Das „Infra-“ der Struktur

Eine Replik zur Debatte um Infrastrukturen städtischer Intimität

Jan Hutta, Nina Schuster

Ein Anlass für unser „vielstimmiges Gedankenspiel“ zu den Infrastruk­turen städtischer Intimität, zu dem wir inspirierende ebenso wie provokante Beiträge erhalten haben, ist die von uns zugespitzte Annahme einer Spannung zwischen Intimität auf der einen und Infrastruktur auf der anderen Seite. Dass es sich hier nur vermeintlich um ein Spannungs- und eher um ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis handelt, wird in den Beiträgen zu dieser Debatte deutlich. Sie zeigen auf facettenreiche Weise, dass Intimität, wie sie in menschlichen und mehr-als-menschlichen Verbindungen zum Ausdruck kommt, auch in die Strukturen städtischer gesellschaftlicher Organisation gegossen ist – und zwar speziell in deren infra-strukturelle Komponenten, die das städtisches Zueinander beständig vermitteln. Im Folgenden diskutieren wir einige Argumente aus den Kommentaren, die wir spannend fanden, um sie zu vertiefen.

1.Warum Infra-Struktur?

Beginnen möchten wir mit der Frage, warum überhaupt Infra-Struktur in den Blick genommen werden sollte. Jenny Künkel (2022) mahnt in ihrem Kommentar an, dass aktuelle Arbeiten zu Infrastruk­tur, die sich im Bereich des Neuen Materialismus ansiedeln, eine gesellschafts­theo­retische Perspektive, die kapitalistisch geprägte Macht- und Herr­schafts­ver­hält­nisse zentriert, tendenziell vermissen lassen. Zugespitzt fragt Künkel, ob der Begriff der Infrastruktur nicht letztlich Dinge adressiere, die ein historisch-materialistischer Struktur-Begriff längst tragfähiger behandelt. Ihre Ausführungen zu gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, die in staatlichen Strukturen verdichtet sind, verdeutlichen die strukturelle Einbettung infrastruktureller Materialität. Was also kann der Infrastrukturbegriff zu einer Macht- und Herrschaftsperspektive auf städtische Intimität beitragen? Aus unserer Sicht sollte der Begriff der Infrastruktur, der ja gerade auch in marxistischen Ansätzen diskutiert wird,[1] Strukturfragen nicht verabschieden, sondern konkretisieren. Denn das „Infra-“ von „Infrastruktur“, so unser Argument, verlangt nach einer fokussierten Auseinandersetzung mit denjenigen materiellen Komponenten von Strukturen, die soziale Prozesse, Beziehungsweisen und Organisationsformen ermöglichen, vermitteln oder behindern bzw. in sozialen Prozessen neu ausgestaltet werden.

Die Relevanz der Infrastrukturperspektive auf Intimität könnten wir auch durch einen umgekehrten Blick verdeutlichen: Wohin werden wir geleitet, wenn wir, klassischer, nach „Strukturen der Intimität“ fragen? Dies führt uns zunächst zu einer Beschäftigung mit gesellschaftlichen Machtstrukturen, wie sie sich in Kontexten des vergeschlechtlichten, rassifizierten Kapitalismus herausbilden: Wie bestimmen Verhältnisse von Geschlecht, Sexualität, race und Klasse hier gelebte Intimität? Welche Rolle spielen für deren Aushandlung und -gestaltung staatliche Institutionen und politische Kämpfe? Und wie strukturieren die im Kapitalismus verallgemeinerte Warenform einerseits und gebrauchswertorientierte „Beziehungsweisen“ (Adamczak 2017) andererseits das Zu- und Miteinander? Mit feministischem und queertheoretischem Akzent können wir auch konkreten Institutionalisierungen im Zusammenhang mit der Intimitätsform der Ehe und damit verbundenen normativen Annahmen und Verteilungsfragen nachgehen.

Diese Fragen bleiben auch für die Untersuchung von Infrastrukturen der Intimität relevant und lassen das von Benno Gammerl in seinem Kommentar eingebrachte Beispiel zur „Aktion Standesamt“ nicht mehr ganz so emanzipatorisch erscheinen. Denn wenn „in den großen Städten Bilder von schwulen und lesbischen Paaren [plakatiert werden], um für die Öffnung der Ehe zu werben: Paare im Bett, beim Frühstück, beim Aussuchen der Verlobungsringe“ (Gammerl 2022: 128), dann materialisieren sich damit Strukturen, die ebenfalls mit den Konzepten von Homonormativität und Homonationalismus verhandelt werden. Auch bei Gammerl klingen derartige Machtstrukturen an, etwa in den Ausführungen seiner lesbischen Interviewpartnerin zur politischen Dimension der nationalstaatlichen Legitimation der Ehe. Für uns ist dies jedoch eher ein Beleg dafür, dass nationale Zugehörigkeit eine wichtige Rolle für die spezifische Intimitätsform des Paars spielt (vgl. Mesquita 2011).

Rücken wir nun die „Infrastrukturen der Intimität“ in den Fokus, so bleiben die genannten Strukturfragen relevant, werden aber zugespitzt und zugleich durch Aspekte erweitert, die ein vertieftes Verständnis gesellschaftlicher Strukturen ermöglichen. Denn die Infrastrukturfrage lenkt den Blick speziell auf soziotechnische Einrichtungen, Systeme und mit ihnen verknüpfte Praktiken, die Intimität und deren gesellschaftliche Strukturen mit erzeugen. So verlangen die in Laura Kemmers Beitrag (2022) thema­ti­sier­ten Nahverkehrsmittel Bus und Straßenbahn in einem Kon­text, in dem Menschen existenziell auf deren Nutzung angewiesen sind, geradezu nach Umgangsweisen mit den gewollten und ungewollten Intimitäten, die in ihrer temporär abgeschlossenen Öffentlichkeit entstehen. Wie Kemmer et al. (2022) anhand Pedro Lemebels Crónicas aufzeigen, können die Aneignungsprozesse derartiger Infrastrukturen gerade für Menschen, deren Begehren, Körper und sozialer Hintergrund hegemonialen Institutionalisierungen der Intimität zuwiderlaufen, zu ambivalenten Erfahrungen von Lust, Aggressionen, Ausgesetztsein und der Konfrontation mit Klassenunterschieden werden.

Das Präfix „infra-“, das „unterhalb“ bedeutet, hebt somit die vermittelnde und zugleich konstitutive (und teils destruktive) Rolle hervor, die soziotechnische Einrichtungen und Systeme besitzen: „Infra-“ transportiert und vermittelt, ermöglicht und stellt Bezüge her, sträubt sich, verhindert und verfällt. Es kann auch dafür genutzt werden, die Ebene der Aneignung, Nutzung und Entfremdung sowie des Widerstands zu fokussieren. Damit regt das Präfix gewissermaßen zu einer Beschäftigung mit Strukturen zweiter Ordnung an: mit den materiellen Systemen der Strukturen. Ein Nachdenken über Infrastrukturen lenkt also den Blick auf Dynamiken und Prozesse materieller Vermittlung samt all ihrer assoziierten Praktiken, Subjektivitäten und Machtverhältnisse. Weil die räumliche Materialität von Infrastrukturen aufs Engste mit der Materialität ökonomischer Verhältnisse verbunden ist, sollten wir unser Augenmerk wieder stärker auf die Analyse von Prozessen kapitalistischer Ausbeutung und Wertschöpfung richten, wie sie etwa in den brasilianischen Protesten rund um verteuerte oder stillgelegte Nahverkehrsmittel zum Ausdruck kamen (vgl. Kemmer 2022).

Wie in der Infrastrukturdebatte oft betont wurde, entzieht sich die Struktur unter der Struktur samt ihren Produktions- und Repro­duk­tions­bedingungen tendenziell der politischen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Denn solange sie reibungslos funktioniert, verbleibt Infrastruktur im unhinterfragten „Dahinter“ oder „Darunter“ alltäglicher Nutzung. Die zu ihrer Aufrechterhaltung notwendige Arbeit wird oft schlecht entlohnt oder ist unsichtbar, weil sie oft nachts stattfindet oder als schmutzig gilt; die Modi ihrer staatlichen, privatwirtschaftlichen oder informellen Aufrechterhaltung bleiben verdeckt; die Zwecke, denen sie dient, werden naturalisiert. Im Hinblick auf Intimität sieht Jenny Künkel die Notwendigkeit, als Infrastrukturen „auch weniger ‚greifbare‘ personenbezogene Infrastrukturen wie sozialstaatliche Förderinstrumente zu berücksichtigen“ (2022: 140). Damit beschreibt sie treffend die analytische Herausforderung, das je nach Kontext epistemologisch unterschiedlich strukturierte „Darunter“ in seiner spezifischen Machtförmigkeit zu untersuchen.

2.Verborgenheit und Exposition

Wie die Kommentare zeigen, kann der Fokus auf Intimität zu neuen Beschäftigungen mit Dynamiken von Verborgenheit und Exposition, Privatheit und Öffentlichkeit anregen. Gerade queertheoretische Ansätze bürsten etablierte Vorstellungen in der Stadtforschung gegen den Strich, die Intimität mit dem Vertrauten assoziieren und anonymer Öffentlichkeit gegenüberstellen. Wie Benno Gammerl anschaulich zeigt, sind Anonymi­tät und Intimität aus queerer Sicht „eng miteinander verwoben“ (2022: 126). Auf strafrechtliche Verfolgung sind Praktiken zurückzuführen, bei denen Homosex als sicherer empfunden wird, „wenn die Beteiligten einander nicht beim Namen kennen“ (ebd.). Hier spielen Fantasienamen ebenso eine Rolle wie die schwule Umnutzung von Infrastrukturen wie öffentlichen Parkanlagen, Toiletten und Parkplätzen (vgl. auch Haid/Staudinger 2022; Sánchez-Molero Martínez/Kallitsis 2022). So entwickeln die Beteiligten mitunter „eine im Alltagsleben und auf individueller Ebene zeitlich und räumlich koordinierte Infrastruktur, die unterschiedliche Aspekte des Intimen voneinander trennt“ (Gammerl 2022: 126) und normdurchquerende Intimitäten zugleich ermöglicht.

Dabei ist auch der von Lucas Pohl (2022) mit Bezug auf Lacan eingebrachte Begriff der „Extimität“ gewinnbringend, der das Wechselspiel von Vertrautheit und Distanz in der Entstehung von Begehren adressiert. So kann gerade bei der anonymen Intimität des „Cruising“ oder der oberflächlichen Begegnung in öffentlichen Verkehrsmitteln eine extime Dynamik wirksam werden, in der „ein Objekt zu einer Projektionsfläche des Begehrens“ (Pohl 2022: 160) wird. Ebenso könnten wir translokale Partnerschaften, polyamouröse Netzwerke, die Swingerszene, die von Jenny Künkel (2022) angesprochenen feministischen Partyräume oder die von Elisabeth Militz (2022) thematisierten digital vermittelten Intimitätspraktiken auf extime Begehrensdynamiken befragen und damit verbundenen Infrastrukturen nachgehen. Denn all diese Begegnungs- und Beziehungsweisen greifen auf Infrastrukturen zu, die spezifische Verhältnisse von Nähe und Distanz konfigurieren – seien es Fernzüge, die für Beziehungsgespräche genutzt werden, städtische Treffpunkte, die periodisch aufgesucht werden, oder digitale Medien, die in Verkehrsmitteln wie einer kirgisischen Marschrutka genutzt werden – und Ton, Bild und Schrift der intimen Interaktion in reduzierter, ästhetisierter oder zeitlich entkoppelter (und damit auch fälschbaren, wie im Beispiel des Online-Groomings, auf das sich Militz bezieht) Weise übermitteln.

Allerdings sollte die von Lacan beschriebene Konstitution des Objekts der Begierde durch Hindernisse, die die Fantasie beflügeln, nicht totalisiert werden. Denn auch wenn eine solche Begehrensstruktur besonders in Kontexten wirksam scheint, in denen Sexualität im Bann des modernen Sexualitätsdispositivs als zugleich gefährlich und wahrheitsstiftend verstanden wird (Foucault 1977), sollten andere Begehrenskonfigurationen nicht aus den Augen verloren werden. Néstor Perlongher (1987) hat etwa schwules Cruising im Zentrum São Paulos, das in den 1970er- und 1980er-Jahren Männlichkeiten unterschiedlicher Klassen und Ethnizitäten in erotischen Austausch brachte, als „circulação desejante“ (ebd.: 156) beschrieben, als dérive-artige Zirkulation von Körpern, Waren und Begehren. Eine solche Raumpraktik kann andere Bezüge zu städtischer Infrastruktur herstellen als die von Pohl beschriebenen Projektions- und Fetischisierungsdynamiken. Hier intensiviert sich das Begehren – ähnlich den affektiven plaques tournantes (Drehscheiben/Knotenpunkten) von Paris in Guy Debords Lithographie The Naked City – im kollektiven und interaktiven Bezug auf erotisierte Körper, Materialitäten und Atmosphären (vgl. Brown 2008). Dabei spielen allerdings auch Strukturen wie Rassismus, die Pohl lediglich einleitend erwähnt, eine nicht zu vernachlässigende Rolle, bringen sie doch ganz eigene Fetischisierungen und Hindernisse mit sich.[2]

Dienen Heimlichkeit und Anonymität erlaubende Infrastruk­turen einerseits dem Schutz vor sozialer Ausgrenzung und polizeilicher Verfolgung, so ermöglichen sie andererseits auch unerwünschte Intimität und gewaltsame Übergriffe – wie Künkel (2022) am Beispiel der Vergewaltigungen und Ermordungen von indischen Dalit-Teenagerinnen im Jahr 2013 verdeutlicht oder Militz (2022) mit dem Beispiel des Online-Groomings, bei dem sich ein älterer Mann auf Instagram mit falschen Fotos als Vierzehnjähriger ausgibt, um Kontakt zu Kindern und Teenagern zu knüpfen und sie zu treffen. Inwiefern subalterne Subjekte Gewaltverhältnissen immer wieder mit Formen strategischer Selbst- und Fremdexposition begegnen, wird im Beispiel von Kemmer et al. (2022) zu Lemebels Zurschaustellung eigener queerness ebenso deutlich wie in Elisabeth Militz’ (2022) Beschreibung von „Ayoka“, die dasselbe Medium nutzt, um die von ihr beobachtete Lüge und damit verbundene sexistische Gewalt zu skandalisieren.

Eine Beschäftigung mit lust- wie gewaltvollen Intimitäten macht also Infrastrukturen als situierte Materialitäten analysierbar, die nicht nur durch die Invisibilisierung ihrer Re-/Produktionsbedingungen gekennzeichnet sind, sondern auch spezifische Formen der Verborgenheit und Exposition intimer Beziehungsweisen ermöglichen. Diese Dynamiken der Invisibilisierung und Exposition bezüglich Infrastruktur und Intimität sind allerdings umkämpft und mit Fragen rund um politische Allianzen verbunden, wie die Kommentare ebenfalls verdeutlichen.

3.Kämpfe und Allianzen

Die Kommentare zeigen zum einen, dass Infrastrukturen eine wesentliche Voraussetzung für Aushandlungsprozesse und Kämpfe rund um die gesellschaftlichen Bedingungen menschlichen und nicht-menschlichen Lebens darstellen (vgl. Butler 2016). So versteht Militz beispielsweise soziale Medien als Infrastruktur städtischer Intimität, die mehr als nur „eine zentrale digitale Technologie städtischen Zusammenlebens“ ist (2022: 150). Sie zeigt, wie Sexismus einerseits zwar durch heteronormativ geprägte algorithmische Infrastrukturen verdeckt und zugleich auf Basis desselben digitalen Mediums auch öffentlich skandalisiert werden kann (siehe auch Bonilla/Rosa 2015 zu antirassistischem „Hashtag-Aktivismus“). Andererseits rufen die Kommentare zu dieser Debatte anschaulich in Erinnerung, dass das „Infra-“ der Struktur selbst im alltäglichen Handeln ebenso wie durch politische Kämpfe sicht- und verhandelbar gemacht wird. Dadurch wird deutlich, welche Beziehungsweisen die Nutzung von Infrastruktur ermöglicht oder erschwert, aber auch, welche Beziehungsweisen durch das Unterwandern und Neugestalten von Infrastrukturen neu entstehen können.

Sarah Schilliger (2022) greift in ihrem Kommentar die auch von Laura Kemmer eingebrachte feministische Debatte rund um intime, weitgehend im Verborgenen ausgeführten Care-Arbeiten auf, bei denen eine Reihe intimer Beziehungsweisen bedeutsam sind – wie etwa besorgt sein, sich kümmern um, umsorgt werden, gemeinsam sorgen und sich aufeinander beziehen. Die kämpferische Formulierung: „Indem ihr unsere Arbeit missachtet, sperrt ihr uns weiterhin aus den Räumen der Macht aus“ (Isler/Peter 2020: 170, zit. n. Schilliger 2022: 181), verdeutlicht einmal mehr die Kritik an den kapitalistischen Re-/Produktionsverhältnissen, die mit großer Selbstverständlichkeit defizitäre städtische soziale Infrastrukturen – wie gute und für alle bezahlbare Kinderbetreuungseinrichtungen – auf Frauen* auslagern, die damit auch von wichtigen gesellschaftspolitischen Entscheidungspositionen ausgeschlossen sind.

Wie Kemmer bringt auch Schilliger das schillernde Konzept der „people as infrastructure“ ins Spiel, das AbdouMaliq Simone (2004) mit Bezug auf informelle, oft ausgesprochen kreative Praktiken sozialer Reproduktion geprägt hat, die viele Städte weltweit am Laufen halten. Ein solcher Fokus auf Infrastrukturen als „durch Menschen gemachte (provisorische) Stützen im städtischen Alltagsleben“ (Schilliger 2022: 175) kann den Blick speziell für widerständige und subalterne Praktiken schärfen wie die Care-Streiks von Müttern, aber auch selbstorganisierte Sorge­in­fra­strukturen wie Kinderbetreuungsgruppen, mutual-aid-Netzwerke und Gemeinschaftszentren. Wird in Judith Butlers Ausführungen zu Protestversammlungen „die stoffliche Seite ihrer materiellen Umgebung [...] Teil der Handlung [...] selbst“ und „zur Stütze des Handelns“ (2016: 98), so werden Infrastrukturen für Schilliger weitergehend zu einem „Mittel zur Durchsetzung von Ansprüchen sowie zur Verwirklichung politischer Imaginationen […], das heißt […] eine[r] Form des Eingreifens in das Bestehende“ (Schilliger 2022: 176). Das gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnissen zugrunde liegende Infra-Strukturelle wird so zu deren Neugestaltung genutzt. Damit verdeutlicht das Konzept von people as infrastructure nicht nur, dass Menschen mit ihren Körpern und Praktiken längst eigene Systeme erschaffen haben, die soziale Reproduktion auch in Kontexten hochgradiger Prekarisierung ermöglichen (vgl. von Wissel 2017), sondern dass sie dieser Prekarisierung auch dadurch entgegentreten, dass sie als politische Subjekte – in enger Verbindung mit technischen Systemen, aber eben nicht als solche – agieren.

Ein besonderes Potenzial von Kämpfen um intimitätsgestaltende Infrastrukturen sehen mehrere Kommentator_innen in den Allianzen, die Infrastrukturen nahelegen. Denn Kämpfe um Transportsysteme, digitale Netzwerke oder soziale Einrichtungen machen das je spezifische Angewiesensein aller Menschen auf Systeme deutlich, die Verbindung und Austausch ermöglichen und regulieren (vgl. Butler 2016). In diesem Sinne kann für Sarah Schilliger (2022) durch die Beschäftigung mit Infrastrukturen ein liberal-individualistisches Bürgerschaftsverständnis erweitert werden, das auch Jenny Künkel (2022) mit Bezug zu schwarzen und indigenen abolitionistischen Praktiken kritisiert. Denn Sorge­prak­tiken und das Geltendmachen sozialer Rechte vollziehen sich im Rückgriff auf materielle Vorbedingungen, die immer auch für andere als die konkret betroffenen, Rechte einfordernden Subjektivitäten von Belang sind. Dies zeigen auch Schilligers (2021) Überlegungen zu „Infrastrukturen der Solidarität“ im antirassistischen Aktivismus. Derartige Infrastrukturen entstehen etwa im Kampf gegen Racial Profiling durch „ein vielfältiges Ensemble von Akteur_innen“, die einander mit Respekt und wechselseitiger Fürsorge begegnen (ebd.: 238).

Konkret betrifft die Frage nach politischen Allianzen etwa die „zwischen Hausfrauen, migrantischen Hausarbeiterinnen, Sexarbeiterinnen und prekären Arbeiterinnen“ (Schilliger 2022: 176). Laura Kemmer erweitert den Blick auf die intimen Bezüge zu verschiedenen materiellen Dimensionen. In ihrer Ethnographie der Proteste nach dem Wegfall der letzten Straßenbahnlinie in Rio de Janeiro zeigt sie, wie sich Bewohner_innen gegen die Gentrifizierung ihres Stadtteils wehren, indem sie eine Großbaustelle bepflanzen, bespielen und sich auch performativ-künstlerisch mit ihren Protesten, Nutzungen und gelebten Körperlichkeiten aneignen. Dabei wird in ihrer Beschreibung der Aktionen rund um Asphalt und dessen Löcher besonders deutlich, dass für Kämpfe um Infrastruktur auch speziell körperlich-sinnliche Bezüge zu technischer wie ökologischer Materialität von Bedeutung sein können:

„Im Rahmen der gemeinsamen Aktivitäten um die Straßenlöcher […] wurden Geschichten und praktische Erfahrungen ausgetauscht: über die Bedeutung saisonaler Rhythmen (z. B. Regenzeiten, Hitzeperioden), die Beschaffenheit des Bodens (fruchtbar, wasserleitend, kühlend); darüber, wie die Planung der historischen (Ab-)Wasserinfrastruktur […] die aktuellen Bauprojekte durchkreuzt (undichte Rohre) […].“ (Kemmer 2022: 121)

Wird hier einerseits die enge Verflechtung sozialer, materieller und ökologischer Beziehungen offenkundig, wie sie auch mit dem lateinamerikanischen Begriff cuerpo-territorio umrissen wird (z. B. Zaragocin/Caretta 2021), so geht es zugleich um weitergehende Fragen der Stadtentwick­lungs­poli­tik: Die performativ-körperlichen Interventionen wenden sich ebenso gegen eine „Asphaltierung“, die in Rio auch „synonym mit staatlicher Kontrolle, ‚Zivilisierung‘ und gewaltsamer Stadterneuerung“ (Kemmer 2022: 122) verstanden wird. Kämpfe um Infrastruktur als multipel verkörperte Kämpfe um die Ausgestaltung und Aneignung von Dingen, Räumen und Systemen können so betrachtet weit über zunächst augenscheinliche Versorgungs-, Kommunikations- oder Transportfragen hinausgehen.

Dabei ist es allerdings nötig, auch die konkreten Beziehungsweisen, die sich in derartigen Allianzen herausbilden, in den Blick zu nehmen. Hinter seine Überlegungen zu Allianzen rund um homoerotisches Begehren auf dem Land setzt Benno Gammerl (2022: 130 f.) angesichts manifester Klassenspaltungen ein Fragezeichen. Und Jenny Künkel (2022) warnt vor hehren Ansprüchen alternativ-transformativer Gerechtigkeitspraktiken in linken feministischen Kontexten, die immer wieder in individualisierende, punitive Logiken umschlagen, bei denen die gesellschaftlichen Zwänge und infrastrukturell vermittelten Ungleichheiten aus dem Blick geraten.

4.Das Spiel geht weiter

Ziel dieses Gedankenspiels war es, die kritische Stadtforschung gegen den Strich zu bürsten, indem wir einen Fokus auf intimitätsgestaltende Infrastrukturen richten. Dazu haben wir das Verflochtensein dieser Infrastrukturen in Macht- und Herrschaftsformen ebenso wie widerständige Intimitäts- und Infrastrukturpraktiken in den Blick genommen und dabei an Arbeiten angeknüpft, die Affekte, Begehren, soziale Reproduktion und gesellschaftliche Beziehungsweisen als konstitutiv für gesellschaftliche Verhältnisse verstehen. Die weiterführenden Überlegungen und Interventionen, die unsere wunderbaren Kolleg_innen aus ganz unterschiedlichen disziplinären, analytischen und thematischen Blickwinkeln beigetragen haben, zeigen, wie facettenreich und zugleich überfällig diese Debatte in der deutschsprachigen kritischen Stadtforschung ist. Zugleich haben sie verdeutlicht, dass bereits eine Vielzahl Stadtforschender mit uns bürsten.

Gerade Ansätze, die sich mit Care-Arbeit befassen, aber auch Diskussionen zu Digitalisierung und mehr-als-menschlichen Stadtgeographien bringen allerdings einen recht weit gefassten Intimitätsbegriff ins Spiel, der jegliche Art der „Interaktion und existenzielle[n] Involviertheit des eigenen Körpers mit nicht-menschlichen (materiellen, organischen usw.) Anderen im städtischen Alltag“ (Kemmer 2022: 123) einzuschließen scheint. Vielleicht wird hier die Bürst- bzw. Stoßrichtung der Debatte teils etwas zu schnell geändert, nämlich so, dass Unterschiede zwischen Intimität und Distanz verwischen. Sind alle Sorgearbeiten gleich „intim“ – auch wenn sie etwa im Stakkato und mit einer Reihe von kontaktminimierenden Schutzdispositiven (Handschuhen, Mänteln, Atemmasken …) ausgeführt werden? Welche Effekte auf Intimitätsverhältnisse mit Boden und Erde haben der Einsatz technischer Geräte oder das kosmologische Verständnis der geologischen Materie? Welche Potenziale ergeben sich aus der Fähigkeit zur Distanzierung und Zurückweisung von Intimität?

Ansätze, die Fragen des Begehrens zentrieren, scheinen hier nuancier­tere Beschreibungen zu eröffnen, etwa wenn Benno Gammerl darauf verweist, „dass Intimität verschiedene Aspekte und Ebenen hat, die sich nicht unbedingt zu einem konsistenten Ganzen fügen“ (Gammerl 2022: 127). Daher plädieren wir für eine „Kartographie“ (Guattari/Rolnik 2008) intimitätsgestaltender Infrastrukturen, die die soziotechnische Ebene im Schnittfeld subjektiver und gesellschaftlicher Dimensionen begreift. Inwiefern haben etwa Schwule die Umnutzung öffentlicher Toiletten zugleich aufgrund digitaler Datingplattformen, der Privatisierung und konsumförmigen Ausrichtung städtischer Verkehrs- und Versorgungsinfrastrukturen und der Veränderung sexueller Subjektivitäten eingeschränkt? Welche Konfigurationen von Intimität, Infrastruktur und Stadtraum entstehen im Kontext neuer Formen von „sex in public“ (Berlant/Warner 1998) – und auch durch die Zurückweisung urbaner Sexualitätsimperative? Bini Adamczaks Begriff der „Beziehungsweisen“ (2017) erweiternd, könnten wir diese Fragen vielleicht auch als Fragen nach gesellschaftlichen „Verbindungsweisen“ stellen, um infrastrukturell vermittelte intime Verbindungen hervorzuheben, die Kemmer (2022) auch mit dem interessanten Begriff des „bonding“ adressiert. (Ob dies allerdings mit der Frage „Was hält die Stadt zusammen?“ [ebd.] gleichzusetzen ist, die an klassische Kohäsionsansätze erinnert, wäre zu diskutieren.)

Gewiss konnte unsere gemeinsame Debatte nur einen Ausschnitt der infrastrukturell gestützten und über Infrastruktur verhandelten Verbindungsweisen adressieren, die für die kritische Stadtforschung bedeutsam sind. Nicht zuletzt könnte diese Debatte auch in Richtung der Frage nach den Bedingungen der Wissensproduktion weitergeführt werden, die diese Zeitschrift beständig begleitet. Denn Infrastrukturen spielen eine wesentliche Rolle für die Produktion von Wissen über städtische Intimität (vgl. Militz 2022). Wir hoffen, dass diese Debatte die kritische Wissensproduktion in der Stadtforschung weiter anregt und das „Gedankenspiel“ weitergeführt wird, das sich schon auf vielfältige Weise materialisiert hat.

sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung

2022, 10(2/3), -196

doi.org/10.36900/
suburban.v10i2/3.846

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0

Debatte zu:

Jan Hutta, Nina Schuster:
„Infrastrukturen
städtischer Intimität“

Kommentare von:

Benno Gammerl, Laura
Kemmer, Jenny Künkel,
Elisabeth Militz, Lucas
Pohl, Sarah Schilliger

Replik von:

Jan Hutta, Nina Schuster

Anhang

Die Technische Universität Dortmund unterstützt die Publikation dieses Beitrags durch eine institutionelle Vereinbarung zur Finanzierung von Publikations­gebühren.

Endnoten

[1] Siehe dazu etwa Chua (2021), Williams, Bouzarovski und Syngedouw (2019) und die Beiträge von Flitner, von Barlösius und Spohr sowie von Beveridge und Nau­mann in Flitner, Lossau und Müller (2017). Neben depolitisierenden Tendenzen jüngster „Turns“ könnte eine teils fehlende gesellschaftstheoretische Einbettung der Debatte um Infrastrukturen auch damit zu tun haben, dass sich gesellschaftstheorieprägende Disziplinen wie Soziologie oder politische Philosophie noch zu wenig an dieser Debatte beteiligt haben – oder daran, dass gesellschaftstheoretisch informierte Beiträge in Disziplinen wie Geographie, Anthropologie und Raumplanung bisher zu wenig Beachtung finden.

[2] Néstor Perlongher (1987) arbeitet in seiner Studie zu São Paulo etwa die Effekte rassistischer Polizeikontrollen einerseits und jene des Rassismus innerhalb der Schwulenszene andererseits heraus.

Autor_innen

Jan Hutta ist Geograph und beschäftigt sich mit räumlichen Formationen von Macht und Citizenship sowie queeren Politiken, u. a. im brasilianischen Kontext.

jan.hutta@uni-bayreuth.de

Nina Schuster ist Soziologin und forscht zu Stadt, Raum und sozialer Ungleichheit, Differenz und Konflikt, oft mit queer/feministischen Methodologien.

nina.schuster@tu-dortmund.de

Literatur

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Berlant, Lauren / Warner, Michael (1998): Sex in public. In: Critical Inquiry 24/2, 547-566.

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Chua, Charmaine (2021): Lineages of infrastructural power. The logistical nightmare of Los Angeles. In: Daniel B. Monk / Michael Sorkin (Hg.), Between catastrophe and revolution. Essays in honor of Mike Davis. New York: OR Books.

Flitner, Michael / Lossau, Julia / Müller, Anna-Lisa (Hg.) (2017): Infrastrukturen der Stadt. Wiesbaden: Springer VS.

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Haraway, Donna J. (2007): When species meet. Minneapolis: University of Minnesota Press.

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Künkel, Jenny (2022): Infrastruktur, Intimität und Konsens. Fragen verdichteter Kräfteverhältnisse. Kommentar zu Jan Hutta und Nina Schuster „Infrastrukturen städtischer Intimität“. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 10/2-3, 133-147.

Mesquita, Sushila (2011): Ban marriage! Ambivalenzen der Normalisierung aus queer-feministischer Perspektive. Wien: Zaglossus.

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Schilliger, Sarah (2021): Infrastrukturen der Solidarität gegen racial profiling. In: Niki Kubaczek (Hg.), Die Stadt als Stätte der Solidarität. Wien: transversal texts, 229-255.

Schilliger, Sarah (2022): Städtische Care-Infrastrukturen zwischen Küche, Kinderspielplatz und Kita. Kommentar zu Jan Hutta und Nina Schuster „Infrastrukturen städtischer Intimität“. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 10/2-3, 171-183.

Simone, AbdouMaliq (2004): People as infrastructure: Intersecting fragments in Johannesburg. In: Public Culture 16/3, 407-429.

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