sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 463-474

doi.org/10.36900/suburban.v11i3/4.860

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Das Wohnungsbauprogramm GUS 1990-1996

43 Siedlungen in Russland, Belarus und der Ukraine – Überblick und Einordnung

Jakob Holzer

Bevor Russland am 24. Februar 2022 Russland seinen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine ausweitete, hatte es Kriegsmaterial an seinen Militärstützpunkten in der Nähe der Ukraine zusammengezogen (Gutschker 2022). Einige dieser Standorte waren Teil eines Wohnungsbauprogramms, für das mehrere Bezeichnungen existieren. Ich verwende in diesem Artikel die Bezeichnung „Wohnungsbauprogramm GUS“ (Deutscher Bundestag 1992: 48). Obwohl die „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS) mehrere Staaten der früheren Sowjetunion umfasste, sah das Programm nur Wohnungen in Russland, Belarus und der Ukraine vor. Die Ukraine trat zudem 2018 aus der GUS aus. Im Tausch für den Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der ehemaligen DDR hatte die BRD in der Sowjetunion dieses Wohnungsbauprogramm für zurückkehrende Soldaten finanziert. Dieses war Bestandteil des 1990 beschlossenen Zwei-plus-Vier-Vertrags sowie des Überleitungsabkommens zwischen der BRD und der Sowjetunion (BMJ 1990a, 1990b). Es handelt sich um die größte Einzelinvestition der staatlichen deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) seit ihrer Gründung 1948.

Dieser Beitrag untersucht das Wohnungsbauprogramm GUS, dessen Standorte heute in Russland, Belarus und der Ukraine liegen. Nach einem grundlegenden Überblick über das Programm und seine Siedlungen fokussiert der Artikel die Frage, welche städtebaulichen Leitbilder den Bau der insgesamt 43 Siedlungen in Russland, Belarus und der Ukraine beeinflussten. Von welchen gesellschaftlichen Vorstellungen war der Bau der Siedlungen in der Umbruchphase beeinflusst? Vor allem ist zu fragen: Sind die Siedlungen noch Teil der sozialistischen Stadt?

Nachfolgend beschreibe ich zunächst die Vorgehensweise und Methodik meiner Forschung. Im darauffolgenden Abschnitt beschreibe ich das Leitbild der sozialistischen Stadt. Anschließend zeichne ich den Aufbau des Wohnungsbauprogramms GUS nach und daran anknüpfend stelle ich die Charakteristika der Siedlungen des Programms heraus. Abschließend diskutiere ich die Einordnung der Siedlungen in das Leitbild der sozialistischen Stadt.

Die empirische Forschung im Rahmen meiner Diplomarbeit an der Technischen Universität Wien stand dabei vor großen Herausforderungen: Die Coronapandemie verhinderte Besuche vor Ort und Sperrfristen sowie Materialvernichtung schränkten den Zugang zu Primärquellen ein. Zudem war das Wohnungsbauprogramm GUS bis dato nicht auf das Interesse der historischen und postsozialistischen Stadtforschung gestoßen. Dennoch konnte ich Material aus drei Archiven in Deutschland und der Ukraine auswerten. Aus diesem identifizierte ich 105 Akteur:innen des Programms. Daraus ergaben sich fünf leitfadengestützte Expert:inneninterviews mit am Bau beteiligten Personen sowie vier Telefonate. Während ich die Expert:inneninterviews transkribiert und nach Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet habe, waren die Telefonate kurze ergänzende Gespräche, von denen ich lediglich Gedächtnisaufzeichnungen angefertigt habe. Zusammen ermöglichten mir Interviews und Gespräche einen umfangreichen Einblick in das Wohnungsbauprogramm.

Als Forschungsrahmen wählte ich einen infrastrukturzentrierten Ansatz nach Tauri Tuvikene et al. (2020). Mit diesem lassen sich anhand von Infrastrukturen eingeschriebene gesellschaftliche Werte erkennen, die bis heute wirken sowie veränderte Governance-Strukturen und selektive Modernisierungen nachzeichnen (ebd.: 576). Drei Aspekte dieses Forschungsansatzes waren für meinen Blick auf postsozialistische Transformationen von besonderem Interesse: 1. Die Stabilität von Infrastrukturen über Systembrüche hinweg, 2. Verbindungs- und Trennungsfunktionen und 3. gesellschaftliche und politische Vorstellungen, die die Form und Funktion von Infrastrukturen beeinflussen (ebd.). Infrastrukturen sind materiell und spielen eine zentrale Rolle für das ökonomische, soziale, ökologische und kulturelle Wohlergehen einer Stadt. Dazu zählen vor allem Transportinfrastrukturen, grüne Infrastrukturen und Wohninfrastrukturen (Sgibnev et al. 2019: 5).

Für die Forschung in den Siedlungen war der Verweis von Wladimir Sgibnev et al. (ebd.: 7) wichtig, dass das sozialistische Erbe nicht nur materiell in Gebautem, sondern auch nicht-materiell in Praktiken und Institutionen sichtbar ist. Ich verstehe daher vier Elemente der Siedlungen als Infrastrukturen: 1. Besitzverhältnisse und Wohnraumdistribution, 2. öffentlicher Raum und Verkehr, 3. soziale Einrichtungen, 4. Städtebau und Architektur. Diese vier Untersuchungsdimensionen waren einerseits gute Anknüpfungspunkte an das Leitbild der sozialistischen Stadt, andererseits ermöglichten sie mir eine aussagekräftige Unterscheidung zwischen den Siedlungen. Dies vor dem Hintergrund, dass die technische Ausgestaltung der 43 Siedlungen weitestgehend gleich ist. Meine Untersuchung konzentrierte sich auf zwei Beispielsiedlungen, die exemplarisch für alle anderen Siedlungen des Programms stehen: Ross-2 in Ross in Belarus und Makulan in Krywyj Rih in der Ukraine.

1. Die sozialistische Stadt

Die Ähnlichkeit der Siedlungen des Wohnungsbauprogramms GUS mit den Charakteristika der sozialistischen Stadt führt zu der These, dass beim Bau der Siedlungen dieses Leitbild zur Umsetzung kam. Die sozialistische Stadt ist vor allem das Leitbild einer „marxistisch geprägten Stadt- und Lebensgestaltung“, wie Philipp Meuser (2015: 63 f.) die Ideen von Nikolaj Miljutin, einem der ersten Theoretiker sozialistischer Städte in den 1930er Jahren, beschreibt. Ihr äußeres Erscheinungsbild hat die sozialistische Stadt im Laufe der Jahre verändert – vom stalinistischen Bauen über die Moderne hin zur sozialistischen Postmoderne. Die hinter dem Leitbild stehenden Strategien und Politiken sind jedoch in der Sowjetunion sowie in allen unter sowjetischem Einfluss stehenden Ländern Mittel- und Osteuropas weitestgehend gleich geblieben (Koch 2010: 114 ff.; Underhill 1990: 263).

Nach einem baupolitischen Kurswechsel unter Chruschtschow war ab den 1960er Jahren der zentrale Ausgangspunkt der sozialistischen Stadt der mikrorajon, eine eigene städtebauliche Einheit außerhalb der Kernstadt mit zwischen 5.000 und 20.000 Einwohner:innen. Mehrere mikrorajone formten zusammen einen Wohnbezirk und mehrere Wohnbezirke einen Stadtbezirk innerhalb einer vorhandenen Stadt. Die Größe der städtebaulichen Einheiten, aber auch ihre Ausstattung und Verkehrsanbindung sowie weitere Vorgaben waren in den sowjetischen Baunormen und Bauvorschriften (stroitelnye normy i prawila, SNiP) festgelegt. (Meuser 2015: 391; Underhill 1990: 276 ff.)

Der Wohnbezirk als übergeordnete Ebene des mikrorajons beinhaltete Gesellschaftsbauten mit einem größeren Einzugsgebiet ebenso wie Einrichtungen von stadtweiter Bedeutung. Dazu zählten Polikliniken, weiterführende Schulen und Sportzentren. Von anderen Stadtteilen waren Wohnbezirke durch natürliche Grenzen oder große Hauptstraßen getrennt. Die mikrorajone gruppierten sich um fußläufig erreichbare Einrichtungen des täglichen Bedarfs wie Schulen, Kindergärten und Apotheken, aber mit zunehmendem Fokus auf Konsumgüterproduktion und Erhöhung der Lebensqualität auch um Einkaufsmöglichkeiten und Cafés (SNiP 1992: 4 ff.).

Ideologisch war die Architektur damit nicht mehr durch die Form, sondern durch den Inhalt definiert, woraufhin sich der Fokus „von ästhetischen Fragen des Bauens auf das Wohnungsbauprogramm verlegte“ (Hoscislawski 1991: 299). Die Bebauungsstruktur der mikrorajone folgte der „Logik der Montagekräne“ (Meuser 2015: 387): eine Verwendung von Typenbauten, meist in Zeilen angeordnet, später auch in etwas freieren Formen, akzentuiert durch Punkthochhäuser. Der öffentliche Raum in der sozialistischen Stadt war ideologisch aufgeladen und betonte das Kollektiv. Der Autoverkehr spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Priorisiert wurde der öffentliche Verkehr – vor allem für das Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort: „The Soviet Union was probably the best thing that could ever happen to public transport“, so Tuvikene et al. (2020: 579). Dennoch folgten die Siedlungen den modernistischen Idealen der Funktionstrennung und der autogerechten Stadt (Meuser 2015: 62).

Die Versorgung der Menschen mit Wohnraum erfolgte in der Sowjetunion – sofern privater Hausbau nicht infrage kam – über Wartelisten, also unabhängig von ökonomischen Kriterien. Dies sorgte zwar für eine soziale Durchmischung der Wohngebiete, machte die Zuteilung allerdings sehr anfällig für Korruption: Einige Betriebe – wie auch das Militär – versorgten ihre Angehörigen über eigene Wohnungen und Wartelisten mit Wohnraum (Petrova 2020: 50 ff.).

2. Das Wohnungsbauprogramm GUS

Zwischen 1990 und 1996 errichtete eine Vielzahl (überwiegend westlicher) Bauunternehmen nach einer internationalen Ausschreibung mehr als 45.000 Wohnungen an insgesamt 43 Standorten in Russland, Belarus und der Ukraine (siehe Abb. 1). Insgesamt investierte die Bundesrepublik 8,35 Milliarden D-Mark in das Wohnungsbauprogramm für rückkehrende Soldaten der sowjetischen Streitkräfte (BMJ 1990b: 1282; Harries 1998: 184). Direkt nach Vertragsabschluss des Überleitungsabkommens 1990 begannen die Planungen. Nach anfänglichen Zwistigkeiten über die Vorgehensweise sowie Vorstößen der Sowjetunion und der deutschen Bauwirtschaft wurde schließlich eine gemeinsame sowjetisch-deutsche Organisation zur Steuerung und Abwicklung des Programms vereinbart. Ein neues Konfliktfeld eröffnete sich mit der Desintegration der Sowjetunion, die umfangreiche Umplanungen des Programms mit sich brachte. Russland führte als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion die vorhandenen Strukturen fort. Mit Belarus und der Ukraine schloss es jeweils bilaterale Verträge zur Fortführung des Programms (Harries 1998: 186; Interview Klym: 5; Interview Pfister: 6).

Federführend waren auf deutscher Seite das Bundeswirtschaftsministerium und auf sowjetischer (und später russischer) Seite das Verteidigungsministerium. Ein gemeinsamer Lenkungsausschuss fällte strategische Beschlüsse und überwachte das Programm (BMJ 1990b: 1657). Mit der Umsetzung dieser politischen Beschlüsse wurden fachspezifische Institutionen beauftragt: Die deutsche KfW war für die finanzielle Abwicklung des Programms verantwortlich. Als Bauherr trat die wohnungswirtschaftliche Hauptverwaltung des sowjetischen Verteidigungsministeriums auf. Sie war zuständig für die Planung und die Leitung der Planungsinstitutionen. Herzstück des Programms war das „Consulting Konsortium Wohnungsbau UdSSR“ (CWU), das im Auftrag des sowjetischen Verteidigungsministeriums das Vorhaben plante, durchführte und überwachte sowie die Ausschreibungen managte. Dabei mussten diverse sowjetische Normen wie die SNiP berücksichtigt werden (Harries 1998: 184 f.; Konang 1994: 24 f.).

Jede einzelne der 43 Siedlungen wurde funktional ausgeschrieben. Nachdem der Bauherr sich für einen Standort entschieden hatte, legte er „nicht nur Zahl und Größe der Wohnungen, sondern auch die künftige soziale Infrastruktur“ fest (Konang 1994: 30). Bei der Wahl der Bauweise, der Architektur und des Städtebaus hatten die jeweiligen Bauunternehmen jedoch freie Hand (Interview Klym: 4). Gewann ein Bauunternehmen eine Ausschreibung, so war es verpflichtet, 20 Prozent seines des Auftragsvolumens an ostdeutsche Unternehmen zu vergeben (Deutscher Bundestag 1991: 9). Es gab zahlreiche verschiedene Bauunternehmen. Neben deutschen wie Hochtief oder Züblin waren auch welche aus Österreich (Hofman & Maculan), Finnland (Haka), Südkorea (Samsung) oder der Türkei (Baytur, Enka) am Bau von Siedlungen beteiligt (Konang 1994: 53).

3. Die Siedlungen

Räumlich sind die 43 Siedlungen weit verteilt. Vier davon befinden sich in der Ukraine, sieben in Belarus und die restlichen 32 in Russland. Aufgrund militärischer Überlegungen ist dabei eine gewisse Konzentration der Siedlungen in den jeweiligen westlichen Landesteilen zu beobachten (siehe Abb. 1). Anfangs, also noch zu Zeiten der Sowjetunion, sollte ein Großteil der Siedlungen in Belarus und in der Ukraine errichtet werden. Nach Auflösung der Sowjetunion Ende 1992 wurde umgeplant. Dabei wurde die Anzahl der Siedlungen in der Ukraine reduziert sowie der Schwerpunkt der Siedlungen in Russland in Richtung Kaukasus verlegt. In Belarus gab es hingegen keine nennenswerten Änderungen; hier waren die Siedlungen 1992 bereits fertiggestellt oder im Bau (Interview Pfister: 7; Litowkin 2004). Die einzelnen Siedlungen befinden sich sowohl in Großstädten wie Krywyj Rih (Ukraine), in Mittelstädten, aber auch in Kleinstädten und Dörfern wie Ross (Belarus). Dabei liegen sie fast ausschließlich an den Siedlungsrändern und in der Nähe von Militärstandorten. Ihre Größe reicht von 600 Wohneinheiten (ca. 1.500 Einwohner:innen) bis 2.000 Wohneinheiten (ca. 5.300 Einwohner:innen, siehe Abb. 1). Die Siedlungen sind damit deutlich kleiner als typische mikrorajone. Andererseits ist die Ausstattung mit Gesellschaftsbauten deutlich besser. Neben den obligatorischen Schulen und Kindergärten finden sich dort auch Schwimmbäder, Polikliniken und Dienstleistungszentren mit übergeordneter Funktion. Ein Haus der Offiziere (dom ofizierow) genanntes Kulturhaus bildet meist den kulturellen Mittelpunkt. Die alleinstehenden Siedlungen sind autark und nicht in das System aus mikrorajon, Wohnbezirk und Stadtbezirk eingegliedert.

Abb. 1 Siedlungen des Wohnungsbauprogramms GUS (Quelle: Jakob Holzer, Kartengrundlage: Openstreetmap-Mitwirkende).
Abb. 1 Siedlungen des Wohnungsbauprogramms GUS (Quelle: Jakob Holzer, Kartengrundlage: Openstreetmap-Mitwirkende).

Die beiden exemplarisch untersuchten Siedlungen unterscheiden sich merklich voneinander: Die Siedlung Makulan im ukrainischen Krywyj Rih mit 1.500 Wohneinheiten erinnert an eine klassische Plattenbausiedlung. Die durchgrünten Innenbereiche werden heute zum Abstellen von Autos genutzt. Die abseits der neunstöckigen Wohnbauten liegenden Gesellschaftsbauten erzeugen kein urbanes Flair; sie stehen teilweise leer. Städtebaulich war die Siedlung bereits zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung 1992 veraltet. Die Siedlung Ross-2 in Ross in Belarus mit 826 Wohneinheiten liegt in einer Kleinstadt. Sie macht einen eher beschaulichen Eindruck. Für Autos gibt es – für sowjetische Verhältnisse äußerst ungewöhnlich – eine kleinteilige Parkplatzordnung. Zentral durch die Siedlung verläuft eine autofreie Esplanade, die in einen amphitheaterähnlichen Platz mündet. Die Gesellschaftsbauten rund um den Platz vermitteln eine urbane Atmosphäre. Die Gestaltung der Gebäude mit vor- und rückspringenden Fassaden, aber auch mit Giebeln und Türmchen erfolgte im Stil der sozialistischen Postmoderne.

Anders als die mikrorajone sind die meisten der 43 Siedlungen nur mit marschrutkas (Minibussen) ans öffentliche Verkehrsnetz angebunden. Eine Anbindung an das Straßenbahn- oder Trolleybusnetz wurde nirgendwo verwirklicht. Der öffentliche Verkehr in Ross-2 ist rudimentär, nach Makulan fährt seit 2019 – zusätzlich zu den vorhandenen marschrutkas – auch ein Stadtbus. Auch die Bauweisen der beiden Siedlungen unterscheiden sich: In Krywyj Rih kam unter Federführung österreichischer und tschechoslowakischer Unternehmen die Tunnelschalbauweise zum Einsatz. In Ross findet sich eine eigene Version der belarussischen Plattenbauserie 90 – entwickelt vom ostdeutschen Auftragnehmer und einem lokalen Plattenbaukombinat (Interview Schnelle: 6; Nitschkasow 2003; Skydanow 1992). Die Zuteilung der Wohnungen erfolgte – wie schon in der Sowjetunion – über Listen, hauptsächlich an Offiziere. Verantwortlich dafür war die jeweilige Wohnungsverwaltung der Streitkräfte (Interview Klym: 8; Litowkin 2004).

4. Militärische Logik

Sind die Siedlungen nun sozialistische Städte? Tuvikene et al. (2020) argumentieren, dass der Fokus auf Infrastrukturen – gerade aufgrund ihrer Starrheit – wichtige Verbindungen zur Vergangenheit aufzeigt: „The past is not merely something that was there, nor something that persists to the present through path dependence. Instead, the past constitutes a sphere of possibilities, which are not locked to their position, but can revived or revitalised.“ (ebd.: 576) Für die Siedlungen kann festgestellt werden, dass sich durch neue Akteur:innenstrukturen beim Bau zwar die stadtpolitischen Rahmenbedingungen wandelten (Koch 2010: 198). Stadtstrukturelle Veränderungen gegenüber der sozialistischen Stadt können bei den Siedlungen des Wohnungsbauprogramms GUS hingegen nicht ausgemacht werden. Die Siedlungen sind in ihrer Konzeption als Großwohnsiedlungen mit dazugehörigen Gesellschaftsbauten klar als mikrorajone erkennbar. Städtebaulich-architektonisch fügen sie sich nahtlos in die sowjetische Baukultur mit ihrem Fokus auf die Moderne ein. Die Anwendung der sowjetischen städtebaulichen Normen (SNiP) beim Bau ist deutlich sichtbar. Für die Zugehörigkeit zur sozialistischen Stadt spricht auch die Zuteilung der Wohnungen über Listen jenseits ökonomischer Kriterien.

Formal entsprechen die Siedlungen des Wohnungsbauprogramms also durchaus den Vorstellungen der sozialistischen Stadt. Thomas Hoscislawski (1991: 299) weist auch darauf hin, dass die sozialistische Stadt seit den 1960er Jahren nicht mehr formal, sondern inhaltlich definiert war. Wladimir Sgibnev und Tonio Weicker (2019: 196) betonen, dass Infrastrukturen nicht allein deshalb als sozialistisch zu charakterisieren sind, nur weil sie im Sozialismus entstanden und bis heute existieren. Angesichts der Forderung, das Zurückliegende als produktive Vergangenheit zu begreifen, der eine Fülle an Möglichkeiten zur Verfügung stand, rückt die politische Intention hinter dem Programm in den Vordergrund.

Allerdings wurde das Leitbild der sozialistischen Stadt in keinem der Interviews oder Gespräche erwähnt, die ich führte. Vielmehr wurde darin deutlich, dass die schnelle Schaffung von Wohnraum vor allem anderen stand (Interview Pfister: 4). Zum Zeitpunkt des Baus der meisten Siedlungen war der Sozialismus politisch betrachtet vorbei – die Sowjetunion befand sich bereits mitten im Prozess ihrer Auflösung. Der Sozialismus als ideologische Leitfigur spielte bei der Planung der Siedlungen daher keine Rolle. Vielmehr standen ökonomische, zeitliche und technische Aspekte im Vordergrund. Spannend ist hier der Blick auf die Entscheidungsstrukturen innerhalb des Programms: Während sich die deutsche Seite um Finanzierung, Abwicklung und Organisation kümmerte, bestimmte die sowjetische (und später die russische) Seite hard facts wie die Auswahl und Ausstattung der Standorte. Diese erfolgten allein nach militärischen Gesichtspunkten. Das zeigt etwa die Nähe der Siedlungen zur militärischen Infrastruktur, aber auch die veränderte Standortwahl in Zusammenhang mit der neuen militärisch-geopolitischen Ausgangslage nach der Auflösung der Sowjetunion. Da es rund um die Siedlungen an anderweitiger wirtschaftlicher Infrastruktur fehlt, ist das Militär die alleinige Daseinsberechtigung für die Siedlungen. Das schlägt sich in der Identität der Siedlungen nieder. Im öffentlichen Raum ist ausrangiertes Militärgerät zu sehen. Auch Straßennamen, öffentliche Gebäude oder die Namen der Siedlungen selbst verweisen auf ansässige Truppenteile oder allgemein auf Militärisches. Die Bundesrepublik finanzierte freilich nur zivile Infrastruktur. Klar ist aber auch, dass Militärstandorte durch die Siedlungen und ihre gute Ausstattung gestärkt wurden und für die drei Länder jeweils diverse Möglichkeiten zur militärischen Entwicklung schufen. Diese Möglichkeiten verblieben nach Tuvikene et al. (2020) nicht in der Vergangenheit, sondern können noch heute aktiviert und erneuert werden.

Der völkerrechtswidrige Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine macht dies deutlich. Während die Siedlung im ukrainischen Krywyj Rih am 24. Februar 2022 aufgrund des Beschusses mit russischen Raketen evakuiert werden musste, sind die in Russland liegenden Militärstandorte mit Siedlungen des Wohnungsbauprogramms Teil der Infrastruktur für den Krieg. Seit 2015 nutzt Russland Standorte wie Bogutschar, Woronesch oder Jelnja zum Aufbau neuer Divisionen und aktuell für seine Kriegslogistik (Gutschker 2022; Richter 2021: 2).

5. Fazit

Aus einer infrastrukturzentrierten Sicht wird klar, dass die Siedlungen des Wohnungsbauprogramms GUS formal dem Leitbild der sozialistischen Stadt entsprechen und innerhalb dessen formalen Rahmens blieben. Inhaltlich fehlt jedoch jegliche Bezugnahme auf die Ideen des Sozialismus. Trotz ihrer zivilen Funktion sind die Siedlungen – bereits von Anfang an – eng mit den jeweils naheliegenden Militärstützpunkten sowie mit dem militärischen Leben und Arbeiten verknüpft und müssen daher als deren Teil angesehen werden.

Was sind die Siedlungen nun? Sie sind ideologisch leere sozialistische Städte vermindert um die Ideen des Sozialismus. Doch was ist das? Ein leeres Gebilde, eine Anordnung von Baukörpern nach Normen, Richtlinien und Gesetzen. Was Identität stiftet und Halt gibt, ist nicht mehr der Sozialismus, der eine frohe Zukunft verheißt, sondern der Bezug zum Militär.

Insgesamt weist diese letzte Phase des sowjetischen Städtebaus einige Leerstellen auf. Das Wohnungsbauprogramm GUS mit seinen 43 Siedlungen oder 45.000 Wohnungen in drei Ländern bedarf weiterer Forschung. Mit Hinblick auf den anstehenden Wiederaufbau in der Ukraine können hieraus wichtige Erkenntnisse erwachsen.

Letztlich bleibt anzumerken, dass das Programm eines gezeigt hat: Auch in krisenhaften Situationen und unter großem politischen und zeitlichen Druck ist qualitätsvoller Städtebau möglich. Mit Blick auf die Zukunft bleibt zu hoffen, dass die Mittel künftig in Projekte investiert werden, die den Menschen vor Ort und rundherum auch noch 30 Jahre später ein schönes und sicheres Leben in Frieden bieten.