrolle und Koordination mit sich, die sozialräumliche Praktiken über verschiedene Grenzen – bezahlt/unbezahlt, öffentlich/privat, formalisiert/informalisiert – hinweg und im Spannungsfeld gesellschaftlicher Verhältnisse wie Feminisierung und Rassifizierung reartikulieren (Altenried/Animento/Bojadžijev 2021).

Vor diesem Hintergrund fokussieren wir verschiedene Dimensionen von Arbeit, die mit der Vermittlung und Lieferung von Lebensmitteln und fertigen Mahlzeiten über digitale Plattformen als Dienstleistungen verbunden sind und zentrale Alltagselemente der sozialen Reproduktion (Einkaufen und Kochen) verändern. Damit möchten wir zu einer ergänzenden Retheoretisierung und Historisierung anregen, in der die Verschiebung von Arbeit in einem doppelten Sinne im Fokus steht: einerseits, da wir sie als Verschiebung aus dem Haushalt heraus und aus feministischer Perspektive in den Blick nehmen. Uns erscheint hier aufgrund der Logiken der Fragmentierung, Kommodifizierung, der sozialen und räumlichen Auslagerung und damit Reartikulation von (Un-)Sichtbarkeit eine Einbettung in die Theoretisierung von Hausarbeit notwendig. Andererseits fokussieren wir die Verschiebung in sozial und ökonomisch anders konnotierte Arbeitsprozesse und Räume im Bereich der einfachen Dienstleistungsarbeit. Somit gehen wir der Frage nach, auf welche Dynamiken eine solche integrierte Betrachtung der Arbeit auf der urbanen letzten Meile aus Perspektive der sozialen Reproduktion aufmerksam macht. Welchen analytischen Gewinn bietet eine Konzeptualisierung als Hausarbeit für ein Verständnis der spezifischen Dynamiken und Logiken, die die Auslagerung in den Alltag von Arbeiter_innen und ihre Arbeitsräume wie Warenlager, Supermärkte und Restaurants mit sich bringt? Und wie erweitert eine Betrachtung unternehmerischer Ansätze das Verständnis der Restrukturierung von Hausarbeit?

Um für diese Verschiebung zu sensibilisieren, greifen wir auf bestehende Forschungen zur Logistikarbeit zurück (Neilson 2012; Lyster 2016; Altenried 2019; Coe 2020) und schlagen vor, die Logistik als zentralen Kontext zu verstehen, aus dem heraus im Zuge der Plattformisierung Logiken exportiert werden und sich neu in städtische Raumproduktionen und Alltagspraktiken einschreiben (s. Abschnitt 2). Die Einbettung in die Logistik – als Erweiterung des Plattform-Urbanismus – verschränken wir mit etablierten feministischen Ansätzen zur Reproduktionsarbeit (s. Abschnitt 3). Wir veranschaulichen dies zum einen anhand einer Studie zu Lieferdiensten für Mahlzeiten in Graz, die über die Jahre 2020-2022 durchgeführt wurde. Zum anderen betrachten wir mithilfe einer jüngeren Fallstudie aus dem Jahr 2022 bereits etabliertere Modelle des Online-Lebensmitteleinzelhandels in einer deutschen Großstadt. In beiden Fällen bringen wir den vorgeschlagenen Ansatz zur Anwendung, indem wir die multiplen, von der Verschiebung (aus/in) betroffenen Räume sowie die Transformation der Arbeit bei dieser Verschiebung in den Blick nehmen (s. Abschnitte 4-6). Auf diese Weise verfolgen wir das Ziel, einen Analyserahmen zu plausibilisieren, der sich dazu eignet, arbeitsbezogene Implikationen der Restrukturierung von Hausarbeit und ihre Manifestationen in städtischen Raumproduktionen zu diskutieren (s. Abschnitt 7).

2. Restrukturierung von Hausarbeit im Logistischen Urbanismus

Der ursprünglich mit dem Bereich des Militärischen verknüpften Wissenschaft der Logistik kommt in den letzten 50 Jahren aufgrund politisch-ökonomischer Verschiebungen hin zu postfordistischen, flexiblen Akkumulationsregimen eine wachsende Bedeutung zu (Danyluk 2018; Coe 2020). Dabei gewinnt die Sphäre der Zirkulation gegenüber der Produktion an Relevanz und beginnt sich auch über den Konsumptionsprozess zu legen: „Replacing the notion that transportation is a necessity following production, logistics comes to be understood as a paradigm referring to the integrated management of the whole supply chain, encompassing the entire cycle of production, circulation and, increasingly, consumption as something to be planned and analysed“ (Altenried 2019: 117). Neben der Strukturierung von Warenketten und Produktionsnetzen rücken mit der Logistik der letzten Meile zunehmend auch Städte in den Fokus von Unternehmen, die Haushalten Entlastungen oder Komfort versprechen.

Wie Martin Danyluk (2018) verdeutlicht, ist der Bedeutungsgewinn der Logistik eng mit Krisendynamiken verbunden, da sie eine Form des spatial fix für überschüssiges Kapital anbietet. Hierzu können sowohl politisch-ökonomische Verschiebungen hin zu flexiblen Akkumulationsregimen als auch die Erschließung von Märkten und Infrastrukturen im städtischen Raum gezählt werden (Sadowski 2020). Diese Dynamiken treiben das Phänomen des Logistischen Urbanismus (logistical urbanism) in den Jahren seit der Finanzkrise 2008 weiter voran: Dieser Urbanismus umfasst die zunehmende Verknüpfung alltäglicher Praktiken mit logistischen Operationen und die Ausweitung logistischer Tätigkeiten von den Stadträndern in Richtung Stadtzentren (vgl. Altenried 2019: 116; Lyster 2016), wo er sich in Abholstationen, dezentralen Lagerhäusern und einer wachsenden Zahl öffentlich sichtbarer Lieferarbeiter_innen manifestiert.

In vielen dieser technologiegetriebenen Experimente stehen Konsument_innen und das Versprechen einer Entlastung im Haushalt im Fokus. So bieten Lieferdienste eine Auslagerung von Hausarbeit nicht nur aus der privaten Wohnung, sondern auch aus dem Bewusstsein der Konsument_innen (Hill 2020). Dies geht mit Veränderungen in räumlichen und materiellen Infrastrukturen einher. Neben der Entstehung von Geisterküchen (ghost kitchens), die ausschließlich für Lieferdienste produzieren, nehmen Lieferdienste auch Einfluss auf die Arbeitsorganisation in bestehenden Restaurants (Ecker/Strüver 2022). In Bezug auf Lebensmittellieferdienste führt der Boom der Logistik der letzten Meile zudem zur Entstehung kleiner Warenlager (dark stores) in innerstädtischen Nachbarschaften und zur Umstrukturierung bestehender Einzelhandelsfilialen, um sie auf Liefern oder Abholen auszurichten (Shapiro 2022). Insgesamt steigt so die Bedeutung von Restaurantküchen und Warenlagern als Arbeitsorte und von Tätigkeiten wie dem Kommissionieren und Liefern gegenüber dem Einkaufen oder Kochen für den Privathaushalt.

Im Kontext der Logistikarbeit der letzten Meile werden europäische Großstädte zu einem umkämpften Feld, auf das sich verschiedene mit Konzern- oder Risikokapital ausgestattete Unternehmen fokussieren (Altenried 2019: 115). Hierbei wächst die Bedeutung von algorithmischer Kontrolle und plattformgestützter Vermittlung in den Bereichen Kommissionieren und Liefern. Außerdem greifen die Unternehmen auf unterschiedliche Strategien der Fragmentierung und Abwertung zurück, um Kosten zu senken (Coe 2020). Der Begriff „digitale Taylorisierung“ beschreibt den Einsatz digitaler Technologien zur Zerlegung, Standardisierung, Quantifizierung und Überwachung von Arbeit (Altenried 2017: 183). Allerdings betrifft dies nicht nur Logistik-Arbeiter_innen. Auch Haushalte selbst werden im Zuge der Plattformisierung über digitale Schnittstellen eng in die raumzeitliche Koordination ökonomischer Aktivitäten einbezogen (Lyster 2016). Ob bei dem Amazon-Paket oder der bestellten Mahlzeit – über digitales Tracking wird der Bestellvorgang, die verrichtete Arbeit und die Übergabe der Ware überwachbarer, das heißt Hausarbeit wird in Messpraktiken eingebettet und zu einem optimierbaren, logistischen Service-Problem. Hierbei ermöglichen digitale Endgeräte eine Fragmentierung und Auslagerung bisheriger Arbeitsabläufe: Die Fragmentierung besteht darin, dass einzelne Schritte aus ihrer vorherigen räumlichen Bindung und Verknüpfung im Arbeitsprozess ablösbar werden, so zum Beispiel das Abendessen aus einem Restaurantbesuch oder der Warenverkauf aus den Tätigkeitsprofilen von Supermarktangestellten. In Bezug auf Strategien der Spaltung und Abwertung von Arbeit lassen sich unterschiedliche Phänomene beobachten. Mit Scheinselbstständigkeit und Stücklohn stützen sich Lieferplattformen für fertige Mahlzeiten beispielsweise auf kontingente Arbeit, um Risiken auszulagern und Lohnkosten zu drücken (Altenried 2019; Gregory/Sadowski 2021). Arbeiter_innen werden in solchen Ansätzen in Konkurrenz zueinander gesetzt, wobei das Gefühl von Ersetzbarkeit disziplinierend wirken soll und einzelne Tätigkeiten und Arbeiter_innen durch die Vergeschlechtlichung, Rassifizierung und Verräumlichung unterschiedliche Sichtbarkeit und Anerkennung erfahren und gegeneinander ausgespielt werden (van Doorn 2017; Loewen 2018).

Aufgrund dieser Entwicklungen schlagen wir vor, das wachsende, unternehmerische Interesse am Städtischen, das häufig unter dem Vorzeichen des Plattform-Urbanismus (Barns 2019; Lee et al. 2020; Bauriedl/Strüver 2020) diskutiert wird, um die Blickwinkel der Logistik und der sozialen Reproduktion zu erweitern. Denn während es im Plattform-Urbanismus vorrangig um neue städtische Raumnutzungen und -produktionen durch digitale Plattformen geht, sensibilisiert die logistische Perspektive für die Bedeutung der Verschiebung innerhalb der Triade Produktion–Zirkulation–Konsumption und bietet einen Referenzrahmen für die Übertragung von Logiken und Mitteln der plattformkapitalistischen Arbeitssteuerung.

3. Hausarbeit revisited: Kontinuitäten und Wandel von Unsichtbarkeit, Verräumlichung und Anerkennung

Die Kommodifizierung und Fragmentierung von Hausarbeit auf der letzten Meile verwischt zunehmend die sozialen und räumlichen Grenzen zwischen nicht entlohnter Reproduktions- und entlohnter Produktionsarbeit. Zudem muss sie in die historische Entwicklung von Grenzkämpfen im Kapitalismus als institutionalisierte Gesellschaftsordnung (Fraser 2016) eingebettet werden. Daher stimmen wir einerseits Lizzie Richardson (2018) zu, dass sich feministische Ansätze besonders eignen, um aktuell im Wandel begriffene Arbeitspraktiken und vor allem ihre raumzeitlichen Dimensionen, Flexibilisierungs- und Prekarisierungsmodi zu erfassen und zu verstehen. Andererseits spielt für uns die Historisierung von Entwicklungslinien der räumlichen, zeitlichen, vergeschlechtlichten und rassifizierten Arbeitsteilung als Teil einer feministisch-historisch-materialistischen Analyse kapitalistischer Gesellschaften eine ebenso bedeutsame Rolle. Im Folgenden stellen wir daher kurz auf Basis bestehender Erklärungsansätze von Dynamiken für den westeuropäischen Kontext die Spezifik der gegenwärtigen Phase der Veränderung von Hausarbeit heraus.[1]

Als Ausgangspunkt kann dafür die Etablierung der verräumlichten und vergeschlechtlichten Trennung von Reproduktions- und Produktionsarbeit ausgemacht werden, die vor allem auf die Industrialisierung und die damit verbundene Urbanisierung zurückgeht (Schuster/Höhne 2017; Knaus/Margies/Schilling 2021). Haus- und Sorgearbeiten wurden darin mehrheitlich zu feminisierten Privatangelegenheiten gemacht. Sie sind aber auch die Ermöglichungsbedingungen kapitalistischen Wachstums – und zwar als räumlich wie sozial verborgene Ermöglichungsbedingungen (Fraser 2016; s. auch Weeks 2011; Dowling 2021). Die Unsichtbarkeit ist neben der Feminisierung und Unbezahltheit von Reproduktionsarbeit – sowie der generellen Leugnung der kapitalistischen Abhängigkeit von dieser Ermöglichung – die Voraussetzung der Mehrwertproduktion; sie bilden damit das Rückgrat jeder (kapitalistischen) Gesellschaft. Als zweite Dynamik kann im 20. Jahrhundert die Dekommodifizierung durch den sich vielerorts entwickelnden Wohlfahrtsstaat ausgemacht werden, womit in der wohlfahrtsstaatlichen Literatur die zur Reproduktion nötige sinkende Abhängigkeit vom Markt bezeichnet wird (Huws 2019; Fraser 2016). Denn während im liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts Haus- und Sorgearbeiten als feminisierte Privatangelegenheiten galten, entwickelten sich spezifische Anteile im staatlich gesteuerten Kapitalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der an ihn gekoppelten Vorstellung von öffentlicher Versorgung zu wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungen. Das heißt, Sorgearbeiten wie Kinderbetreuung und Krankenpflege wurden als entlohnte und öffentliche Tätigkeiten externalisiert – auch wenn sich das Ausmaß dieser Dynamik in unterschiedlichen Wohlfahrtsregimen unterscheidet.

Im neoliberalen Kapitalismus des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts kommt es erneut zur Restrukturierung von Reproduktionsarbeit. Zum einen befördern die aus Kostengründen betriebene Neuausrichtung westlicher Wohlfahrtsstaaten auf das „Adult-Worker-Model“ (Lewis 2001) und die sinkenden Einkommen und abnehmende Arbeitsplatzsicherheit, dass immer mehr Frauen (und vor allem Mütter) außerhalb des Haushalts erwerbstätig und für den Familienlohn mitverantwortlich werden, ohne dass sich eine Gleichverteilung der häuslichen Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern etabliert hätte (Fraser 2016). Die Sparmaßnahmen in Bereichen wie Gesundheits- und Familienpolitik resultieren in der gleichzeitigen Entwicklung von Reprivatisierung als Familialisierung (d. h. individuelle Verantwortung, sogenannte Familienarbeit) und Reprivatisierung als intensivierte Kommodifizierung (d. h. privat finanzierte Dienstleistungen). Aktuell wird Reproduktionsarbeit daher zunehmend vermarktlicht und Teil des freien Wettbewerbs – auf Basis der Annahme, dass es sich hierbei um unternehmerische Tätigkeiten handelt, die durch ihre Kommodifizierung effizienter organisiert werden können (Flanagan 2019).

Für den vorliegenden Beitrag möchten wir diese Entwicklung des Stellenwerts der Hausarbeit um eine vierte Phase ergänzen: Diese baut auf der neoliberalen Reprivatisierung als intensivierte Kommodifizierung auf und betont erstens die Besonderheiten von digitaler Vermittlung und Plattformisierung. Zweitens kann in dieser Phase eine spezifische Fragmentierung von Hausarbeit hin zur raumzeitlich möglichst in­stantanen Erledigung einzelner Schritte beobachtet werden – etwa der Lieferung von Lebensmitteln oder Mahlzeiten. Dies stellt im Unterschied zur öffentlichen Versorgung des Wohlfahrtsstaats eine Zuspitzung der marktförmigen Auslagerung dar. Und drittens wird in diesem Segment und in dieser Phase nicht nur die Unbezahltheit, sondern vor allem die (Un-)Sichtbarkeit neu konfiguriert: Während die veränderte räumliche Arbeitsteilung die Sichtbarkeit von Lieferarbeiter_innen im öffentlichen Stadtraum befördert, verbleiben Teile der Arbeit in der Unsichtbarkeit von Warenlagern und Restaurants.[2] Zugleich geht dies mit veränderten sozialen Grenzziehungen einher, da sich die außerhäusliche Hausarbeit auf prekäre urbane Arbeitskräfte, insbesondere Migrant_innen, stützt (Altenried/Animento/Bojadžijev 2021). Die Kategorisierung als Hausarbeit sensibilisiert für den Arbeitsinhalt und die gesellschaftliche Abwertung dieser Tätigkeiten: Indem sie als einfache Dienstleistungsarbeit gebündelt in prekäre Arbeitsmarktsegmente ausgelagert werden, sind sie Teil einer Dynamik der digitalen Unterschichtung, „bei der am unteren Rande der Arbeitssituation neue Gruppen [von Tätigkeiten und Arbeitsverhältnissen] entstehen, die Gewohnheiten und Anrechte, die im Prozess der Arbeitsteilung etabliert sind, unterlaufen“ (Staab 2014: 352; vgl. auch Schaupp 2021).

Diese vierte Phase bietet also die Gelegenheit, sich mit sozialer Reproduktion als gesellschaftlichem Strukturproblem jenseits des individuellen Haushalts auseinanderzusetzen und dafür transnationale Migrationszusammenhänge sowie neoliberalisierte Klassenverhältnisse dezidiert zu berücksichtigen: „A pattern seems to be emerging whereby the needs of time-poor households are met through the labour of the money-poor“ (Huws 2019: 20). Die historische Einbettung hilft hierbei, die Spezifität der aktuellen Restrukturierung herauszuarbeiten, die sich zwar zunehmend im öffentlichen Raum abspielt, jedoch nicht – im Sinne der zweiten Dynamik – als Ausdruck öffentlicher Verantwortung. Stattdessen bietet diese Restrukturierung im Kontext von Plattform- und Logistischem Urbanismus eine Zuspitzung der neoliberalen Auslagerung von Reproduktionsarbeit und eine Refiguration der Sphärentrennung an: Dem zahlungsfähigen Subjekt wird versprochen, den eigenen Haushalt durch die Logiken der Logistik von Teilen der Reproduktionsarbeit zu befreien.

4. Restrukturierung von Hausarbeit als relationale analytische Perspektive

Aus diesen beiden theoretischen Einbettungen ergibt sich ein geschärftes Analyseraster für die Betrachtung aktueller technologiegestützter Interventionen im Feld der sozialen Reproduktion. Da diese Interventionen Verschiebungen von Arbeit vorantreiben, schlagen wir vor, die verschiedenen Momente und Räume dieser Restrukturierungsversuche von Hausarbeit gemeinsam zu betrachten. Hieraus ergibt sich eine relationale Perspektive, welche die aktuellen Entwicklungen weniger als disruptive Neuerungen denn als Artikulationen in der Form von Fortsetzung und Übertragung begreift.

Der Blick richtet sich so erstens auf die Räume, in die Arbeit verschoben wird, und auf die Manifestationen in Form materieller Infrastrukturen und veränderter Sichtbarkeiten. Zweitens muss auf die Räume geschaut werden, aus denen die Arbeit herausgelöst wird. Hier gilt es zu fragen, für welche Haushalte diese Auslagerung von Hausarbeit angeboten wird, welche Bedeutung sie in verschiedenen Haushaltskonstellationen spielt und inwiefern sich eine Modifikation der räumlichen, vergeschlechtlichten und rassifizierten Arbeitsteilung zeigt. Außerdem gilt es drittens auf die Arbeit selbst zu schauen, da sie bei der Verschiebung den Charakter ändert: Mehrheitlich unbezahlt geleistete Hausarbeit nimmt als einfache Dienstleistungsarbeit die Warenform an und wird in prekären Arbeitsmarktsegmenten verdichtet. Durch die plattformgestützte Auslagerung wird Lieferarbeit auf körperlich und psychisch anstrengende Weise logistischer Arbeitskontrolle unterworfen, rückt aber auch in einen potenziell gewerkschaftlich organisier- und regulierbaren betrieblichen Bereich. Im Fokus stehen dabei die zu Beginn aufgeworfenen Fragen, welchen Beitrag eine solche integrierte Betrachtung der Arbeit auf der urbanen letzten Meile aus Perspektive der sozialen Reproduktion leistet, auf welche Dynamiken sie aufmerksam macht und wie sie zum Verständnis der Restrukturierung von Hausarbeit beiträgt.

Für ihre Bearbeitung greifen wir auf zwei Fallstudien zurück: Die erste ist eine Untersuchung der Lieferdienste für Mahlzeiten in Graz (AT) aus dem Jahr 2020, für die 13 problemzentrierte Interviews mit Plattform-Betreibern (VF), Gewerkschaftsvertreter_innen (GA), Restaurantbesitzer_innen (RO) und Fahrradlieferant_innen (DW) geführt wurden (s. Ecker/Strüver 2022). Diese wurde ergänzt um eine Erhebung im Frühjahr 2022 in vier weiteren Restaurants sowie eine standardisierte Befragung von knapp 100 Lieferant_innen zu den Lieferumfängen und -distanzen. Die Darstellungen zum Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland stützen sich wiederum auf die erste Phase eines zweiteiligen Forschungsvorhabens. In dieser wurden im April und Mai 2022 Beobachtungen rund um Logistik-Infrastrukturen sowie acht problemzentrierte Interviews mit Unternehmensleitungen von Einzelhandelsunternehmen (EH), Gewerkschaftsvertreter_innen (GD) und Supermarktleitungen (ML) durchgeführt. Aus Gründen der Anonymisierung von Interviewpartner_innen wird die betrachtete Großstadt als Elbstadt bezeichnet. Die Auswertung der Einzelfallstudien erfolgte jeweils auf Basis strukturierender qualitativer Inhaltsanalysen (Mayring 2015: 97 ff.).[3] Ziel ist hierbei kein regionaler Vergleich; vielmehr verbinden wir die Betrachtungen anhand des analytischen Rahmens, das heißt der Dynamiken und Logiken, die mit der Auslagerung von Hausarbeit auf der urbanen letzten Meile einhergehen. Eine solche gemeinsame Diskussion der beiden Logistik-Phänomene in Gastronomie und Einzelhandel ergibt aus unterschiedlichen Gründen Sinn – einerseits, da sie in der Branche beide als Teile des Online-Lebensmittelhandels betrachtet werden (HDE 2022: 22); andererseits hat sich die gemeinsame Betrachtung auch aufgrund ähnlicher Logiken etabliert (Shapiro 2022). Unsere Ausführungen in Bezug auf die Seite der Haushalte beschränken sich in der vorliegenden Studie auf die unternehmerischen Ansätze und darauf, wie welche Haushalte darin angesprochen werden; eine Analyse der häuslichen Arbeitsteilung aus Sicht der Haushaltsmitglieder selbst bleibt Aufgabe einer zukünftigen Analyse.

5. Gastronomische Lieferdienste in Graz

Der Bereich gastronomischer Lieferdienste ist in Graz seit 2016 durch drei unterschiedliche Plattform-Unternehmen umkämpft. Auch derzeit (Sommer 2022) gibt es mit Lieferando, Mjam und dem ökologisch orientierten Velofood drei Anbieter für die Vermittlung und Zustellung von verzehrfertigen Mahlzeiten. Was heute als Mjam und Lieferando firmiert, ging aus der Expansion und Zusammenlegung international agierender Bestelldienste hervor, die zunächst keine eigene Zustellung anboten. Velofood führte 2016 die Lieferung per Fahrrad ein, wodurch Graz einen Sonderfall darstellt, da hier ein nur lokal agierendes und zudem alternatives Unternehmen zuerst eine fahrradbasierte Lieferung anbot und sich bis heute in einem ökologisch anspruchsvollen und höherpreisigen Segment hält (Ecker/Strüver 2022).

5.1. „Verschiebung in“: öffentliche Räume, Restaurantküchen und neue Lieferinfrastrukturen

Im Zuge der Etablierung der Lieferplattformen in den letzten sechs Jahren – und der Normalisierung ihres Gebrauchs für Restaurants wie Kund_innen durch die Coronapandemie – ist ein Teil der Hausarbeit rund um das Einkaufen und Kochen als Dienstleistungsarbeit in den öffentlichen Raum verschoben worden. Insbesondere die Lieferant_innen sind aufgrund ihrer großen und bunten Transportrucksäcke im Straßenraum omnipräsent und sichtbar geworden: Mit ihnen wird Arbeit aus dem Privatraum herausgelöst und vollzieht sich in der Stadt als einem räumlich fragmentierten Betrieb, der auch Infrastrukturen wie Radwege(-netze), öffentliche Warteplätze und Fahrer_innen-Hubs umfasst. Weniger Aufmerksamkeit erfuhren bisher die (unsichtbare) Logistik und Arbeit des Zubereitens und Verpackens von bestellten Mahlzeiten in Restaurants, die sich durch die Plattformen verändert haben (Richardson 2020; Ecker/Strüver 2022). Im Fokus stehen hierbei die Probleme der Mehrarbeit beziehungsweise des stressigeren Arbeitens in den Restaurantküchen, gepaart mit ausbleibenden Trinkgeldern für Service und Küche. Art und Umfang des Stresses in der Küche sind gleichwohl – neben der Bindung der Restaurants an eine, zwei oder alle drei Lieferplattformen – an die Übertragungsformen der Bestellungen an die Restaurants und die zeitlichen Vorgaben gebunden: Denn während Velofood und Lieferando die Kund_innen-Bestellung an die Restaurants digital übermitteln und die dortige Küche entscheidet, wie lange sie für Zubereitung und Verpackung brauchen, gibt Mjam den Restaurantküchen algorithmenbasiert vor, wann eine Bestellung fertig für die Abholung zu sein hat. Gerade für die Restaurants, die mit allen drei Plattformen arbeiten, führt dies in Stoßzeiten zum „Küchenchaos“: zur Verlängerung der selbst festzulegenden Lieferzeiten via Lieferando und Velofood sowie zu längeren Wartezeiten für die Gäste im Restaurant. Selbst 2022, also nach dem initialen pandemiebedingten Boom, betonen die befragten Betreiber_innen klassischer Restaurants, dass das Zubereiten und Verpacken der Liefermahlzeiten zusätzlicher Logistik bedürfe und immer noch zu erhöhtem Stress führe, vor allem mittags und am frühen Abend. Bei den Gastronom_innen zeigt sich dabei eine differenzierte Betroffenheit: Ein interviewter Restaurantbetreiber mit hohem Qualitätsanspruch arbeitet daher nur noch mit Velofood zusammen, da sich die Lieferung nach den Kapazitäten der Küche richten müsse, nicht umgekehrt; ein Systemgastronom hingegen findet, dass sich der Algorithmus von Mjam sehr gut in die hochgradig standardisierten Organisationsabläufe einfüge.

Teil der neuen Lieferlogistik in allen Restaurants sind gleichwohl optimierte Verpackungsabläufe und Abholsituationen, die sich auf die Orte des Kochens, Verpackens und Abholens beziehen: Zu Letzteren gehören Seiteneingänge, die für die Restaurantgäste (bis auf die sich stauenden Lieferant_innen) unsichtbar bleiben. Ein Restaurant am Rande der Fußgängerzone betreibt zudem mittlerweile (2022) eine sogenannte Geisterküche nur für Lieferbestellungen. Diese befindet sich in einem seit dem ersten Lockdown 2020 leer stehenden, innenstadtnahen Lokal direkt gegenüber des Restaurants. Sie wurde eingerichtet, um die anwesenden Kund_innen nicht zu lange warten zu lassen beziehungsweise diese nicht zu verärgern, wenn sie beim Warten auf ihre eigenen Speisen der Befüllung der Lieferrucksäcke zusehen müssen. Das Problem potenziell verärgerter Restaurantbesucher_innen, die aufgrund der hohen Anzahl von Lieferbestellungen warten müssen, beschreiben auch Restaurantbetreiber_innen, die keine Geisterküche unterhalten. Diese restauranteigenen Küchenstandorte unterscheiden sich stückweit vom ursprünglichen Modell der plattformeigenen Geisterküche, das auf einer verkehrsgünstigen Lage sowie einem niedrigen Mietzins basiert und im extremen Fall sogar mehrere Anbieter in einer Küche integriert (vgl. Richardson 2020 sowie Shapiro 2022 zur Tendenz der Verlagerung in Innenstädte). Es wird also in Graz auf Restaurantseite durchaus aktiv in die Optimierung der Lieferarbeit investiert. Allerdings konzentriert sich diese Optimierung vor allem auf die räumliche Logistik des Zubereitens und Verpackens, nicht auf die Verbesserung der sozialen und ökonomischen Arbeitsbedingungen für Arbeitskräfte in der Gastronomie – ein Phänomen, das auch von der zuständigen Gewerkschaft Vida aktuell stark kritisiert wird.[4]

5.2. „Verschiebung aus“ dem Haushalt: zwischen Bequemlichkeit, Zeitknappheit und Distinktion

Trotz der mittlerweile sehr intensiven Forschung zur Plattform-Arbeit auch im Bereich der sozialen Reproduktion (Altenried/Dück/Wallis 2021) bleibt die Seite der Nutzer_innen meist unberücksichtigt, wird als Frage der Bequemlichkeit vereinfacht (kritisch hierzu s. Bissell 2020) oder auf problematische Weise aufgeladen, wenn – wie Agnieszka Leszczynski und Sarah Elwood (2022: 372) kritisieren – der Gebrauch von „on-demand meal delivery and other technocapitalist conveniences“ gar zum ethisch-politischen Maßstab wird.

In Graz haben wir im Frühjahr 2022 versucht, uns der Nutzer_innen-Seite über Kurzbefragungen von Lieferant_innen in sozialer (wer) und räumlicher (wo) Hinsicht anzunähern. In Bezug auf die Frage, wer diese Hausarbeit auslagert, ergab die Befragung, dass es sich zu 90 Prozent um Single- oder Pärchen-Portionen handelt. Die Befragung ermöglichte zudem eine erste Annäherung an die Frage der Lieferwege und -orte jenseits der von den Plattformen definierten Radien. Sie bestätigte die Aussagen von Restaurantbetreibenden, dass es sich oft um sehr kurze Lieferwege von wenigen hundert Metern handle und dass die Anzahl der Bestellungen bei Schlechtwetter stark ansteige. Auch die befragten Gewerkschaftsvertreter_innen stützen sich auf diese Bequemlichkeitsthese und nennen vorrangig jüngere Menschen sowie Alleinstehende als Zielgruppe, allerdings ergänzt um die Vermutung, dass es auch zeitökonomische Gründe für die Essensbestellungen gebe, da vielen Menschen die Zeit zum Einkaufen wie zum Kochen fehle. Angesprochen wird damit die Zeitknappheit von Haushalten, der jedoch weder auf Gewerkschafts- noch auf Restaurants- oder Unternehmensseite eine differenzierte Analyse der Ursachen zugrunde liegt. Die Ansprache der Kund_innen beim alternativen Dienst Velofood geht allerdings über ein zeitökonomisch möglichst effizientes Verfügbarmachen hinaus. Vielmehr versucht das Unternehmen, die Zahl der für die Plattform „ausgewählten“ Restaurants klein und das Angebot divers zu halten: „[P]rinzipiell geht’s am meisten darum, dass wir die Kunden haben, die ein bisschen auf Qualität achten, die dann zwar auch ihren Preis kostet, aber wenn ich nur schnell mir egal was nach dem Arbeiten reinhau’n will, dann bestell ich wahrscheinlich nicht bei Velofood.“ (VF) Die Logik ist eine des gastronomischen Erlebnisses, die Nutzer_innen eher als reflektierte Markteilnehmer_innen denn als in ihrer Selbstsorge bedrängte Subjekte anspricht. Dies spiegelt sich in Differenzierungen zwischen den Kund_innen der unterschiedlichen Plattformen wider, die sowohl seitens der Unternehmen als auch der Restaurants bemüht werden: Während die Kundschaft von Mjam und Lieferando als ähnlich gilt, wird der Unterschied zu Velofood vor allem anhand des Preises und der sozialen Distinktion der Kund_innen über Qualität und ökologischen Nachhaltigkeitsanspruch festgemacht. Die Ergebnisse legen nahe, dass in dieser klaren Bindung einer Kund_innen-Basis auch eine Erklärung für das profitable und erfolgreiche Bestehen des alternativen – und nur lokal agierenden – Lieferdienstleisters gesehen werden kann (Ecker 2022).

5.3. Normalisierung umkämpfter Arbeitsverhältnisse durch die Verschiebung

In Graz hat die Ausweitung der Lieferangebote über die drei verschiedenen Plattformen zudem eine Multiplikation der Arbeitsverhältnisse und -bedingungen der Lieferarbeit selbst mit sich gebracht (Ecker/Strüver 2022: 6 f.). Während bei Mjam die Mehrzahl der Lieferarbeiter_innen freie Dienstnehmer_innen[5] sind, arbeitet Lieferando mit Angestellten und stellt auch Dienstrad und -jacke. Velofood wiederum setzt auf nominal Selbstständige, die gleichwohl überwiegend als Studierende eingeschrieben und krankenversichert sind und so Stundenlöhne weit über denen des Kollektivvertrags für Fahrradbot_innen erzielen können. Mjam und Lieferando ähneln sich dessen ungeachtet im Umgang mit der Herausforderung der möglichst vollständigen Kalkulierbarmachung von Lieferungen durch ein System des algorithmischen Managements und der automatisierten Kontrolle, indem sie den Gesamtprozess in Einzelteile zerlegen: Bestellung/Bezahlung, Herstellung/Verpackung des Essens sowie Lieferung. Für Letzteres bekommen die Lieferarbeiter_innen eine visuelle Anrufung per App, der sie vermeintlich flexibel folgen können beziehungsweise müssen. Denn die für die Lieferauftragsvermittlung verwendeten Apps erfassen auch die Performance der Arbeitenden (Reaktionszeit sowie benötigte Lieferzeit, z. T. auch Kund_innen-Bewertungen) und schaffen damit die Datengrundlage für ihre zukünftigen Arbeitsschichten, die entlang von Performance-Rankings vergeben werden (s. auch Richardson 2020; Heiland 2021; Gregory/Sadowski 2021). Diese Kontrolle als Teil der digitalen Taylorisierung wird bei Mjam begleitet von einer Bezahlung als Stücklohn. Auch Velofood entlohnt pro Liefer-Gig und damit in Form von Stücklohn, jedoch mit einem anderen, für Fahrradkurier_innen früher üblichen System zur Koordination: Aufträge werden per Walkie-Talkie-App koordiniert. Die Kommunikation zwischen den Fahrer_innen, auch zum Tauschen von Aufträgen und zur Vernetzung außerhalb der Arbeit, sowie eine Identifikation mit dem Nachhaltigkeitsanspruch der Plattform werden zudem unternehmensseitig angeregt. Diese Arbeitsweise, die auf Kooperation statt auf Konkurrenz der Fahrer_innen basiert, wird laut befragter Fahrer_innen und Unternehmen von der Mehrheit der Velofood-Lieferant_innen gerade im Unterschied zu den anderen zwei Lieferdiensten als sozial nachhaltig wahrgenommen.

Die Grazer Situation unterscheidet sich somit zum einen in Bezug auf die Existenz und Profitabilität eines alternativen Lieferanbieters von anderen Städten. Zum anderen erwirkte die in Österreich zuständige Gewerkschaft Vida bereits Anfang 2020 einen ersten Kollektivvertrag für Fahrradbot_innen. Zwar beschränkt sich die Anwendbarkeit derzeit noch auf die Festangestellten, wodurch die Verhältnisse bei Velofood und Mjam größtenteils unberücksichtigt bleiben. Aufgrund der hohen Anzahl von sogenannten Freien in diesem Bereich hat sich die Gewerkschaft jedoch entschieden, diese Gruppe stärker zu adressieren und auch als Gewerkschaftsmitglieder jenseits der regulären Angestellten zu integrieren. Denn Vida beschreibt das Vorgehen von Mjam als „parasitäres Verhalten“, das mit dem Geschäftsmodell von Uber darin vergleichbar sei, sich auf unfaire Weise in eine bestehende Wertschöpfungskette einzuschieben. So handle es sich bei den Freien bei Mjam um „versteckte Dienstverhältnisse“, da sie mit den Rucksäcken sowie nach den Schichteinteilungen und appbasierten Auftragseinteilungen der Plattform arbeiten müssten. Diese versteckten Dienstverhältnisse werden von der Gewerkschaft neben den fehlenden Arbeitnehmer_innen-Rechten auch kritisiert, da eine Normalisierung dieses prekären Segments die regulären Beschäftigungsverhältnisse in Transport und Logistik allgemein unter Druck setze. Diese Rekonstruktion der Konflikte um die mit gastronomischen Lieferplattformen verbundene außerhäusliche Hausarbeit erweitert die bereits vielfach formulierte Kritik an plattformvermittelter Arbeit: Die Kommodifizierung und Fragmentierung von Hausarbeit geht nicht nur in der Lieferarbeit mit prekarisierten Arbeitsverhältnissen und -bedingungen einher, sondern betrifft auch die Arbeit in Restaurantküchen. Zugleich bricht diese Rekonstruktion mit den dominanten Narrativen der reibungsfreien Durchsetzung von Investitionskapital in Plattform-Technologien, da sich Plattformisierung als Terrain erweist, in das durchaus erfolgreich Arbeiter_innen-Interessen eingeschrieben werden können (vgl. Ecker/Strüver 2022: 10).

6. Restrukturierung von Arbeit und Infrastrukturen durch Online-Supermärkte in Elbstadt

Die deutsche Großstadt Elbstadt wurde bereits vor der Coronapandemie als Standort für die Experimente von REWE rund um Scan&Go, Abhol- und Lieferservice ausgewählt. Der REWE Lieferservice besteht seit rund fünf Jahren als größter Lieferdienst der Stadt, und auch der Abholservice kam vor der Pandemie in die Region.[6] Bei REWE steht dieser Ausbau unter dem Zeichen des omnichannel fulfillment, das darauf setzt, Kund_innen mehr Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Modalitäten des Einkaufens zu bieten, indem der stationäre Handel mit Online-Auftritten sowie Abhol- und Liefersystemen verzahnt wird (Piotrowicz/Cuthbertson 2019; Hutapea/Malanowski 2019; OC fulfillment GmbH o. J.). Abhol- und Lieferservice wurden bei REWE parallel zum stationären Filialnetz als eigene Säule und gemeinsame Plattform-Dienstleistung von der Unternehmenstochter REWE Digital entwickelt.

6.1. „Verschiebung in“: Räumliche Infrastrukturen der Online-Supermärkte

Der REWE Lieferservice stützt sich mehrheitlich auf ein etabliertes Modell mit längeren Bestellzeiten und optimierter Tourenplanung. Dabei greifen Unternehmen auf einzelne übergeordnete städtische Warenlager zurück, von denen aus ein ganzer Agglomerationsraum mit Lieferfahrzeugen versorgt wird. REWE Digital operiert teilweise mit einer relativ kleinen Flotte: Für den ganzen Stadtraum der Großstadt Elbstadt werden beispielsweise bis zu zehn Lieferfahrzeuge eingesetzt.[7] Aufgrund der Anforderungen an Fläche und verkehrstechnischer Erreichbarkeit rückt die Lager- und Lieferarbeit in diesem Ansatz eher in den vorstädtischen Bereich und – mit Ausnahme der Lieferfahrzeuge – aus dem Sichtfeld der Mehrheit der städtischen Bewohner_innen. Das System unterscheidet sich hierin von den konkurrierenden Lebensmittel-Schnelllieferdiensten. Diese verfolgen eine Strategie der verteilten Warenlager im innerstädtischen Bereich und setzen auf Kurzfristigkeit (Shapiro 2022): Die damit einhergehende Logik drängt sie in die räumliche Nähe zu zahlungskräftigen Kund_innen, und die Arbeitsintensität der fahrradbasierten Zustellung aufgrund der fehlenden, unökonomischen Bündelung von Bestellungen zwingt zu kleineren Lieferradien und Kapazitäten. Gleichwohl geht damit eine gegenüber den Bestellzahlen überproportionale Sichtbarkeit von Lieferarbeit einher.

Der REWE Abholservice, den rund ein Viertel der Märkte in Elbstadt anbieten, teilt die räumliche Dezentralität mit den Schnelllieferdiensten, ist jedoch in Bezug auf den Stadtraum weniger selektiv. Dieses System wird über die gleiche Plattform abgewickelt, die für den Lieferservice angeboten wird – allerdings mit mindestens zwei Unterschieden: Erstens können potenziell alle stationären REWE-Märkte das System hinzubuchen und sich so an die Plattform anschließen (Holst/Scheier 2019: 85). Zweitens bestellen die Kund_innen die Produkte hier nicht zur Lieferung, sondern zur Selbstabholung der vorgepackten Waren an separaten Kassen. Auch wenn dieses System weniger sichtbar ist als die Lieferansätze, wird es aus Unternehmenssicht priorisiert, da hier nur ein Teil der Hausarbeit an das Unternehmen ausgelagert wird und die kostenintensive letzte Meile bei den Kund_innen bleibt: So stehen nach Unternehmensangaben deutschlandweit über 1.500 Abholmärkten nur 19 eigene Lagerstandorte des Lieferservices gegenüber. Beim Abholservice kommt es zu einer Doppelbelastung des Konsumraums, der von Kund_innen und Kommissionierer_innen gleichzeitig genutzt wird und zu zusätzlichem Personalaufwand führt, den die Marktleitungen zum Teil über vorhandenes Personal und zum Teil über zusätzliche Angestellte auffangen. Das Abholmodell weist innerhalb von Städten keine räumlichen Schwerpunkte auf, da sowohl suburbane Standorte mit großen Parkplätzen als auch innerstädtische Lagen mit begrenzten Flächen infrage kommen. Bereits vor der Pandemie wurden neue Märkte mit diesem Modell geplant, jedoch führten die Kontaktreduktionen zur sprunghaften Ausbreitung (Dannenberg et al. 2020: 553). In den betrachteten drei Märkten werden laut Marktleitung fünf bis zehn Prozent des wöchentlichen Umsatzes beziehungsweise je Markt 80 bis 120 Bestellungen wöchentlich über den Abholservice erwirtschaftet.

Bemerkenswert ist hierbei, dass sich weder der REWE Liefer- noch der Abholservice bisher als wirtschaftlich profitabel erweisen. Der Lieferservice selbst wie auch die jüngeren Schnelllieferdienste gelten laut Aussagen der REWE-Marktleitungen und konkurrierender Unternehmen in Elbstadt nicht als gewinnbringend. Ebenso ordnen die Marktleitungen das System des Abholservices je nach Auslastung als Nullsummenspiel oder gar leichtes Minusgeschäft ein (zu ähnlich ernüchternden Ergebnissen kommt Wieland 2021: 131 f.). Hierin spiegelt sich wider, dass die Entwicklung von Online-Bestellungen und -Lieferdiensten durch etablierte Akteurinnen wie dem REWE-Konzern sich in den 2010er-Jahren weniger als Erschließung neuer Marktsegmente in unterversorgten Bereichen vollzog (Jonas 2021: 19). Vielmehr stehen Logiken der Kund_innen-Bindung im Vordergrund, wie dies auch für ähnliche Digitalisierungsprozesse im Lebensmitteleinzelhandel international festgestellt wurde (für Migros in der Türkei, s. Appel 2016; ähnlich für Tesco im UK, s. Paavola/Cuthbertson 2021).

6.2. „Verschiebung aus“: Praktiken und Zielgruppen der Auslagerung von Hausarbeit

In Bezug auf die Einbettung der plattformvermittelten Dienstleistungen des Liefer- und Abholservices in Haushalte zeigen sich Gemeinsamkeiten und überraschende Unschärfen in Bezug auf die Zielgruppen. Aufgrund anfallender Wege besteht für tourenbasierte Ansätze auf Unternehmensseite sowie für den Abholservice auf Kund_innen-Seite ein Anreiz für Großeinkäufe, wie Markt- und Unternehmensleitungen erklärten. Beim Lieferdienst werde eine zeitökonomische Kalkulation über Mindestbestellwerte angeregt. Daher seien neben Privathaushalten auch Geschäftskund_innen von besonderem Interesse, wenn etwa Bürogemeinschaften Bestellungen bündeln. Zu dieser kosten- und zeitökonomischen Überlegung komme für körperlich beeinträchtigte Menschen oder für den Einkauf schwerer Waren der Aspekt der Körperlichkeit der Arbeit hinzu. Dieser Ansatz unterscheidet sich von Schnelllieferdiensten: Das Versprechen der instantanen Lieferung weist zeitökonomisch genau in die andere Richtung, da es nicht auf Planmäßigkeit und Bündelung setzt. Außerdem sind die verwendeten Fahrräder oftmals nicht für Großeinkäufe geeignet. Der Abholservice stellt einen Mittelweg dar: Auch hier sei laut Marktleitungen zwar die Bündelung von Einkäufen typisch und Bestellungen erreichten durchschnittlich 80 Euro. Allerdings erlaubten die geringe Bestellgebühr von zwei Euro und die wegfallende Planung der Lieferung auf Unternehmens- und Kund_innen-Seite, dass sich das Angebot auch für kleinere Einkäufe eigne, etwa auf dem Rückweg nach der Arbeit. Aufseiten der Kund_innen sehen die Marktleitungen den Stress beim Einkaufen als Grund für die Nutzung. Genannt werden Situationen, wie etwa mit einem Kleinkind durch den Laden zu müssen oder nach der Arbeit in der Schlange an der Kasse zu stehen, womit auf die bequeme Verknüpfung des Einkaufens als Teil von Wegeketten verwiesen wird.

Zur Frage, welche Haushalte typischerweise auf diese Formen der Auslagerung von Arbeit zurückgreifen, liegen bislang kaum eindeutige Ergebnisse vor. Die Bedeutung der Haushaltsgröße wird von quantitativen Umfragen infrage gestellt (Jonas 2021: 19). In Bezug auf den Abholservice in Elbstadt wurden als Kund_innen zwar in allen Gesprächen Familien mit Kindern und Paare in der Altersspanne von 20 bis 50 Jahren genannt, allerdings ebenso Personen in Coronaquarantäne, auch wurden Einkäufe von Bürogemeinschaften sowie Spontaneinkäufe von Einzelpersonen aufgezählt. Diese Relativierung der Bedeutung des Großeinkaufs deutet sich auch in quantitativen Umfragen an, in denen dem Groß- beziehungsweise Wocheneinkauf beim Online-Kauf von Lebensmitteln gegenüber anderen Zwecken die geringste Bedeutung beigemessen wird (HDE 2021: 50). Ein ähnlich diffuses Bild ergibt sich bei den tourenbasierten Lieferdiensten, zu denen der Lieferservice zählt: Eine räumliche Fokussierung der Haushalte auf Nachbarschaften sei laut konkurrierenden Unternehmen nicht zu erkennen und typische Kund_innen nicht eindeutig identifizierbar. Übergreifend fällt die fehlende Thematisierung explizit sozioökonomischer Aspekte auf: Anstatt Leistbarkeit oder einer klar definierten Zielgruppe stehen in den Beschreibungen der Unternehmensleitungen Aspekte wie körperliche Belastung, Zeitknappheit und ökologische Aspekte im Vordergrund. So ergibt sich ein widersprüchliches Bild, in dem Unternehmen nicht profitable Angebote für diffus definierte Bedürfnislagen und Zielgruppen umsetzen.

6.3. Restrukturierung von Arbeit: zwischen Abwertung und Neubewertung durch die Verschiebung

Eindeutiger sind jedoch die Veränderungen in den Arbeitsinhalten, der inhaltlichen und monetären Wertschätzung sowie der Arbeitsorganisation zu identifizieren, die mit der Verschiebung von Hausarbeit einhergehen. Im Kommissionieren und Ausliefern verdichten sich arbeitsintensive und körperlich beanspruchende Tätigkeiten, die sonst auf die Kund_innen verteilt wären, auf den Schultern von bezahlten Arbeiter_innen. In der Lieferarbeit verbindet sich ein „körperbezogene[r] Arbeitsethos“ (Staab 2014: 275) mit einem geringen Maß an Interaktivität und Deutungsmustern als maskulinisierte Tätigkeit. Auch beim REWE Lieferservice in Elbstadt wird die Lieferarbeit mehrheitlich von Männern verrichtet.[8] Anders ist es beim Zusammenstellen einzelner Bestellungen, einer feminisierten Tätigkeit, deren Prekarität zudem durch ihre Unsichtbarkeit gesteigert wird (Loewen 2018: 707; Shapiro 2022: 10). Beide Tätigkeiten finden digital vermittelt statt: Digitale Tourenpläne leiten die Lieferarbeit und Maschinendatenerfassungsgeräte weisen den Kommissionierer_innen die Bestellungen an. Das Kommissionieren und Ausliefern eint zudem, dass es sich im Vergleich zu klassischen Tätigkeiten als Verkäufer_innen um monetär niedriger bewertete Tätigkeiten handelt.

Die Auslagerung von Hausarbeit geht also einher mit einer arbeitsinhaltlichen und räumlichen Verschiebung der Tätigkeiten. Für die Branche des Lebensmitteleinzelhandels zeigt sich diese Verschiebung als Fortsetzung von Trends, die mit digitalen Kassensystemen, der Ausweitung von Selbstbedienung, Warenwirtschaftssystemen und der Fokussierung auf Key-Performance-Indikatoren (KPIs) zu dünneren Personaldecken und Arbeitsverdichtung geführt haben (Holst/Scheier 2019: 86). Die Tätigkeit verschiebt sich der Tendenz nach in Lagerbereiche, und die Arbeit im Markt nimmt mehr Eigenschaften der Arbeit in Warenlagern an, da sich Tätigkeitsmerkmale bei steigenden körperlichen und psychischen Anforderungen formal hin zu einfacheren Tätigkeiten verändern: „[E]s entwickelt sich […] also vom Verkäufer zum In-Store Logistiker […] was die Arbeitsweisen anbelangt, was den Arbeitsdruck anbelangt, aber auch was […] die Bezahlung und Wertschätzung anbelangt“ (GD3). Diese Veränderungen kontextualisierten die Gewerkschafter_innen in allgemeinen Entwicklungen im Einzelhandel, wo die Digitalisierung eine Doppelbewegung – eine digitale Unterschichtung – bedeute, die für wenige eine Aufwertung der Tätigkeiten bei steigenden technischen Anforderungen und für die Mehrzahl eine arbeitsinhaltliche und monetäre Abwertung mit sich bringe. Die Bezeichnung als Abwertung sei laut Gewerkschafter_innen jedoch auch äußerst kritisch zu sehen, da diese Prozesse von den Kolleg_innen „genau umgekehrt“ als Zuwachs von Anforderungen statt als deskilling empfunden würden.

Angesichts solcher Entwicklungen regt die Digitalisierung von Arbeit und Konsum auf zweierlei Weisen ein erforderliches Neudenken von Entgeltgruppen und Gewerkschaftsarbeit an. Sie erinnere gemäß Gewerkschafter_innen an das blockierte Reformprojekt einer „neuen Entgeltstruktur“ der Tarifverträge, die sich statt an einer summarischen Betrachtung der Tätigkeiten sowie der Unterscheidung (kaufmännischer) Angestellter und gewerblicher Arbeitnehmer_innen an einer analytischen Arbeitsbewertung über Anforderungen orientiert (zum Themenkomplex „neue Entgeltstruktur“ s. auch Holst/Scheier 2019: 65 f.). In der Abwesenheit solcher Reformen verfolgt die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft in anderen Bereichen des Einzelhandels „Digitalisierungstarifverträge“, um Standort- und Beschäftigungssicherung sowie Aushandlungsarenen für die Gestaltung der Einführung digitaler Technologien durchzusetzen. Die Entwicklungen sind insgesamt ambivalent: Die Abwertung von Tätigkeiten bei wachsenden Möglichkeiten der digitalen Kontrolle und Steuerung von Arbeiter_innen erschwert die Organisierbarkeit und Streikfähigkeit; gleichzeitig bietet die Versammlung von Arbeiter_innen in dezentralen Warenlagern durchaus auch Potenziale für Arbeiter_innen-Macht (für ein Beispiel s. Orth 2022), und etwa beim Textilhändler H&M konnte bereits der erste Digitalisierungstarifvertrag erreicht werden.

7. Fazit

Während aufgrund der Entwicklungen an den Finanzmärkten im Sommer 2022 bereits der Abgesang auf Plattform-Dienste der letzten Meile angestimmt wurde, liefert unser Beitrag Argumente für eine weiterführende Auseinandersetzung – wenn auch unter anderen Gesichtspunkten. Wir schlagen vor, diese technologiegestützten Experimente als Auslagerung und Restrukturierung von Hausarbeit unter den Vorzeichen des Logistischen Urbanismus aufzufassen. So ergibt sich ein Argument für eine relationale Betrachtung von Arbeit, die mit Haushalten und Betrieben mehrere an der Verschiebung beteiligte Räume sowie die Restrukturierung der Arbeit bei dieser Verschiebung zusammendenkt. Anhand der zwei Beispielstudien resümieren wir hier, welche Fragen durch diese Perspektive in den Vordergrund rücken.

  1. Trotz des starken Anstiegs digital vermittelter Hausarbeiten handelt es sich weder um prosperierende Märkte noch um reibungslose Arbeitsprozesse. Zudem ist die Kommodifizierung von Hausarbeit gebunden an neue Formen eines Logistischen Urbanismus, der die Logiken der digitalen Kontrolle wie auch die Beziehungen zwischen Digitalisierung, Kommerzialisierung und verkörperter Arbeit des Plattform-Urbanismus intensiviert. Arbeit wird dabei räumlich, sozial und auch ökonomisch verschoben: aus dem Haushalt – und damit auch aus der Unsichtbarkeit und Unbezahltheit heraus – in sozial und ökonomisch anders kodierte Räume wie Warenlager und Restaurantküchen, aber auch auf Straßen und Plätze in Großstädten.
  2. Der Blick auf die Räume, in die Arbeit verschoben wird, verweist auf die Produktion neuer Räume, jedoch auch auf die Umstrukturierung und veränderte Nutzung bestehender räumlicher Infrastrukturen. Die Forschung zu Essenslieferdiensten hat sich bisher stark auf Lieferant_innen konzentriert und die Arbeitsbedingungen und -räume anderer an der Bereitstellung von Plattform-Gütern beteiligter Arbeiter_innen kaum mitgedacht. Die hier vorgeschlagene Analyseperspektive regt zu einer Erweiterung an. Während mit Warenlagern und Hubs für Fahrer_innen im Online-Lebensmitteleinzelhandel neue Infrastrukturen entstehen, betont der Blick auf gastronomische Bestelldienste, dass ebenso bestehende Räume verändert werden. So wird die Arbeit in Restaurantküchen durch die Ausrichtung auf Lieferungen und die digitalen Systeme der Plattformen umstrukturiert und unter Druck gesetzt; die Übernutzung kann zudem zur Auslagerung der Herstellung in Geisterküchen führen. Dies geht außerdem mit Verschiebungen in der Sichtbarkeit und Anerkennung einher: Während die Lieferarbeit auf der Straße als sichtbarer Bestandteil medial und wissenschaftlich bereits starke Aufmerksamkeit erfährt, rückt der erweiterte Analyserahmen Aktivitäten wie die Zubereitung von Speisen in Küchen oder das Kommissionieren von Bestellungen in Warenlagern als Tätigkeiten in den Fokus.
  3. Mit der Konzeption der veränderten einfachen Dienstleistungsarbeit als ausgelagerter Hausarbeit lenken wir den Blick zudem auf Haushalte und die räumlichen Praktiken der Externalisierung, die unternehmensseitig angeregt werden. Wenig überraschend weisen die fahrradbasierten Lieferdienste in Graz einen räumlichen Fokus auf Haushalte im innerstädtischen Bereich auf; allerdings zeigen die Ergebnisse in Bezug auf den ökologisch orientierten Dienst im höherpreisigen Segment, dass die Plattformen unterschiedliche sozioökonomische Gruppen ansprechen. Zum Verständnis, warum sich ein Dienst eta­blieren kann oder nicht, stellt sich somit die Erforschung der Bindung einer Nutzer_innen-Basis als nötige Vertiefung für zukünftige Arbeiten heraus. Die Relevanz einer solchen Vertiefung präsentiert sich noch einmal stärker in der Diskussion im Lebensmitteleinzelhandel – so zeigte sich hier für uns überraschend, wie undifferenziert und unpräzise Kund_innen innerhalb der insgesamt unprofitablen Abhol- und Lieferservices angesprochen werden. Als Erklärung für dieses Bild legt die Fallstudie nahe, dass Unternehmen wie REWE Digital und ihre Wettbewerber_innen die Angebote der ausgelagerten Hausarbeit weniger als ökonomische Lösung eines (nachfragegetriebenen) haushaltsinternen Zeitproblems entwickeln, sondern dass Distinktion, Kund_innen-Bindung und Technologievorsprung gegenüber der Konkurrenz im Vordergrund stehen. Dies bestärkt die Relevanz der Frage, ob und inwieweit die Nutzung der Dienste überhaupt systematisch in die Arbeitsteilung innerhalb der nutzenden Haushalte eingebettet wird. Auf Grundlage der bisherigen Empirie kann nicht beurteilt werden, inwiefern es tatsächlich zu Entlastungen kommt, wer entlastet wird oder wie diese Entlastungen in Mehrpersonenhaushalten verteilt sind. Allerdings leistet die Fassung als Hausarbeit hier bereits einen wertvollen analytischen Beitrag: Anstatt die Nutzenden auf problematische Weise als moralisch-politische Subjekte in Debatten um Faulheit beziehungsweise reflektierten Konsum zu überhöhen oder ihre Konsumgewohnheiten als Fragen der „convenience“ zu vereinfachen, rahmt die vorgeschlagene Analyse die Diskussion der letzten Meile als eine Frage von Arbeit und Arbeitsbedingungen: Indem die Lieferarbeit sichtbar in den öffentlichen Raum tritt, regt sie eine Betrachtung zuvor unsichtbarer, unbezahlter Arbeit und Belastungen in Haushalten an.
  4. Zuletzt fokussieren wir die Restrukturierung der Arbeit selbst, die mit diesen Verschiebungen im Zuge von Digitalisierungsprozessen einhergeht. Hier behält der Ansatz die Tätigkeitsdimensionen im Blick, die mit körperlicher Beanspruchung und digitalisierter Arbeitskontrolle sowohl in den Segmenten der Gastronomie als auch des Lebensmitteleinzelhandels einhergehen, und hilft, Tendenzen der Unterschichtung zu erkennen. Außerdem verdeutlicht die Perspektive die Notwendigkeit der Einbettung in die jeweiligen Sektoren und benennt mit der Logistik die Disziplin, aus der Logiken übertragen werden. Im Lebensmitteleinzelhandel knüpfen etwa Abhol- und Lieferformate an ältere Prozesse der Arbeitsverdichtung und Entwertungsstrategien an – hierbei zeigt sich, dass die Verschiebung hin zu formal einfacher Dienstleistungsarbeit zwar im Kommissionieren und Liefern eine Zuspitzung findet, diese jedoch nur eine Teilbewegung darstellt, die in der Fläche bereits durch die Ausrichtung auf KPIs und Digitalisie­rung interner Abläufe (Warenwirtschaftssysteme etc.) forciert wird. Die digitale Vermittlung von Hausarbeit als Dienstleistungsarbeit erweist sich jedoch auch als potenziell gestaltbares Feld: Für den Bereich der Mahlzeiten-Lieferdienste zeigt die Grazer Studie, dass weniger algorithmisch gesteuerte Formen der Arbeitsorganisation möglich sind. Die mit dem Boom der Online-Lieferdienste verbundene Organisation von Arbeiter_innen führte in Österreich zudem zur Durchsetzung des ersten Kollektivvertrags für Fahrradbot_innen; ebenso zeigen sich auch im deutschen Einzelhandel gewerkschaftliche und tarifpolitische Handlungspotenziale.

Die sozialen und räumlichen Implikationen der technologiegetriebenen Restrukturierung von Hausarbeit in der logistischen Stadt lassen sich anhand unseres Analyserahmens als Fragen der Transformation von Arbeit und ihrer Beziehung zu multiplen räumlichen Kontexten stellen. Die Veränderungen räumlicher Infrastrukturen gehen mit Verschiebungen der Sichtbarkeit einher, die letztlich auch gesellschaftliche Debatten prägen beziehungsweise verzerren können (Hill 2020). Indem die Restrukturierung von Hausarbeit veränderte Anforderungen an Räume und Arbeitsprozesse in Gastronomie und Lebensmitteleinzelhandel mit sich bringt, beeinflusst sie zudem Sektoren mit bereits besonders prekären Arbeitsbedingungen – eine zentrale Einbettung, die in bisherigen Arbeiten zur Plattform-Ökonomie zu wenig diskutiert wurde. Zuletzt haben wir zwar eine Einbettung der Nutzung dieser Dienste in die Organisation von Haushalten und Hausarbeit angestoßen, eine vertiefte empirische Auseinandersetzung mit den Lieferangeboten in Bezug zur Reproduktionsarbeit in Haushalten fehlt jedoch, wie auch Aaron Shapiro (2022: 9) anmerkt. Unabhängig von etwaigen Pleiten, Mergern und Neustarts in der Plattform-Ökonomie stellen die Auslagerung von Hausarbeit und der urbane Dienstleistungssektor der letzten Meile somit ein Forschungsfeld von anhaltender Relevanz für die kritische Stadtforschung dar.