sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(1/2), 149-183

doi.org/10.36900/suburban.v11i1/2.844

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0

Ersteinreichung: 20. August 2022

Veröffentlichung online: 15. Juni 2023

Das postkoloniale Andere im Technokapitalismus

Einblicke in die affektive Aushandlung von Positionalitäten in Nairobis Techszene

Alev Coban

Die Jahre 2007/2008 markieren einen Wendepunkt in der kenianischen Technikentwicklung: Eine Open-Source-Technologie zur Kartierung zivilgesellschaftlicher Missstände erlangte damals globale Aufmerksamkeit. Seitdem fungiert Nairobi als internationales Vorbild für Innovationen made in Africa und zieht als Silicon Savannah die zweithöchsten Investitionen in Afrika an. Auf Grundlage (auto-)ethnographischer Forschung von Affekten und Positionalitäten in innovativen Arbeitsplätzen in Nairobi argumentiere ich, dass Technikentwicklung in Kenia neben dem Codieren, Modellieren und 3-D-Drucken vor allem daraus besteht, Nairobi als einen Ort zu inszenieren, der mit den Normen des globalen Technokapitalismus mithalten kann. Empirische Einblicke in geführte Rundgänge durch Co-Working-Spaces zeigen, welcher affektiven Arbeit der Aushandlung es bedarf, um in einer technokapitalistischen Ökonomie der Versprechen und Performanzen den ersehnten Zukünften des wirtschaftlichen Fortschritts und der dekolonialen Emanzipation näherzukommen. Das Unterfangen, Nairobis Positionalität als postkoloniales Anderes neu zu skripten, ist ambivalent: Emanzipatorische Momente ergeben sich, während globale Machtasymmetrien stetig reproduziert werden.

An English abstract can be found at the end of the document.

„Unsere Stadt ist bekannt für ihre herzlichen und fröhlichen Menschen, als Heimat der besten Läufer*innen der Welt und wurde sowohl als ‚Mutter des mobilen Geldes‘ als auch als ‚Mekka der Innovation und Vielfalt‘ bezeichnet. Wir sind stolz darauf, das Herz Silicon Savannahs zu sein.“

(Startup Guide World 2020: 11; Übers. d. A.)

Mit diesen Worten beschreibt Esther Mwikali Muia, die Managerin eines kenianischen Co-Working-Spaces, Nairobi – die Stadt, in der sie lebt und arbeitet. Es ist die Stadt, die das mobile Bezahlen mit dem Handy berühmt gemacht hat (Marchant 2015: 8) und die Stadt, die seither als Vorbild für Innovationen made in Africa fungiert (Ndemo 2016). Der rasant wachsende Technologiesektor in Nairobi ist beispielhaft für viele andere Orte auf dem afrikanischen Kontinent: 2016 wurden in Afrika 173 Tech Hubs gezählt (Weltbank 2016). Nur drei Jahre später waren es schon 618 (Giuliani/Ajadi 2019). Der Begriff Tech Hub umfasst Inkubatoren, Akzeleratoren, universitäre Innovationszentren, Makerspaces[1], Technologieparks und Co-Working-Spaces – also Arbeitsplätze, die Unternehmensberatung, Weiterbildungen und Raum zum Netzwerken anbieten, um beginnende unternehmerische Bestrebungen zu unterstützen (ebd.; Friederici 2016: 18). In Nairobi wurde 2010 iHub eröffnet, der erste und größte Tech Hub in Subsahara-Afrika. Kurz danach bezeichnete das Times Magazine Nairobi als Silicon Savannah[2]. Diese Bezeichnung hält sich hartnäckig und die internationale Medienberichterstattung über technologische Erfolgsgeschichten aus Kenia reißt nicht ab. Auch globale Techgurus zeigen Interesse an dem sagenhaften Ort der Technikentwicklung: Im August 2016 besuchte Mark Zuckerberg Start-ups in Nairobi, um sich über Technologien zu informieren, die mobilen Geldtransfer nutzen (Macharia 2016).

Nairobis Techsektor steht nicht nur im Rampenlicht internationaler Medien, sondern weckt auch das Interesse von Wagniskapitalist*innen, Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit und Tech­unternehmen wie Google, IBM oder Microsoft. All diese Akteur*innen investieren in hohem Maße in kenianische Start-ups sowie in kreative Arbeitsplätze der Technikentwicklung (Disrupt Africa 2021: 10; Microsoft 2019; Mwago 2021). Diese Investitionen, vor allem in den Software-Sektor, bewirken, dass Kenias Hauptstadt als ein Realexperiment des Techunternehmertums benannt wird (Morris et al. 2018: 4). Dieses Experiment beinhaltet die Frage, ob digitale Technologien hierarchische Strukturen, wie den ungleichen Zugang zu Wissen, den exklusiven Prozess der Technikentwicklung und die Abhängigkeit von Importen aus sogenannten Zentren der Wissensproduktion aufbrechen können. Kenias Regierung ist sich jedenfalls sicher, dass Technikentwicklung vielversprechende Möglichkeiten bietet, die wirtschaftliche Entwicklung anderer Länder „aufzuholen“ (MIED 2015: 6).

In diesem Artikel zeige ich, dass Nairobi als Silicon Savannah einerseits das regionale Zentrum der medialen Aufmerksamkeit und der finanziellen Investitionen[3] darstellt (Disrupt Africa 2021: 18) und andererseits die Position eines postkolonialen Anderen im globalen Technokapitalismus innehat. Unter Technokapitalismus verstehe ich die Inwertsetzung immaterieller Güter wie Kreativität und Wissen mit dem Ziel, die Innovation neuer Technologien voranzutreiben (Birch 2017: 440; Suarez-Villa 2001: 4; Wajcman 2006: 14). Im Folgenden ist für mich vor allem eine technokapitalistische Ambivalenz von Interesse: Das verführerische Versprechen, Kapitalismuskrisen durch (kapitalistische) Technikentwicklung zu lösen, erzeugt zwar wirtschaftliche Möglichkeiten für marginalisierte Staaten, zugleich reproduzieren technokapitalistische Praktiken jedoch die zu überwindenden globalen Machtasymmetrien (Birch 2017: 433; Suarez-Villa 2001: 5).

Auf der Grundlage (auto-)ethnographischer Forschung in Nairobis Techszene argumentiere ich, dass Kenias relativ periphere Positionalität im Technokapitalismus zu Diskursen, Affekten und Materialitäten führt, die Nairobi in ein technikdeterministisches Fortschrittsverständnis einordnen und Kenia als defizitären Ort exotisieren und diskriminieren. Konkret bedeutet dies, dass kenianische Technikentwickler*innen zusätzlich zum Codieren, Modellieren und 3-D-Drucken ihrer Ideen Nairobi als einen Ort inszenieren müssen, der mit westlichen Orten der Wissensproduktion mithalten kann. Die Erforschung von Affekten (Ahmed 2014 [2004]) durch eigene Körperempfindungen, die Emotionen meiner Forschungspartner*innen und affektive Sprache in Geschichten über Nairobi führte mich zu den drängendsten Anliegen der kenianischen Techszene: die Sehnsucht nach gesellschaftlichem Fortschritt und dem Verlangen nach einem Abstreifen der postkolonialen Peripheralität Kenias im globalen Technokapitalismus. Anhand empirischer Beispiele werde ich zeigen, dass kenianische Technikentwickler*innen, um Legitimität zu erlangen, allzu optimistische Versprechen über ihre Technologien verbreiten und die Erwartungen ihres Publikums körperlich wie affektiv inszenieren müssen. Nur durch das Versprechen und die Inszenierung von Zukunftsvisionen entlang hegemonialer Normen des Technokapitalismus sowie exotisierender Vorstellungen über ein Afrika sind kenianische Technikentwickler*innen in der Lage, die entscheidende politische, finanzielle und zivilgesellschaftliche Unterstützung für die Umsetzung ihrer Arbeit zu erhalten. Daher bezeichne ich den Technokapitalismus als Ökonomie der Versprechen und Performanzen.

Im Folgenden werde ich zunächst meinen (auto-)ethnographischen Zugang zur Erforschung von Affekten und Positionalitäten der Techszene Nairobis darlegen. Anschließend erläutere ich, welche Positionalitäten ehemals kolonisierte Orte im globalen Technokapitalismus besitzen, um dann auf die materiellen Auswirkungen der relativ peripheren Positionalität Nairobis einzugehen. Als weitere Kontextualisierung dient ein kurzer historischer Abriss über die Verwobenheit wirtschaftlicher Vorhaben mit gesellschaftspolitischen Bedürfnissen in Kenia. Damit verdeutliche ich den Ursprung des politisch durchzogenen neoliberalen Techunternehmertums sowie die Situiertheit dekolonialer Bestrebungen kenianischer Technikentwickler*innen, sich intellektuell und wirtschaftlich von technokapitalistischen Zentren zu emanzipieren. Empirisch werde ich anschließend zeigen, wie die technokapitalistische Positionalität Nairobis eines postkolonialen Anderen neu geskriptet werden soll – durch das Herumführen weit gereister Besucher*innen durch Co-Working-Spaces. Der gewünschte internationale Wissensaustausch und die Gewinnung von Unterstützer*innen werden getrübt von Gefühlen der Wut und der Irritation arbeitender Menschen, die zu Anschauungsobjekten für Besucher*innen gemacht werden. Abschließend argumentiere ich, dass das ambivalente Streben nach dekolonialer Unabhängigkeit durch kapitalistische Technologien diese affektive Inszenierung von Technikentwicklung finanziell notwendig macht und daher globale Machtasymmetrien eher reproduziert als überwindet.

1. Das Erforschen von Affekten und Positionalitäten

Die geographische Forschung über digitale Technologien und deren Innovation auf dem afrikanischen Kontinent betrachtet meist nur die Metaebene: So werden etwa die Rolle von Information- und Kommunikationstechnologien (ICT) für die Entwicklung (Kleine/Unwin 2009; Verne 2014), die tatsächliche und imaginierte Konnektivität durch Unterwasser-Glasfaserkabel (Graham/Mann 2013), die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen von Plattformarbeit (Anwar/Graham 2021), die infrastrukturelle Kontextspezifität smarter Urbanität (Guma 2022) oder die allgemeinen Potenziale und Gefahren von Digitalisierung (Doevenspeck/Hollstegge 2019) thematisiert.[4]

Als Erweiterung zu diesen bisherigen Forschungen lege ich einen (auto-)ethnographischen Fokus auf die alltägliche Arbeit von Technikentwickler*innen. Damit stelle ich den wissenschaftlich vernachlässigten affektiven Anteil von Technikentwicklung in den Vordergrund (Waldby et al. 2006: 3). Ich schließe an das Plädoyer der workplace geographies an, nicht den großen Erzählungen vom Arbeitswandel und dessen ortsunabhängigen Wissensarbeiter*innen zu verfallen, sondern konkrete Arbeitsplätze mit ihren Identitäten, Körpern und Affekten zu betrachten (Crang 1994; McDowell 2009). Die alltägliche Arbeit von Start-ups in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, bedeutet aufzuzeigen, welche körperlichen Anstrengungen und Emotionen Technikentwickler*innen in die Herstellung globaler Normen des Techunternehmertums investieren (Cairns 2013; Cockayne 2016).

In diesem Sinne wandte ich vor allem die Methode der working participant observation (McMorran 2011, 2012) an, indem ich im ersten Makerspace Kenias und im berühmtesten Tech Hub Afrikas mitarbeitete.[5] Während meiner insgesamt sechs Monate Forschungsaufenthalt in Nairobi zwischen 2015 und 2017 erledigte ich alle anfallenden Arbeiten – sei es das Schreiben von Blogartikeln, das Tragen von Maschinen oder das Brainstormen über neue Technikprojekte. Bei diesen Tätigkeiten verwendete ich meinen weißen, cis-weiblichen, nicht behinderten Körper als multisensorisches Forschungsinstrument (Longhurst/Ho/Johnston 2008; Schurr/Strüver 2016: 88; Vannini 2015: 321), um zu verstehen, welche Art der Arbeit Kenias Positionalität als Technikentwicklungsstandort herstellt, aufrechterhält und verändert. Das autoethnographische Erleben von Gerüchen, Geräuschen und sozio-materieller Intimität an innovativen Arbeitsplätzen – etwa der ständige Lärm der Metallbearbeitung, der Geruch gefährlicher Chemikalien, die allgegenwärtigen Ablenkungen durch andere Mitarbeiter*innen, gemütliche Sofas oder Kaffeebars – erlaubte es mir, heikle Themen wie stressige Arbeitsbedingungen oder Gefühle der Liebe und der Angst während der Entwicklung neuer Technologien leichter zu verstehen, zu besprechen und durch mein eigenes sinnliches Wissen zu erweitern (Carr/Gibson 2017; Ehn 2011; Farias/Wilkie 2015).[6]

Mein ethnographischer Forschungsansatz schärft den Blick für die Ambiguität und Prozesshaftigkeit der Positionalitäten von Forschenden, Forschungspartner*innen, Technologien, Unternehmen und Nationen (England 1994; Law 1994; Taylor 2011; Ouma 2012). Der Fokus auf die Gefühle und Körper alltäglicher Arbeit bringt einerseits zum Vorschein, wie Affekte gesellschaftliche und geopolitische Positionalitäten (re-)produzieren (Ahmed 2014 [2004]; Pedwell/Whitehead 2012: 120) und andererseits, wie diese sich durch den Aufbau fragiler und temporärer Beziehungen verändern können (Laliberté/Schurr 2016: 75; Thrift 2003: 108). Somit liegt mein Forschungsinteresse auf dem relationalen und veränderlichen Charakter von Positionalitäten – beispielsweise die Verschiebung Kenias aus der Peripherie des Technokapitalismus hin zum Zentrum „afrikanischer“ Technikentwicklung oder die Veränderung meiner Positionalität als ausbeuterische Besucherin hin zu einer fürsorglichen Person. Somit wird sichtbar, welche affektive Arbeit benötigt wird, um die Veränderung von Positionalitäten in eine gewünschte Richtung anzustoßen und dass einige Positionalitäten und Affekte wie Weißsein oder koloniale Imaginationen an bestimmten Körpern und Orten „kleben“[7] (Ahmed 2014 [2004]) bleiben.

2. Postkoloniale Positionialitäten technokapitalistischer Orte

Eine Betrachtung der Positionalitäten eines Ortes ist deshalb relevant, weil kenianische Technikentwickler*innen Tag für Tag ihre geographische Situiertheit spüren und bewerten. Sie selbst, aber auch Medienberichte vergleichen kontinuierlich die Bedingungen ihrer Arbeit in Nairobi mit denen im Silicon Valley, in China oder in südostasiatischen Ländern. Begriffe wie Silicon Savannah, „aufholende Entwicklung“ oder leap frogging kennzeichnen solche diskursiven Vergleiche (siehe u.a. Cessou 2018; Schubert 2018; Köckritz 2017). Technikentwickler*innen in Nairobi beklagen oft, dass ihre Arbeit an einem anderen Ort einfacher wäre, da ihre periphere Positionalität innerhalb des Technokapitalismus ihre Arbeitsmöglichkeiten, aber auch kenianische Zukünfte im Allgemeinen negativ beeinflusse.

Positionalitäten prägen, wie feministische Theoretiker*innen herausgearbeitet haben, unsere Handlungsmöglichkeiten – zum Beispiel die Möglichkeit, sich Zukünfte vorzustellen, zu affizieren und betroffen zu sein oder Zugang zu Forschungspartner*innen zu erhalten (England 1994; Rose 1997; Tolia-Kelly 2006). Positionalitäten werden in erster Linie entlang sozial konstruierter Kategorien wie Geschlecht oder race definiert und beschreiben somit die Situiertheit einer Person oder Gruppe innerhalb eines bestimmten Kontexts (Rose 1997). Um die Positionalität eines Ortes innerhalb der globalen Ökonomie zu erfassen, bezieht sich Eric Sheppard (2002: 318) auf feministische Theoretisierungen der Relationalität, Performativität und inhärenter Machtasymmetrien von Positionalitäten. Er erweitert diese um eine sogenannte geographische Situiertheit. Sheppard stellt fest, dass die Machtasymmetrien, die die Positionalität eines Ortes definieren, zwar meist pfadabhängig sind, Positionalitäten jedoch topologisch sind (ebd.: 324). Er argumentiert, dass geographische Kategorien unterschiedliche Positionalitäten innehaben können, indem er auf die feministische Konzeptualisierung multipler Positionalitäten eines Individuums verweist, die vom Körper bis zu einer Weltregion reichen können (ebd.: 322).

Im Folgenden zeige ich, dass Nairobi als Standort für Technikentwicklung variable Positionalitäten innehat. Einerseits fungiert die Stadt als zen­traler Ballungsort technologischer Erfolgsgeschichten und internationaler Investitionsströme (Marchant 2014: 18). Andererseits manövrieren komplizierte Warenimporte und eurozentrische Diskurse Nairobi in die Peripherie des globalen Technokapitalismus. Um die Situiertheit Nairobis zu verdeutlichen, gehe ich auf die historische und diskursive Einbettung kenianischer Technikentwicklung ein. Darauf aufbauend zeige ich, wie Technikentwickler*innen räumliche Positionalitäten in ihrer alltäglichen Arbeit konstruieren, repräsentieren und verhandeln.

Nairobis periphere Positionalität im Technokapitalismus

In sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Forschungen zu Technikentwicklung und Tech-Start-ups sind es interessanterweise vor allem Forschungspartner*innen an ehemals kolonisierten Orten, die über ihre geographische Situiertheit sprechen. Ob in Brasilien, Peru, Indien, Kenia, Südafrika, Ghana, Jamaika oder China – Technikentwickler*innen, Forschungseinrichtungen und innovative Arbeitsplätze in diesen Ländern ringen mit ihrer peripheren Positionalität in globalen Ökonomien, in technowissenschaftlichen Diskursen und Geschichtsschreibungen (Avle/Lindtner/Williams 2017; Chan 2013; Coban 2018; Irani 2019; Pollio 2020; Takhteyev 2012).

Ein Grund für die Peripheralität von Technikstandorten sind eurozentrische Historisierungen und Theoretisierungen von (Technik-)Entwicklung als linear und teleologisch (Mavhunga 2017:8f.). Das resultierende Verständnis unzähliger Orte und Menschen als passive Technikakteur*innen drückt sich in vielfältiger Art und Weise aus: Zum einen gibt es nur sehr wenig akademische Literatur über Technikentwicklung und Innovation im Globalen Süden, und das obwohl diese Praktiken dort sowohl lange vor als auch zeitgleich mit dem Aufstieg der Maker*innenbewegung[8] im Westen stattfanden (Braybrooke/Jordan 2017: 30). Diese akademische Vernachlässigung von Technikentwicklung außerhalb des Silicon Valleys führt dazu, dass vielen Forschungen die Legitimität abgesprochen wird (Takhteyev 2012: 1). So wurde beispielsweise Chan (2013: 8) dafür kritisiert, dass sie digitale Arbeit in Peru erforscht, einem südamerikanischen Land, das dem Kritiker zufolge weit weniger für technologische Innovationen als für seine alten Inkaruinen und hohen Andengipfel bekannt sei. Zum anderen werden Technologien im Globalen Süden häufig als frugale Innovationen bezeichnet – also als kostengünstige Technologien, die mit einem minimalen Einsatz von Ressourcen entwickelt wurden – und dadurch diskursiv abgewertet (Radjou/Prabhu 2015). Während für Praktiken im Globalen Norden Begriffe wie Making oder Innovation verwendet werden, werden innovative Praktiken in vermeintlichen Peripherien des Technokapitalismus als informalisierte hack arounds beschrieben, etwa durch den Hindi-Begriff jugaad[9] (Butoliya 2018) oder auf Kiswahili als jua kali[10] (King 1996).

Jedoch ist bei diesen Begriffen die zweideutige Verwendung interessant. Jua kali beispielsweise beschreibt informalisierte Unternehmer*innen und Handwerker*innen, die 80 bis 90 Prozent des kenianischen verarbeitenden Gewerbes ausmachen (King 1996: 24ff.; Makerspace-Mitarbeiterin, Forschungstagebuch, 6.11.2015). Meine Forschungspartner*innen charakterisieren den Jua-kali-Sektor einerseits als ineffizient und geringqualifiziert, da die dazugehörigen Mikrounternehmen darauf ausgelegt sind, so viele Arbeitsplätze wie möglich zu schaffen (Forschungstagebuch, 6.11.2015 und 25.11.2015). Andererseits wird der Begriff jua kali auch als positiver Bezug auf die jahrhundertelange Handwerksgeschichte Kenias verwendet. Schon 1938 verfasste Jomo Kenyatta (1971 [1938]), der erste Präsident des unabhängigen Kenias, eine Ethnographie der Kikuyu mit dem ausdrücklichen Ziel, eine positive Identifikation mit kenianischen Handwerkstraditionen zu erwirken. Auch die heutige Maker*innenbewegung in Kenia führt ihre Expertise darauf zurück, dass manuelle Arbeit nicht neu erlernt werden muss, wie in post-industriellen Ländern, sondern seit jeher praktiziert wird. Diese oft konträren Bedeutungszuschreibungen illustrieren die Differenzierung und unterschiedliche Inwertsetzung von Hand- und Wissensarbeit (Boeva 2018: 73) sowie den Versuch einer antikapitalistischen (Grimme/Bardzell/Bardzell 2014; Maxigas 2014) und dekolonialen Aneignung von Technikentwicklung und anderer Fertigungsprozesse. Die Aushandlung von technokapitalistischen Normen und emanzipatorischen Idealen ist ein steter Begleiter kenianischer Technikentwicklung und zugleich ein Hauptargument dieses Artikels (siehe Abschnitt 4).

Trotz der Bestrebungen, Handarbeit ebenso wie dezentrale, kleinteilige Technikentwicklung positiv zu besetzen, ist der Alltag von Technikentwickler*innen in Nairobi bestimmt von essentialisierenden Dichotomien, wie der Aufteilung in moderne und aufstrebende Länder, in das Silicon Valley und dessen Kopien oder in Hightech und Handwerk. Eine kenianische Technikexpertin erklärt, dass sie enorme Geduld aufbringen muss, um mit den Weltanschauungen internationaler Investor*innen zurechtzukommen:

„Wir müssen mit vielen eurozentrischen Sichtweisen umgehen. Wir haben es mit Menschen zu tun, die noch immer an das Bild eines armen Afrikas, eines mangelnden Afrikas, eines Afrikas, das nicht für alle aufstrebt, glauben.“

(Technikforscherin, Interview, 23.11.2015; Übers. d. A.)

Bezüglich der Entwicklung neuer Technologien in afrikanischen Kontexten herrscht laut Paul Dourish und Scott Mainwaring (2012: 135 f.) weiterhin eine Logik des Mangels, der zufolge innovative Technologien ausschließlich von einem westlichen Zentrum in dessen Peripherien diffundieren. Das daraus resultierende teleologische Verständnis von Entwicklung führt zur einer Nicht-Anerkennung und einem Othering (Spivak 1985) von Praktiken der Technikentwicklung im Globalen Süden.

Die globale Peripheralität des Techniksektors Nairobis ist nicht nur durch Diskurse und Imaginationen erfahrbar, sondern auch materiell zu spüren: „Hardware ist tough“, beschweren sich insbesondere Entwickler*innen von Hardware oft (Hardware-Unternehmer, Interview, 6.5.2016; Übers. d. A.). Mit dieser Aussage ist der Mangel an Ressourcen aufgrund fehlender staatlicher Unterstützung und geringer Investitionen gemeint. Kenias Start-ups haben zwar mit insgesamt knapp 1,3 Milliarden US-Dollar zwischen 2015 und 2022 nach Nigeria die zweithöchste Investitionssumme Afrikas eingeworben und ihr jährliches Investitionsvolumen von 2021 zu 2022 verdoppelt (Disrupt Africa 2022: 15). Jedoch landet das meiste Geld bei nur wenigen Start-ups (Disrupt Africa 2021: 27) und zudem vor allem in Software-Technologien, etwa im Fintechsektor (Disrupt Africa 2022: 18). Obwohl die Entwicklung von Hardware in vielen Kontexten von anspruchsvollen Bedingungen gekennzeichnet ist, erschwert Kenias spezifische Positionalität die lokale Technikentwicklung zusätzlich. In Bezug auf Investitionen erklärte mir ein Start-up-Gründer:

„Hardware macht den Menschen Angst. Und diejenigen, die bereit sind, in Hardware zu investieren, haben ernsthafte Angst vor Afrika. Es ist also eine Herausforderung, Investor*innen zu finden, die keine Angst vor Hardware und keine Angst vor Afrika haben.“

(Start-up-Gründer, Interview, 18.11.2015; Übers. d. A.)

Hardwareinnovationen sind für Menschen ohne ingenieurswissenschaftlichen Hintergrund schwer zu verstehen und zu bewerten. Daher ist es schon für ein Hardwareunternehmen in den USA oder in Europa schwierig, Investor*innen zu finden. Aber in einem afrikanischen Land zu arbeiten, das als politisch und ökonomisch krisenhafter Kontext stigmatisiert ist (Chouliaraki 2010; Nothias 2014), macht die Suche nach Investor*innen zu einer noch größeren Herausforderung. Außerdem scheint race eine ausschlaggebende Kategorie für Investitionsentscheidungen in Kenia zu sein: 2020 gingen die höchsten Investitionen an Start-ups mit weißen Gründer*innen oder CEOs (Disrupt Africa 2021: 20).[11] Abgesehen von den rassistischen Stigmata besitzt Kenia auch keine nennenswerte lokale Investitionslandschaft wie Nigeria oder Südafrika (Disrupt Africa 2022: 38), da die Priorität kenianischer Investor*innen auf dem renditesicheren Immobilienmarkt liegt (Start-up-Gründer, Interview, 6.4.2017).

Die Kritik an der fehlenden staatlichen Unterstützung wird oft an den hohen Importzöllen festgemacht. Die Steuern auf importierte Materialien wie Lötdraht oder kleine 3,5-mm-Schrauben für elektrische Schaltkreise, aber auch auf eine Computerized-Numerical-Control-Maschine (CNC-Maschine) machen importierte Waren in der Anschaffung teuer (Mungai 2015). Die hohen Kosten für Materialien und Produktionsprozesse werden als Einschränkung der lokalen Entwicklung von Technologien angesehen: „Unsere Hardware wird hier entwickelt, aber in Kalifornien produziert. Selbst wenn wir sie dort herstellen und nach Kenia bringen, ist das immer noch billiger, als sie in Kenia produzieren zu lassen. Die Produktionslizenz hier, nur eine Lizenz, ein Stück Papier, kostet zehntausend Dollar,“ erklärte ein Start-up-Mitarbeiter (Start-up-Mitarbeiter, Interview, 11.11.2015; Übers. d. A.). Auch viele andere Technikentwickler*innen nehmen sich als abgekoppelt von globalen Ökonomien wahr und somit als Antithese der Warenströme im Silicon Valley. Dort wird die Besorgung von Materialien als einfach beschrieben, weil Komponenten bei Onlinehändler*innen bestellt werden können und dann auch schnell ankommen (Mellis 2011: 54).[12] Der schwierige Zugang zu globalen Warenströmen sowie der Mangel an Investor*innen, die es wagen, in Start-ups in einem afrikanischen Land zu investieren, führen dazu, dass Prozesse der Technikentwicklung zeit- und kostenintensiver sind als an privilegierteren Orten des Technokapitalismus.

3. Die Verwobenheit dekolonialer und kapitalistischer Visionen in kenianischer Technikentwicklung

Staatliche Institutionen und Technikentwickler*innen sehen den Ausbau des kenianischen Techsektors und dessen Inklusion in den globalen Technokapitalismus als Mittel um problematisierte postkoloniale Machtasymmetrien – darunter Ressourcenknappheit, den Mangel an Investor*innen oder diskriminierende Imaginationen – aufzulösen. Diese Verwobenheit (emanzipatorischer) Politik mit Wirtschaft ist ein beständiger Teil Kenias Geschichte und tritt seit jeher in nationalen Entwicklungsagenden und unternehmerischen Visionen auf. Im Folgenden zeige ich daher, dass sich die ersehnte kenianische Zukunft auf eine lange Geschichte von Unternehmertum in Afrika, von kolonialer Ausbeutung und dem hegemonialen Glauben an gesellschaftliche Entwicklung durch ökonomisches Wachstum bezieht. Technowissenschaftliche Zukünfte sind generell stets historisch situiert und daher kontextspezifisch (Anderson 2002; Dourish/Mainwaring 2012).

Ebenso wie die Industriepolitik nach Kenias Unabhängigkeit verfolgt auch die heutige Techszene eine technikdeterministische Teleologie von Entwicklung sowie gleichzeitig eine dekoloniale Vision der Emanzipation von globalen Zentren der Technologie- und Wissensproduktion. Daher definiere ich Techunternehmertum in Nairobi als politisch durchzogene neoliberale Arbeit, die kapitalistisches und dekoloniales Denken miteinander vereint. Dass diese Vereinigung eine höchst ambivalente Unternehmung darstellt und ständig affektiv ausgehandelt werden muss, beleuchte ich im empirischen Teil dieses Artikels.

Während der britischen Kolonialherrschaft in Kenia wurde industrielle Entwicklung nur gefördert, wenn sie den Bedürfnissen der Kolonisierenden diente (Swainson 1976: 79). Folglich wurde die kenianische Industrie eher als eine Ergänzung, denn als Konkurrenz zum Akkumulationsprozess des britischen Empires betrachtet (Mkandawire 1988: 10). Die Kolonie diente lediglich als Quelle von Primärrohstoffen, während die lokale Herstellung von Waren für den nationalen und globalen Markt unterbunden wurde (ebd.: 9). Vor dem Hintergrund dieser wirtschaftlichen Unterdrückung ist es nicht verwunderlich, dass Unabhängigkeitskämpfende das „Recht auf Industrialisierung“ forderten (ebd.: 13).

Nachdem Kenia 1963 seine Unabhängigkeit erlangte, veröffentlichte das kenianische Ministerium für wirtschaftliche Planung und Entwicklung ein Sitzungspapier, das die Industrialisierung des Landes im Sinne eines African socialism vorsah (Speich 2009: 450). Die Agenda des afrikanischen Sozialismus versprach, dass die staatliche Planung der Industrialisierung zu wirtschaftlichem Wachstum führe (Mkandawire 2014: 173). Sie kombinierte Elemente der freien Marktwirtschaft mit starker staatlicher Kontrolle sowie einer Verstaatlichung von Schlüsselsektoren (Speich 2009: 457). Der sozialistische Aspekt des Industrialisierungsvorhabens war inspiriert von Gesellschaften in Afrika, in denen soziale Interaktionen nicht durch die Institution des Privateigentums strukturiert werden, sondern sich auf die reziproke Verantwortung innerhalb einer Gemeinschaft berufen (ebd.: 460). Daher zielte die Industrialisierung im afrikanischen Sozialismus darauf ab, die Lebensbedingungen aller Kenianer*innen zu verbessern.

Auch historische Abhandlungen über Unternehmer*innen in Afrika erwähnen den Einbezug nicht-profitorientierter Belange in wirtschaftliche Vorhaben. Vorkoloniales Unternehmertum war nicht auf Profit ausgerichtet, heißt es, sondern existierte in Symbiose mit den Bedürfnissen lokaler Gemeinschaften. Der Historiker Moses Ochonu (2020) erklärt, es sei eine ungeschriebene, aber wohlbekannte Geschäftsmaxime in vorkolonialen afrikanischen Gesellschaften gewesen, die Erwirtschaftung von individuellen Gewinnen immer mit sozialen Verpflichtungen einhergehen zu lassen. Vor diesem Hintergrund kann das neoliberale Verständnis von Unternehmertum, das eine Trennung von wirtschaftlichen und politischen Sphären proklamiert (ebd.), unternehmerische Bestrebungen in afrikanischen Kontexten nicht fassen. Denn bei diesen geht es oft nicht nur um Geld, Waren und unpersönliche Begegnungen, sondern um komplexe zwischenmenschliche Beziehungen (Ouma 2016).

Diese kurzen historischen Einblicke machen verständlich, weshalb viele kenianische Technikentwickler*innen mit ihrer Arbeit gesellschaftspolitische Ziele verfolgen, nämlich die intellektuelle und wirtschaftliche Emanzipation von (ehemals) kolonisierenden Staaten. Ein Designer behauptet beispielsweise, der Techniksektor in Nairobi verkörpere Ubuntu, da die Menschen darauf bedacht seien, zusammenzuarbeiten und sich jeden Morgen auf Twitter zu begrüßen (Nyamweya, zitiert nach Bristow 2017: 287). Mit dem Verweis auf die Ubuntu-Philosophie hebt der Designer einen Unterschied zwischen Kenia und den Techszenen außerhalb Subsahara-Afrikas hervor. Ubuntu stehe für „I am because you are“ (Stassen, interviewt in Kohtala et al. 2020: 139) und verstehe jegliches Leben als relational – so wie es auch andere indigene Ontologien tun (Escobar 2015: 341). In diesem Zusammenhang erklärt ein Start-up-Gründer, dass sich kenianische Technikentwickler*innen der Tatsache bewusst sind, dass sie in einer Gemeinschaft arbeiten und leben, weshalb sie deren Wohlergehen in den Vordergrund stellen:

„Hier ist es anders als in Europa oder den USA, wo die Menschen wettbewerbsorientierter sind und Dinge für sich behalten. Sie wollen nicht teilen, also teilen sie auch keine Investor*innen. Ich habe das Gefühl, dass die Leute hier es eher als Gewinn für Nairobi oder Kenia ansehen, wenn jemand investiert. Wir kennen viele Start-ups, die uns Investor*innen empfehlen oder sie direkt an uns weiterleiten. […] Es herrscht eine große Offenheit und Zusammenarbeit zwischen kenianischen Start-ups, was sehr schön ist.“

(Start-up-Gründer, Interview, 6.4.2017; Übers. d. A.)

Dieses Zitat macht deutlich, dass unternehmerischer Erfolg als kollektives Unterfangen verstanden wird. Techunternehmer*innen betrachten ihre Investor*innen als ein gemeinsames Gut, das der Durchsetzung ihrer gesamtgesellschaftlichen Ideale dient. In diesem Sinne beschreibt ein Hardwareunternehmer die Technikentwickler*innen in Nairobi als eine „Gemeinschaft von Unternehmer*innen, die sich für den Erfolg anderer einsetzt und dafür, dass Kenia vom Erfolg dieser Unternehmen profitiert“ (Hardwareunternehmer, Interview, 18.11.2015; Übers. d. A.).[13]

Die gesellschaftspolitischen Ambitionen, die mit Technikentwicklung verfolgt werden, sind im African Maker Manifesto festgehalten, das die Organisator*innen der „Maker Faire Africa“ formulierten. Darin heißt es:

„1. Wir werden auf niemanden warten. 2. Wir werden die Dinge herstellen, die Afrika braucht. 3. Wir werden Herausforderungen als Möglichkeit des Erfindens sehen und Erfindungen als Mittel, um den afrikanischen Einfallsreichtum zu beweisen. [...] 5. Wir werden der Welt zeigen, wie sexy afrikanische Produktion sein kann. [...] 10. Wir werden Afrika mit unseren eigenen Händen neu erschaffen.“

(Maker Faire Africa 2012; Übers. d. A.)

Das Manifest macht deutlich, dass die Entwicklung neuer Technologien sowohl lokale Expertise als auch Fürsorge für lokale Gemeinschaften symbolisiert. Ziel ist es, manuelle Herstellungspraktiken umzudeuten: von informalisierten und improvisierten hacks hin zu Hightecharbeit. Diese Art von Technikentwicklung in Kenia wird als kontinentale afrikanische Errungenschaft angesehen, die für die Emanzipation von externer Unterstützung und vom Bild eines verarmten, passiven Globalen Südens steht.

Da sich kenianische Techunternehmer*innen durch ihre Arbeit für ein gesellschaftliches Wohl ermächtigt fühlen, sind sie Sinnbilder sogenannter „entrepreneurial citizens“ (Irani 2015: 801), die neoliberale Logiken der Technikentwicklung und dekoloniale Visionen der Unabhängigkeit miteinander vereinen. In diesem Sinne sagen auch Avle et al. (2019: 2), dass die Arbeit von Techunternehmer*innen an Orten mit wenig materiellen Ressourcen besonders komplex ist, da diese staatlich vernachlässigte Probleme angehen, ihre eigenen Existenzgrundlagen sichern und gleichzeitig gegen globale Exklusionen kämpfen müssen.

Auf diese Weise historisch situiert arbeitet die Techszene Nairobis also daran, nationale Agenden zu verwirklichen, ausreichendes Einkommen zu generieren und Kenias Positionierung im Technokapitalismus performativ umzuschreiben. Dies geschieht unter anderem durch die affektive und körperliche Praktik des Geschichtenerzählens während der geführten Rundgänge durch Co-Working-Spaces. Bei der folgenden Beleuchtung dieser Performanzen beziehe ich mich theoretisch auf Geograph*innen, die argumentieren, dass Geschichten (stories) nicht nur einen bestimmten Status quo von Menschen, Orten und Dingen repräsentieren, sondern zugleich affizieren und materialisieren (Cameron 2012: 581, 586). Die narrative Arbeit des Geschichtenerzählens kann – wenn sie kritisch angewandt wird – emanzipatorische Effekte haben, etwa indem sie Hegemonie entgegenwirkt und oppositionelle Politiken marginalisierter Gruppen aufbaut (Boyce 1996: 21; Cameron 2012: 580). J. K. Gibson-Graham (2002: 36) nennt dieses emanzipatorische Potenzial von Geschichten „Resubjektivierung“ und meint damit die Schaffung und Aufrechterhaltung alternativer – in ihrem Fall nicht kapitalistischer – Institutionen, Praktiken und Diskurse. In Bezug auf Orte verwendet Crang (2004: 76) das Konzept der „scripting places“, um zu argumentieren, dass Bilder, Texte und Praktiken in der Lage sind, Orte zu erschaffen und somit auch deren Geschichte und Geographie umzuschreiben.

4. Das Skripten von Positionalitäten durch Co-Working-Space-Rundgänge

Orte und Körper, die als technologisch defizitär gelesen werden, sehnen sich nach Positionalitäten, die ihre alltägliche Arbeit vereinfachen. Technikentwickler*innen in Kenia verwenden ihren Status als Vorbild „afrikanischer“ Innovation und die daraus resultierende internationale mediale Aufmerksamkeit, um Geschichten zu schreiben, die Nairobis Techszene so inszenieren, dass Zweifelnde von der vorhandenen Expertise überzeugt werden. Es ist also nicht nur das Designen, Programmieren und Bauen neuer Technologien, das politische Unterstützung und Investitionen für Technikentwicklung mobilisiert, sondern auch die alltägliche Arbeit, in Blogs, Newslettern und Social-Media-Einträgen Geschichten zu erzählen und Technologien als made in Africa, for Africa zu vermarkten (Coban 2018). All diese Praktiken führen dazu, Kenias Positionalität in globalen Machtasymmetrien auszuhandeln und neu zu skripten.

Öffentliche Inszenierungen technologischer Visionen stehen weltweit in Techszenen auf der Tagesordnung. Hackathons, Co-Working-Spaces, Aufzüge[14] und Twitter sind nur einige der Orte, an denen Techunternehmer*innen regelmäßig sich selbst, ihre Visionen und ihre Technologien als revolutionär und heldenhaft präsentieren, um mit potenziellen Investor*innen und Kund*innen in Kontakt zu kommen (Davies/Horst 2016).

Die Tatsache, dass öffentliche Selbst- und Projektpräsentationen strategisch eingesetzt werden, um technikwissenschaftliche Arbeit voranzutreiben, hat unter anderem die sociology of expectations herausgearbeitet (Brown/Rip/van Lente 2003; Felt/Fochler 2012; Wynne et al. 2007). So stellen Wynne et al. (2007: 24) fest, dass Wissensschaffende der Öffentlichkeit Geschichten über ihre Projekte erzählen müssen, um aus ihrer eigenen Berufsgruppe, von der Politik sowie Geldgeber*innen Unterstützung zu erhalten. Dabei sei das Erzählen über technologische Lösungen für gesellschaftliche Probleme essenziell, um die Projekte sichtbar zu machen und zu legitimieren (Brown 2003; Davies/Horst 2016; Dickel/Schrape 2017; Felt/Fochler 2012). Für die Techszene Südafrikas analysiert Pollio (2020: 2717 ff.), dass nicht nur Geschichten, sondern auch Zahlen, Listen, Karten und Reklameartikel die Existenz des Silicon Capes ontologisch herstellen.

Im Weiteren möchte ich Einblicke in die wohl körperlichste Art und Weise des Geschichtenerzählens geben: das Herumführen von Besucher*innen durch Co-Working-Spaces. Das Ziel, (weit gereiste) Besuchende zu empfangen und durch die kreativen Arbeitsplätze der kenianischen Technikentwicklung zu führen, ist eine körperliche, also anfassbare und beobachtbare Inszenierung von Geschichten über die kenianische Techszene. Auf diese Weise werden die Besuchenden – meist internationale Investor*innen – von der Existenz hochwertiger Ideen überzeugt.

Aufgrund der Notwendigkeit, über vielversprechende technologische Zukünfte zu berichten, um Unterstützer*innen davon zu überzeugen, stimme ich mit Wynne et al. (2007: 24) überein, dass Wissens- und Technikproduktion eine globale Ökonomie technikwissenschaftlicher Versprechen darstellt. Die Ökonomisierung vielversprechender Geschichten lässt sich jedoch noch erweitern: Ich nehme daher nicht nur Narrationen und Texte in den Blick, sondern auch die körperlichen, affektiven und materiellen Performanzen technologischer Unternehmungen. Damit zeige ich, dass der Technokapitalismus eine Ökonomie der Versprechen und Performanzen über noch zu verwirklichende Technologien ist.

Rundgänge und die Inszenierung von Nairobis Techsektor

Das Empfangen von Besucher*innen ist für Co-Working-Spaces auf der ganzen Welt eine Selbstverständlichkeit. Einem Interviewpartner zufolge ist die Möglichkeit, dass jeder Mensch die kreativen Arbeitsplätze Nairobis betreten kann, ein Zeichen für die „Kultur der Offenheit“, die in Techcommunities auf der ganzen Welt gefeiert wird (User-Experience-Designer, Interview, 11.11.2015; Übers. d. A.). Er erklärt, dass das Offenlassen der Türen eine hierarchiefreie Art des Wissensaustauschs repräsentiert.[15] Ähnlich wie dieser User-Experience-Designer betonen viele, dass es in Kenias Co-Working-Spaces vor allem um Zusammenarbeit, Offenheit, Gemeinschaft, Kreativität und Diversität geht (Friederici 2019: 194). Wie bereits erläutert, dienen die Besuche zum informellen Kennenlernen, aber auch zur Präsentation von Technikprojekten, um finanzielle Förderer*innen zu finden. So bricht beispielsweise Hektik aus, wenn über den Flurfunk bekannt wird, dass am selben Tag noch Gäste der Weltbank kommen werden, der eigene Prototyp aber noch nicht fertig ist (Forschungstagebuch, 29.6.2016). Mit diversen Absichten werden tagtäglich Besucher*innen an den kenianischen Arbeitsplätzen der Technikentwicklung willkommen geheißen: berühmte Technologieunternehmer*innen wie Zuckerberg, Politiker*innen, Vertreter*innen von Geberorganisationen, internationale Investor*innen, Tourist*innen, die eine „Get to know Kenyan startups“-Tour auf Airbnb gebucht haben sowie Studierende aus Kenia und der ganzen Welt, die sich einen Eindruck von den neuesten Technologien verschaffen wollen.

Die Anzahl der täglichen Besucher*innen ist enorm. An jedem einzelnen Tag besuchen externe Menschen die Co-Working-Spaces. Dieser Zulauf von Besuchenden zeigt, dass Nairobi ein Vorbild für die Technikentwicklung auf dem afrikanischen Kontinent ist. Für gewöhnlich sind es neue oder junge Angestellte eines Unternehmens oder eines Co-Working-Spaces, die Besucher*innen herumführen. Während des Rundgangs erzählen sie die Entstehungsgeschichte des Techniksektors und heroische Geschichten über kenianische Technologien, die marginalisierten Menschen in Afrika helfen.[16] Manchmal werden auch einzelne Nutzer*innen der Co-Working-Spaces ausgewählt, den Besucher*innen ihr aktuelles Projekt zu pitchen. Die Besucher*innen kommen meist nicht allein, sondern in Gruppen von drei bis zehn Personen. Wie schon dargestellt sind die Hintergründe und Interessen der Besucher*innen vielfältig, aber zwei Dinge haben vor allem internationale Besuchende gemein: Sie sind mit Kameras ausgestattet und haben keine nennenswerten Vorkenntnisse über die Techszene Nairobis.

Um zu verdeutlichen, wie Besucher*innen die Arbeit in Co-Working-Spaces affektiv verständlich gemacht wird, beschreibt die folgende Vignette sehr verkürzt, wie sie durch das Magua-Bishop-Gebäude geführt werden. Dieses Gebäude war 2010 der Geburtsort des iHubs und versammelte bis 2017 die bekanntesten Start-ups, Co-Working-Spaces und Tech-NGOs in Nairobi.

Technikentwicklung in Nairobi erfahren

Vier Designstudierende und zwei Professoren einer britischen Universität folgen Peter[17] in den vierten Stock des Magua-Bishop-Gebäudes. Vor der Tür des iHubs beginnt er zu erzählen. Er erwähnt die Gewaltausbrüche nach den Wahlen in Kenia 2007/2008 und dass die Open-Source-Software Ushahidi[18] dabei half, durch Kartierungen gewalttätige Vorkommnisse transparent zu machen. Ushahidi und Technikentwicklung in Nairobi wurden global populär und der iHub konnte gegründet werden. Nach diesen einleitenden Worten zur Entstehungsgeschichte der Techszene betritt die Besucher*innengruppe den Co-Working-Space und wird neben Gemurmel und Kaffeeduft von John begrüßt, dem space manager. Langsam schlendern die sechs Besucher*innen zwischen den Tischen der arbeitenden Menschen umher, die über ihre Laptops gebeugt programmieren, schreiben oder YouTube-Videos schauen.

Nach wenigen Minuten gibt Peter ein Handzeichen und führt die Gruppe hinunter in den dritten Stock, wo unter anderem Microsoft ein Büro hat. Der zweite Stock birgt die größten Attraktionen für diese Besucher*innen: den ersten Makerspace Kenias sowie das Büro eines erfolgreichen Hardware-Start-ups. Vor der Bürotür zählt Peter all die Probleme auf, die das Start-up mit seinem Produkt eines mobilen Modems gelöst hat – beispielsweise das aufgrund von Stromausfällen instabile Internet. Während er spricht, läuft Peter ins Büro, um zu fragen, ob sich die Besucher*innen die Technologie ansehen können. Er kehrt zurück und gibt der Gruppe das Zeichen zum Eintreten. ‚Wow! Dieser Ort ist riesig und sieht zu 100 Prozent aus wie ein kreativer Arbeitsplatz in den USA‘, ruft eine der Studierenden aus. Die Gruppe versammelt sich um Peter, der die Produkte des Start-ups in den Händen hält. Hinter ihm an der Wand steht in verschnörkelter Schrift: ‚You can do hard things‘.

Beim nächsten Halt im gegenüberliegenden Makerspace ist das Gefühl der Verwunderung unter den Besucher*innen weiterhin sehr präsent. Eine CNC-Maschine, ein Schweißgerät, 3-D-Drucker und Holzsägen – die Besuchenden sind erstaunt, dass ein Makerspace in Kenia besser ausgestattet ist als ihrer an einer britischen Universität. Sie zücken ihre Kameras und Smartphones und machen Fotos von den Arbeitsplätzen.

Die letzte Station des Rundgangs ist Pete‘s, das berühmte Burrito-Café im Erdgeschoss des Gebäudes. Es heißt, dies sei der Ort, an dem die wirklichen Innovationen stattfinden. Bei erfrischendem Saft und Kaffee tauschen die Besucher*innen sich über ihre neu gewonnenen Eindrücke aus.

(Forschungstagebuch, 3.11.2015; 30.6.2016; 26.7.2016)

Diese Vignette soll veranschaulichen, dass die Rundgänge Geschichten ebenso greifbar wie fühlbar inszenieren. Besucher*innen wird die Möglichkeit gegeben, durch die Arbeitsplätze der Technikentwicklung zu flanieren, Menschen und Maschinen bei der Arbeit zu betrachten, technologischen Ideen zu lauschen und dort zu essen, wo vermeintlich alle kenianischen Technikentwickler*innen essen, denken und sich vernetzen.[19] Das Eintauchen in die Geschmäcker, Gerüche und Geräusche des täglichen Lebens von Technikentwickler*innen lässt die Besucher*innen spüren, wie sich die Arbeit in der Techszene Nairobis anfühlt.[20]

Die affektive Inszenierung von Technikentwicklung erinnert an McDowells (2009) Beschreibung von Arbeit im Dienstleistungssektor. Ihr zufolge sind Gefühle wie Ekel, Verachtung, Scham, Demütigung, Wut, Empathie, Überraschung, Vergnügen, Genuss und Aufregung – einzeln oder in Kombination miteinander – Teile einer Dienstleistung, die immer den Verkauf eines Körpers beinhaltet (ebd.: 225). Die Selbstpräsentationen und das Geschichtenerzählen im Techniksektor Nairobis sind daher dem Dienstleistungssektor ähnlich: Die Frage, wie sich unterschiedliche Körper zueinander verhalten (oder auch nicht), steht auch hier im Mittelpunkt (ebd.). In diesem Sinne argumentieren auch die Wissenschaftskommunikationswissenschaftlerinnen Sarah Davies und Maja Horst (2016: 214), dass Geschichten affektive Errungenschaften sind. Für sie ist Wissenschaftskommunikation ein Dschungel voller Farben, Gerüche, verschiedener Bestien und seltsamer Dinge, die im Schatten lauern; also niemals rational und vorhersehbar. Inspiriert von den Perspektiven der workplace geographies (Crang 1994; McDowell 2009) möchte ich einen Blick darauf werfen, wie an Arbeitsplätzen das Intime mit dem Globalen verwoben ist. Welche Affekte werden an kreativen Arbeitsplätzen mobilisiert und welche Auswirkungen hat die kontinuierliche verkörperte Inszenierung der eigenen Arbeit?

Rundgänge und Gefühle der Objektifizierung

Die Performanzen für Besuchende werden begleitet von Gefühlen der Angst, als Techunternehmer*in nicht bestehen zu können, von der Fürsorge für die eigene Gemeinschaft und von der Wut darüber, während der Rundgänge als Anschauungsobjekt zu fungieren. Ein Smartphonebild (Abb. 1) und der dazugehörige Tagebucheintrag von mir geben einen Einblick darin, wie es sich anfühlt, tagtäglich während der Arbeit besucht zu werden:

„Irgendwann kamen [ein bekannter Seriengründer] und eine Gruppe von 15 schicken Personen, die ich als weiß lese, herein. Sie gingen nicht sehr weit in den Makerspace hinein, sondern standen nur im Eingangsbereich und sahen uns an. Ich schämte mich für zwei Frauen, die sich von der Gruppe lösten und ungefragt Fotos von den Bildschirmen und arbeitenden Menschen machten. [...] Brian, der mir gegenübersaß, beugte sich über den Tisch und fragte mich flüsternd: ‚Kommen die hier her, weil Sie nicht glauben, dass so etwas in Afrika passiert?‘“

(Forschungstagebuch, 23.6.2016; Übers. d. A.)

Abb. 1 Schnappschuss einer Besucher*innen­gruppe im Makerspace (Quelle: Autorin)
Abb. 1 Schnappschuss einer Besucher*innen­gruppe im Makerspace
(Quelle: Autorin)

Das Foto und der Tagebuchauszug verweisen auf eine bestimmte räumliche Anordnung: Die Besucher*innen halten sich in der Regel in der Nähe des Eingangs auf, hören der herumführenden Person zu und beobachten die arbeitenden Menschen aus der Ferne. Brian konnte die räumliche Distanz zwischen ihm und den Besucher*innen am Eingang spüren, da er den Zweck ihres Besuchs nicht hören konnte. Brians Verwunderung und Irritation über die Besuche weißer Menschen verdeutlichen zudem sein Empfinden einer körperlichen Grenze – zwischen den Körpern der Besucher*innen und seinem eigenen (Ahmed/Schmitz 2014).

Diese empfundene Andersartigkeit kam auch in einem Gespräch zwischen zwei ehemaligen Co-Working-Space-Mitarbeitenden auf, die ihren Arbeitsplatz einen Zoo nannten:

„Joseph: ‚Für mich ist das Nervigste an den Touren, dass einfach ganze Teams reinkommen und filmen: Wer seid Ihr?! Warum filmt Ihr mich?‘

Glory: ‚Das ist sogar bei einem der Kids Hacker Camps passiert. [...] Wir mussten Menschen davon abhalten, einfach Fotos von Kindern zu machen. ‚Was ist nicht in Ordnung mit Euch!?’ – ‚Oh, ich finde, Ihr macht da etwas sehr Cooles.‘ Sie sehen Kinder in einem Tech Hub und denken sofort es sei etwas Cooles.‘

Joseph: ‚Ein Zoo‘.“

(Co-Working-Space-Mitarbeitende,
Interview, 24.3.2017; Übers. d. A.)

Durch ungefragtes Fotografieren fühlen sich Technikentwickler*innen objektiviert – wie Tiere im Zoo. Hierbei gilt es die Blickrichtungen während der Rundgänge zu beachten: Wer darf beobachten und schauen und wer wird betrachtet? Die fehlende (verbale) Interaktion zwischen arbeitenden Menschen und den vornehmlich weißen Besucher*innen sowie das Schießen von Fotos verfestigen den sogenannten kolonialen Blick (colonial gaze), der seit der Kolonialzeit Menschen in (ehemaligen) Kolonien exotisiert und als anders darstellt (Melber 2001).

Die empfundene Einschüchterung der beobachteten Arbeiter*innen entwickelt sich oft zur Wut über Unbekannte, die die Privatsphäre und das Bedürfnis nach Ruhe der Arbeitenden nicht respektieren. Es wird kritisiert, dass Angestellte und Mitglieder der Co-Working-Spaces durch die Besuche keine Vorteile erlangen: „Was haben wir davon? Wollt Ihr etwas finanzieren? Wollt Ihr mit uns zusammenarbeiten? Bitte sagt nicht einfach ‚Tschüss‘“ (Co-Working-Space-Mitarbeiterin, Interview, 24.3.2017; Übers. d. A.). Die meist fehlende Kommunikation über die Verwendung der von Besuchenden gesammelten Informationen löst auch Widerstand gegen Interviewanfragen internationaler Journalist*innen oder Forscher*innen aus (PR-Manager, Interview, 17.4.2017).[21]

Die Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Rundgänge stehen im Widerspruch zu der Begeisterung der Besucher*innen, wie mein Forschungstagebuch zeigt:

„Für die [Design]-Studierende waren die fünf Tage in Nairobi ein großartiges Erlebnis. Die circa Zwanzigjährigen erklärten, dass sie noch ihren Enkelkindern von der Reise erzählen würden und dass sie nicht erwartet hätten, dass es hier so schön ist. Ich fragte sie, was sie erwartet haben und ein Student antwortete, dass er weniger Ausstattung und nicht so nette und gleichgesinnte Leute erwartet hat.“

(Forschungstagebuch, 3.7.2016)

Vor allem Besucher*innen aus Großbritannien, den USA oder Deutschland vergleichen die Inneneinrichtung und die technische Ausstattung der Arbeitsplätze in Nairobi mit Co-Working-Spaces in ihren Herkunftsländern und äußern ihr Erstaunen über die bloße Existenz einer Techszene in Kenia. Die ständige Verwunderung über den kenianischen Techniksektor und dessen unerwartete Vergleichbarkeit mit Hightecharbeitsplätzen im Globalen Norden veranlasst viele kenianische Technikentwickler*innen zu der Annahme, dass die Besuche der internationalen Besucher*innen von kolonialen Stereotypen geprägt sind.

Einer Tech-Hub-Mitarbeiterin zufolge sind „weiße Besuchende“ einfach schon davon fasziniert, „junge afrikanische Techniknerds an Computern eine App programmieren zu sehen“ (Tech-Hub-Mitarbeiterin, Interview, 24.3.2017; Übers. d. A.). Oftmals hatten meine Forschungspartner*innen das Gefühl, dass für die Mehrheit der Besucher*innen der touristische Eventcharakter des Besuchs eines von der westlichen Technikgeschichte vernachlässigten Ortes wichtiger zu sein scheint als das Hören einer detaillierten persönlichen Geschichte:

„Es ist so einfach immer wieder die gleiche Geschichte zu erzählen, denn das ist, wonach die meisten weißen Menschen hier suchen. Ich erinnere mich, dass ich von Projekten erzählte, die wir vor Jahren gemacht haben. Sie sagten: ‚Wow! Das ist so cool, ey!‘ Niemand fragt, was ich mache. Es kümmert sie nicht, sie wollen nicht wirklich etwas über uns erfahren – sie wollen nur wissen, dass in Afrika ein paar coole Projekte gemacht werden. [...] Sie wollen eine Tour, dasselbe wie bei BBC, aber diesmal von einer Person erzählt, die dort arbeitet.“

(ehemalige iHub-Mitarbeiterin, Interview, 24.3.2017; Übers. d. A.)

Die Interviewpartnerin ist wütend und traurig darüber, dass die Besucher*innen, die sie herumführt, keine Fragen über sie, ihre Arbeit, Motivation und Ausbildung stellen. Sie empfindet das Entzücken über eine entpersonalisierte Geschichte von „coolen Projekten in Afrika“ (ebd.) als Beleidigung, da es auf diskriminierenden Vorstellungen von einem singulären und defizitären Afrika beruht. Das fehlende Interesse an Geschichten, die von Medienberichten abweichen, erinnert an touristische Veranstaltungen, bei denen Orte in Ländern des Globalen Südens gezielt für die Interessen privilegierter Reisenden inszeniert werden (d’Hauteserre 2004: 238). Vor diesem Hintergrund behaupten Tourismuswissenschaftler*innen, dass westliche Tourist*innen afrikanische Kontexte als Tabula rasa wahrnehmen, als exotischen, empfänglichen, zeitlosen Raum, der darauf wartet, mit imperialistischen Imaginationen gefüllt zu werden (van Eeden 2004: 21).

Selbstverständlich sind nicht alle Besucher*innen unfreundliche, sensationslustige Personen. Ein Rundgangsleiter hat zum Beispiel das Gefühl, dass seine Besucher*innen manchmal mehr Fragen stellen wollen, dies aber nicht tun, weil sie bemerken, dass sie ihn von seiner eigentlichen Arbeit abhalten (Interview, 17.4.2017). Seine Einschätzung spiegelt meine Scham wider, die ich während meines Rundgangs empfand: Meine Anwesenheit zwang Menschen, mit mir zu reden, obwohl diese gar keine Zeit für ein Gespräch hatten (Forschungstagebuch, 3.11.2015). Außerdem entschuldigen sich einige Besucher*innen auf Geschäftsreise dafür, dass sie wahllos Fotos machen und keine Zeit für Interaktionen haben. Ihre Zeitpläne seien eng getaktet und die geschossenen Fotos notwendig, um ihre Aktivitäten zu belegen (Forschungstagebuch, 28.6.2016; 30.3.2017).

Mir geht es jedoch nicht darum, individuelle Besuchende der Techszene Nairobis entweder als interessierte und selbstreflexive oder als unempathische und rassistische Wesen zu bewerten. Es geht mir darum, postkoloniale Machtasymmetrien aufzuzeigen, die sich in Reiserichtungen, Blickrichtungen und Wissensabschöpfung ausdrücken.

Rundgänge und ihre performative und affektive Ambiguität

Die empirischen Einblicke in die Rundgänge durch Co-Working-Spaces zeigen, dass diese ihre Funktion erfüllen, nämlich Zweifelnde davon zu überzeugen, dass es in Kenia Technikentwicklung gibt. Jedoch sind die unterschiedlichen Gefühle angesichts ein und derselben Situation bedeutsam: Besucher*innen genießen die sinnliche Erfahrung der kenianischen Techszene, indem sie Arbeiter*innen, Technologien und Maschinen beobachten, berühren und fotografieren. Im Gegensatz dazu fühlen sich die Arbeitenden genervt, wenn sie mehrmals am Tag die gleiche Geschichte erzählen müssen; irritiert, wenn sie beobachtet und verärgert, wenn sie ohne Erlaubnis fotografiert werden. Bei den besuchten Technikentwickler*innen hinterlassen die Rundgänge also häufig nur die Hoffnung auf Investitionen, den Verlust von Arbeitszeit und eher Irritation und Einschüchterung als Inspiration, Wissensgewinn oder ein greifbares finanzielles Ergebnis.

Diese unterschiedlichen Empfindungen deuten auf die performative Ambiguität der Praktiken des Geschichtenerzählens hin. Einerseits bergen die narrative Arbeit der Technikentwickler*innen und die affektiven Zustände des Staunens und der Begeisterung der Besucher*innen ein emanzipatorisches Potenzial: Die Positionalität Kenias kann neu geskriptet werden, indem koloniale Stereotype eines vermeintlich a-technologischen Ortes widerlegt werden. Andererseits materialisieren die voyeuristischen Besuche die Machtasymmetrien, die schon vor langer Zeit begonnen haben, Menschen in (ehemaligen) Kolonien zu exotisieren, zu othern und zu betrachten.

Die Ursache der Ambiguität ist das ambivalente Streben nach dekolonialer Unabhängigkeit mittels kapitalistischer Technologien: Die Rundgänge sollen Wissensaustausch fördern und lokale Technikentwickler*innen zur Mitarbeit ermutigen, gleichzeitig werden sie jedoch für die finanziellen Bedürfnisse der Techszene benötigt. So sind Geschichten über technologische Projekte Dienstleistungen für potenzielle Investor*innen und müssen demnach die Erwartungen des vornehmlich internationalen und weißen Publikums erfüllen. Das bedeutet: Kenias rassistische koloniale Vergangenheit und gegenwärtige globale Ungerechtigkeiten führen dazu, dass Gefühle des Erstaunens an den Körpern und Technologien der innovativen Arbeitsplätze in Nairobi „kleben“ (Ahmed 2004b: 120) bleiben und diese gesamtgesellschaftlich entlang historisch gewachsener Machtstrukturen organisieren. Die gegenläufigen klebrigen Affekte wie Begeisterung und Wut handeln kontinuierlich Nairobis Positionalität als postkoloniales Anderes im globalen Technokapitalismus aus.

5. Fazit: Technokapitalismus – eine Ökonomie der Versprechen und Performanzen

Ein Co-Working-Space in Nairobi ist ein Ort, an dem Technik­entwickler*innen Prototypen und Erzählungen schaffen, um Zukünften der Unabhängigkeit und Industrialisierung näherzukommen. Der empirische Fokus auf das Geschichtenerzählen für Besucher*innen dieser Arbeitsplätze macht eine alltägliche Arbeit sichtbar, die auf den ersten Blick nicht Teil von Innovationsprozessen zu sein scheint. Die Selbstdarstellung von Technikentwickler*innen und ihren Projekten dient als Instrument, Besuchende davon zu überzeugen, dass auch Orte außerhalb des Silicon Valleys Erfolgsgeschichten zu erzählen haben. Durch die Widerlegung abwertender Imaginationen technologischer Arbeit in einem afrikanischen Kontext möchten Technikentwickler*innen ihre Positionalitäten neu skripten. Die Rundgänge durch Co-Working-Spaces und das dortige Geschichtenerzählen sind also performative Arbeit mit dem Ziel, am Bestehen technokapitalistischer Zentren und Peripherien zu rütteln. Hieran wird deutlich, dass Positionalitäten körperliche Errungenschaften sind und keine essenziellen Entitäten.

Des Weiteren zeigt der Artikel, dass Nairobis technokapitalistische Positionalitäten in der Historie und Gegenwart Kenias situiert sind. Das bedeutet, dass Technikentwicklung in Kenia durch Kolonialismus und die darauffolgenden Entwicklungsexperimente mit importierten Technologien beeinflusst ist. Außerdem ist die Techszene Nairobis in globale Innovationsdiskurse eingebettet, die nationalen Fortschritt durch neue Technologien versprechen sowie in postkoloniale Pfadabhängigkeiten, die sich in Kenias Peripheralität in Technikwarenströmen und eurozentrischer Technikgeschichte ausdrücken. Diese Situiertheit hat einen Einfluss darauf, wie Technikentwickler*innen handeln, arbeiten und über Zukünfte nachdenken (Müller-Mahn 2020: 157). Kenias periphere Positionalität im Technokapitalismus ruft Zukunftswünsche einer selbstbestimmten Volkswirtschaft hervor. So wird in einem Kontext, in dem die Entwicklung von Hightech keine Selbstverständlichkeit ist, das Streben nach technikwissenschaftlicher Modernität zu einem emanzipatorischen Akt der Loslösung von hegemonialen Imaginationen eines verarmten, passiven Globalen Südens. Daher argumentiere ich, dass kenianische Technikentwicklung die neoliberale Selbsterfüllung des unternehmerischen Selbst, aber auch technikdeterministische Vorstellungen von wirtschaftlichem Fortschritt mit politischen Vorhaben einer dekolonialen Emanzipation vereint. Die Auflösung epistemologischer und materieller Ungleichheit soll durch kapitalistische Marktintegration und die gleichzeitige Schaffung fürsorglicher panafrikanischer Technikentwickler*innen erreicht werden.

Die Verbindung emanzipatorischer mit kapitalistischen Logiken geschieht nicht ohne Ambivalenzen: Die alltäglichen Erzählungen über revolutionäre Innovationen während der Rundgänge durch kenianische Co-Working-Spaces dienen nicht nur als Mittel, um Positionalitäten neu zu skripten, sondern sind auch Ausdruck einer Ökonomie, die technologische Versprechen und Performanzen in Wert setzt. Da Technikentwickler*innen für ihre Arbeit auf Investitionen angewiesen sind, müssen sie technokapitalistischer Inwertsetzung gerecht werden und antizipierende Versprechen über technologische Zukünfte mobilisieren. Wie in diesem Artikel aufgezeigt, scheint das bloße Versprechen von technologischem Fortschritt nicht ausreichend zu sein, um Vertrauen zu erlangen und internationale Investor*innen von der Arbeit kenianischer Technikentwickler*innen zu überzeugen. Orte und Körper, die im Technokapitalismus ein postkoloniales Anderes darstellen, müssen ihre Arbeit als sinnliches, touristisches Event inszenieren, in dem das vornehmlich weiße Publikum mehr Handlungsmacht besitzt als die Erzähler*innen. Dadurch werden die emanzipatorischen Bestrebungen, koloniale Machtasymmetrien in globalen Technopolitiken abzuschaffen, torpediert.

Die Auseinandersetzung mit kontextspezifischen Affekten wie Wut, Scham und Freude an Arbeitsplätzen der Technikentwicklung macht die Bedeutung und die Prekarität beim Entwickeln von Technik und bei der Schaffung ersehnter Zukünfte deutlich. Auf die Existenz alltäglicher Formen des Widerstands (Scott 2008[1986]) gegen koloniale Blicke und Wissensabschöpfung konnte ich in diesem Artikel nicht eingehen, daher möchte ich im Ausblick erwähnen: Es gibt verschiedene Strategien, um den unangenehmen Situationen der Rundgänge aus dem Weg zu gehen. Eine sogenannte „Überlebensstrategie“ ist das Erzählen einer standardisierten Geschichte, um die Rundgänge so kurz und formell wie möglich zu halten, aber dennoch nicht durch Verweigerung den eigenen Job zu verlieren (Technikentwickler*innen, Interviews, 24.3.2017; 17.4.2017). Auch treffen Technikentwickler*innen Schutzvorkehrungen wie das Tragen unübersehbarer Kopfhörer, um nicht ansprechbar zu wirken oder das Aufstellen von Whiteboards zwischen Tür und Schreibtischen, um für eintretende Besucher*innen nicht sichtbar zu sein. Durch lautes Seufzen, Augen rollen und das auffällige Einschalten eines 45-minütigen Timers zeigen Technikentwickler*innen ihre Missgunst gegenüber ständigen Störungen (Forschungstagebuch, u.a. 11.11.2015). Diese alltäglichen Widerstände gegen die Inszenierung der eigenen Arbeit zeigen emanzipatorische Momente der Aushandlung von technokapitalistischen Normen innovativer Arbeit, Technologien und Wissen, einer möglichen „afrikanischen Art“ der Technikentwicklung (Cofie 2019; Jackson 2017) sowie der richtigen Kompliz*innen – Besucher*innen, Investor*innen, Mitarbeitende oder Maschinen.