sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 429-442

doi.org/10.36900/suburban.v11i3/4.861

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Der Palast und die Souveränität des Premierministers in Äthiopien

Rony Emmenegger, Asebe Regassa

1. Der Kaiserpalast

Kurz nach seiner Ernennung zum äthiopischen Premierminister im April 2018 veranlasste Abiy Ahmed die Renovierung des Kaiserpalastes in der Hauptstadt Addis Abeba. Im Einklang mit der weitverbreiteten Euphorie über seinen Friedensnobelpreis im darauffolgenden Jahr wurde auch die Eröffnung des Palastes international als Zeichen für das Ende der autoritären Herrschaft in Äthiopien aufgenommen: So verkündete CNN in seinem Format „Inside Africa“ freudig: „Äthiopien öffnet zum ersten Mal seinen geheimnisvollen Kaiserpalast.“ (Jeffrey 2019; Übers. d. A.) In der Tat wurde der bis dahin geschlossene und von Soldaten bewachte Kaiserpalast einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Palast im Zentrum von Addis Abeba, nun in Unity Park umbenannt, wurde zum Magneten für nationale und internationale Besucher:innen – mit spezieller Anziehungskraft für eine wachsende urbane Mittelschicht. Im Inneren des Parks folgen Besucher:innen diversen Routen durch eine Grünanlage, einen botanischen Garten, einen Zoo, einen Käfig für die kaiserlichen schwarzen Löwen sowie weiteren Bereichen: mit Restaurants zum Verweilen, Pavillons, die den verschiedenen ethnischen Regionalstaaten Äthiopiens gewidmet sind, Verwaltungsgebäuden sowie festlichen Gebäuden, die den äthiopischen Kaisern Menelik II und Haile Selassie I gewidmet sind.

Abb. 1 Ehemaliger Kaiserpalast von Menelik II (Quelle: Thomas Betschart, Juli 2021).
Abb. 1 Ehemaliger Kaiserpalast von Menelik II (Quelle: Thomas Betschart, Juli 2021).[1]

Der Ort von Abiy Ahmeds erstem Infrastrukturprojekt von nationaler Bedeutung ist mit dem Kaiserpalast strategisch gewählt. Der eigentliche Palast (siehe Abb. 1) wurde 1890 von Kaiser Menelik II im politischen Zentrum des entstehenden modernen äthiopischen Territorialstaats gebaut (Marcus 1975). In der Folge entwickelte er sich zu einem zentralen Knotenpunkt in Äthiopiens „politischer Topographie“ (Boone 2003). Von Bedeutung für Menelik II (1889-1913) war der Palast in der damaligen Garnisonstadt sowohl wegen seiner militärstrategischen Lage auf einem Hügel, als auch wegen seiner geopolitischen Position im Zentrum seines entstehenden Reichs. Auch Haile Selassie I (1916-1974), Meneliks Nachfolger, nutzte nach seiner Machtübernahme den Palast als politisches Zentrum zur Konsolidierung des Reichs in der entstehenden Hauptstadt. Er ließ sich aber bald darauf einen eigenen Palast bauen, den heute die Universität Addis Abeba als Hauptcampus nutzt. Nach einem versuchten Staatsstreich 1960 zog Haile Selassie I wieder zurück in den Palast seines Vorgängers, zumindest bis zur Machtübernahme durch das sozialistische Regime der Derg (1974-1991). Im Zuge der Revolution von 1974 wurde der Palast Schauplatz des Konflikts. Seine Einnahme wurde zum Sinnbild für den Regimewechsel (Ottway/Ottway 1978).

Der moderne äthiopische Staat hat seinen Ursprung in der imperialen Expansion unter Kaiser Menelik II ab dem späten 19. Jahrhundert. Diese Expansion politischer Macht aus dem äthiopischen Hochland führte zur gewaltsamen Eingliederung der umliegenden Tiefländer und der dort beheimateten Bevölkerungsgruppen (James et al. 2002; Markakis 2011). Unter der Herrschaft von Haile Selassie I konsolidierte sich der äthiopische Staat, insbesondere durch die weitere Zentralisierung der politischen Macht sowie durch die Assimilation verschiedener Bevölkerungsgruppen in den Tiefländern. Der äthiopische Nationalstaat war ethnisch von Amhar:innen dominiert (Aalen 2011; Markakis 2011). Die Bildung des modernen äthiopischen Territorial- und Nationalstaats war dabei nicht nur ein gewaltsames Projekt von Eroberungen und Eingliederungen, sondern zugleich ein ideologisches Projekt (James et al. 2002). Insbesondere Denkmäler ermöglichten es verschiedenen politischen Regimen – dem imperialen Regime (1889-1974), dem sozialistischen Regime (1974-1991) und dem ethnisch-föderalistischen Regime (1991-2018) –, ihre staatliche Autorität, Legitimität und Souveränität auch ideologisch zu konsolidieren (Tola 2017). In der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba fand dies früh seinen Ausdruck, beispielsweise unter imperialer Herrschaft in der Benennung öffentlicher Infrastrukturen (der ersten Schule, der Universität oder des Spitals) nach Menelik II oder Haile Selassie I (Marcus 1975; Zewde 2002). Zwecks ideologischer Konsolidierung imperialer Macht im politischen Zentrum Äthiopiens wurde auch der Kaiserpalast zu einem Ort der Staats- und Nationenbildung, beziehungsweise der Bildung entsprechender „politischer Mythen“ (Bottici/Challand 2006; Emmenegger 2021: 4).

Angesichts der heftigen ethno-nationalistischen Konflikte in Äthiopien sowie der aktuellen Legitimitätskrise des amtierenden Regimes unter der Führung von Abiy Ahmed hat der Kaiserpalast aktuell erneut an Bedeutung gewonnen. In diesem Beitrag diskutieren wir die Renovierung des Kaiserpalastes sowie seine Reinszenierung als Unity Park als Teil von Abiy Ahmeds Projekt der Staats- und Nationenbildung. Wie wir zeigen, investierte Abiy Ahmed mit der Renovierung in die Revitalisierung einer Staatsgeschichte, einer Staatsmythologie und eines Staatsnationalismus, um an Äthiopiens great tradition und seine glorreiche Vergangenheit anzuknüpfen. Spezielle Bedeutung kommt dabei den beiden Statuen der von Menelik II und Haile Selassie I im Inneren des Festsaals beziehungsweise des Thronhauses zu. Die beiden Statuen stehen sinnbildlich für den Versuch, den äthiopischen Imperialstaat und den Mythos nationaler Einheit wieder aufleben zu lassen. Dies geschieht insbesondere, um das nationalistische Lager und städtische Eliten zu mobilisieren. Zugleich sind die beiden Figuren von strategischer Bedeutung für Abiy Ahmed, der damit seinen Herrschaftsanspruch in und über Äthiopien zu legitimieren sowie sich als souveräner äthiopischer Führer zu inszenieren versucht.

2. Autoritäre Herrschaft

Abiy Ahmeds Herrschaft in Äthiopien steht im Kontext interethnischer Spannungen und Konflikte, die trotz des Regimewechsels in den frühen 1990er Jahren andauerten. Die Schaffung eines ethnisch-föderalen Systems durch die „Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front“ (EPRDF) – eine Koalition verschiedener ethnischer Parteien – verhieß das Ende der autoritären Herrschaft in Äthiopien. Mit der ethnisch-föderalen Verfassung erkannte die EPRDF die bis dahin marginalisierten ethnischen Gruppen im Land als selbstbestimmte Nationen in entsprechend ethnisch definierten Regionalstaaten an (FDRE 1995). Trotz dieser Öffnung blieb die Politik in Äthiopien autoritär geprägt. Dies war insbesondere unter der von der „Tigray People’s Liberation Front“ (TPLF) dominierten EPRDF-Koalition der Fall (Emmenegger 2016; Kassa 2020; Lefort 2007). Zugleich rief die autoritäre Herrschaft im Vielvölkerstaat Äthiopien Unzufriedenheit in der Bevölkerung hervor. Diese manifestierte sich in der Bildung neuer politischer Bewegungen und kulminierte zwischen 2014 und 2018 in ethnisch-nationalistischen Protesten der Oromo (Østebø/Tronvoll 2020). Im Gegensatz zu früherem Widerstand gegen herrschende Regime mobilisierten diese Proteste insbesondere die städtischen Eliten und verlagerten so den Kampf von der ländlichen Peripherie ins politische Zentrum Addis Abeba (Regassa/Soboka 2022).

Abiy Ahmeds Nominierung für das Amt des Premierministers durch die EPRDF hatte dementsprechend strategischen Charakter: Als Mitglied der „Oromo People’s Democratic Organization“ (OPDO), einer Koalitionspartnerin der EPRDF, gelang es ihm, die Oromo-Protestbewegung zu beruhigen und die Herrschaft EPRDF weiterhin sicherzustellen. Am 2. April 2018 wurde Abiy Ahmed als Äthiopiens Premierminister vereidigt. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt zeigte sich allerdings, dass Abiy Ahmed auch seine eigene Agenda hatte: In einer öffentlichen Rede offenbarte er, dass sich mit seiner Nominierung jene „Prophezeiung“ seiner Mutter realisiert habe, wonach er einst als „Äthiopiens siebter König“ in die Geschichte eingehen werde (TN Media 2018). In weniger als einem Jahr baute er die EPRDF zu einer Einheitspartei um: der „Prosperity Party“ (PP). Die entsprechenden parteipolitischen Rochaden konsolidierten seine Macht und provozierten neue Konflikte: Die TPLF, die bisher die EPRDF-Koalition dominiert hatte, weigerte sich, der PP beizutreten. Als Reaktion kehrten Abiy Ahmed und die PP der TPLF den Rücken. Sie stigmatisierten die TPLF und machten sie zum Sündenbock für das Andauern der autoritären Herrschaft von 1991 bis 2018. Im November 2020 gipfelte der Konflikt zwischen PP und TPLF im Bürgerkrieg in der Region Tigray, der bis heute andauert; ebenso in anderen Regionen des Landes (Pellet 2021).

Angesichts dieser interethnischen Spannungen und Konflikte unternahm Abiy Ahmed verschiedene militärische und parteipolitische Schachzüge, um seine politische Macht zu konsolidieren. Vor allem aber baute er strategisch einen Kult um seine Person auf und stilisierte sich zum modernen, intellektuellen und charismatischen Führer (Balehegn 2021). Von besonderer strategischer Bedeutung war für Abiy Ahmed die Gestaltung des städtischen Raums: Einerseits versuchte er mit der Lancierung verschiedener Infrastrukturprojekte, das Prosperitätsversprechen der PP zu untermauern (siehe u. a. Terrefe 2020, Zhengli/Goodfellow 2022). Anderseits investierte er gezielt in die Revitalisierung von Staatsgeschichte, Staatsmythologie und Staatsnationalismus, gerade auch in monumentaler Form, wie wir am Beispiel des Kaiserpalastes zeigen werden. In Anbetracht der zunehmenden politischen Fragmentierung des Landes scheinen diese Infrastrukturprojekte zentral zu sein für die Erzeugung und Festigung einer kollektiven Vorstellung von nationaler Einheit und staatlicher Souveränität, und zwar in Referenz auf Vergangenheit und Zukunft. Diese Infrastrukturprojekte adressieren außerdem die Bedürfnisse der wachsenden städtischen Mittelschicht (Ejigu 2014). So besuchen heute vor allem Angehörige der städtischen Mittelschicht den Unity Park, aber auch die nachfolgend als Freizeit- und Erholungsräume gebauten Parks Sheger und Entoto.

3. Königliches Erbe

Im Oktober 2019 öffnete der neu renovierte Unity Park seine Tore. In seiner Rede zur Einweihung begründete Abiy Ahmed die Renovierung so: Sie solle „unser Engagement für den Erhalt der Einheit unseres Landes zeigen, die unsere Väter geschaffen und uns vererbt haben.“ (Abbay Media 2019; Übers. d. A.) In seiner Rede betonte er das Ende der Gewaltherrschaft früherer Regime und hob zugleich Äthiopiens ruhmreiche Geschichte als Ausgangspunkte für aktuelle und künftige Bemühungen um Wohlstand hervor. Sinngebend hierfür war insbesondere seine Referenz auf Äthiopiens great tradition beziehungsweise seine mehr als 2000-jährige Geschichte, die er als glorreiche Vergangenheit darstellte. Bereits Menelik II und Haile Selassie I hatten zur Legitimierung der Macht des äthiopischen Imperialstaats Äthiopiens great tradition betont, insbesondere die salomonische Legende von der Heirat der abessinischen Königin von Saba mit König Salomon aus Israel im 1. Jahrhundert (De Lorenzi 2015; Marzagora 2017). Das Narrativ der great tradition ermöglichte seither die Verherrlichung des kaiserlichen Äthiopiens und seiner christlich geprägten Amhara-Tigray-Kerngesellschaft im abessinischen Hochland (Yates 2020).

Abiy Ahmeds Verweis auf die great tradition erscheint auf den ersten Blick paradox: Er als ethnischer Oromo kann im eigentlichen Sinne nicht das Erbe der imperialen Herrschaft über die äthiopische Nation beanspruchen, da diese historisch gesehen eine Antithese zum Oromo-Nationalismus darstellte (Gudina 2003; Regassa 2022).[2] Der äthiopische Nationalismus basiert seit jeher auf einem kulturellen Ethos, der es gerade für andere Ethnien als Amhar:innen schwierig macht, einen Machtanspruch geltend zu machen (Markakis 1994; Poluha 2004). So mussten sich in der Vergangenheit Herrscher, die sich nicht im dominanten Diskurs des äthiopischen Nationalismus verorten konnten (wie etwa Mengistu Hailemariam, der Vorsitzende des sozialistischen Regimes der Derg), alternativer Symboliken bedienen, um ihre Autorität aufzubauen und ihre Macht zu legitimieren (Marzagora 2017). Im Gegensatz zu seinen Vorgängern ist es Abiy Ahmed aber dennoch gelungen, seine Herrschaft in Anlehnung an Vorstellungen eines imperialen Äthiopiens und dessen great tradition zu artikulieren. Der Umbau des Kaiserpalasts ist gerade in dieser Hinsicht von Bedeutung, wie wir im Folgenden erläutern.

Abb. 2 Statue von Haile Selassie I im Thronhaus (Quelle: Thomas Betschart, Juli 2021).
Abb. 2 Statue von Haile Selassie I im Thronhaus (Quelle: Thomas Betschart, Juli 2021).

Auch die spektakuläre Inszenierung der Statuen der Kaiser Menelik II und Haile Selassie I ist im Zuge der Revitalisierung oder Neuinterpretation der äthiopischen Geschichte im Unity Park zu lesen (siehe Abb. 2). Im gängigen nationalistischen Diskurs wird Menelik II als Held, Erbauer des Reiches, als Einiger und Verteidiger der äthiopischen Souveränität gefeiert. Haile Selassie I wird als Modernisierer bejubelt, der das von seinem Vorgänger errichtete Reich weiter konsolidierte (Marcus 1975; Zewde 2002). Den Aufbruch in die Moderne signalisiert im Unity Park die Ausstellung des Autos, mit dem Haile Selassie I einst chauffiert wurde. Die Installation der beiden Kaiser in Form von Statuen ist untermauert Abiy Ahmeds Souveränitätsanspruch mythisch. Der Versuch, ihn in die königliche Erbfolge Äthiopiens zu integrieren, deutet sich im Unity Park insbesondere auf einer Wand im Außenbereich an, auf der sieben Herrscher des modernen Äthiopiens erscheinen. Die Erbfolge umfasst einem am Eingang ausgelegten Faltblatt zufolge „sieben äthiopische Staatsoberhäupter ohne Premierminister Abiy Ahmed mitzuzählen“ (Unity Park 2021a; Hervorhebung hinzugefügt). Während Abiy Ahmed also auf der Wand explizit nicht abgebildet ist, wird er in der dazugehörigen Beschreibung dennoch als legitimer Nachfolger der vorherigen Herrscher beschrieben.

Die Spektakularisierung der beiden Kaiser als Statuen entlarvt den Unity Park als mythisches Projekt. Die Schilder im Thronhaus schreibt beiden Kaisern durch die Referenz auf salomonische Mythen eine göttliche Qualität zu. Die Ausstellung der Kronen beider Kaiser als Symbole ihrer Verbindung zu einer göttlichen Autorität verstärkt dies noch. In der politischen Kultur Äthiopiens wird Herrschaft seit jeher nicht nur durch die Erbfolge gerechtfertigt, sondern auch durch den Verweis auf göttliche Macht (Clapham 1969; De Lorenzi 2015). Haile Selassie I begründete seinen Machtanspruch gar durch die Kodifizierung seines heiligen Körpers in der Verfassung: In Artikel 4 der revidierten Verfassung von 1955 heißt es: „Kraft seines kaiserlichen Blutes und der Salbung, die er empfangen hat, ist die Person des Kaisers heilig, seine Würde ist unantastbar und seine Macht unbestreitbar. [...] Wer es wagt, den Kaiser zu verletzen, wird bestraft.“ (IGE 1955; Übers. d. A.) Ebenso wie in der mittelalterlichen politischen Theologie begründet sich die souveräne Macht des Kaisers hier durch die Koexistenz eines natürlichen und eines politischen Körpers (Kantorowicz 1957; Übers. d. A.). Die Vorstellung der zwei Körper des Königs, die als hegemoniales Projekt auch in Äthiopien vorangetrieben wurde, ist dort bis heute kulturell tief verankert (Kassa 2020; Østebø/Tronvoll 2020; siehe auch Hansen/Stepputat 2001: 28).

4. Historische Pluralität

In Äthiopien zogen bereits die imperialen Herrscher die great tradition heran, um ihren Herrschaftsanspruch im multiethnischen Staat zu legitimieren und Angehörige anderer ethnischer Gruppen zu marginalisieren (Marzagora 2017; Yates 2020). Problematisch sind die Narrative um die great tradition einerseits aufgrund ihrer selektiven Interpretation der äthiopischen Geschichte und anderseits aufgrund ihrer Instrumentalisierung in der Vergangenheit für die Eroberung der Peripherien und deren Integration in den äthiopischen Einheitsstaat (Clapham 2002). Der Rückbezug auf Äthiopiens great tradition unter Abiy Ahmed unterstreicht somit eine gewisse Kontinuität, signalisiert aber zugleich auch Wandel: Der Rückbezug erfolgt im Kontext der geltenden ethnisch-föderalen Verfassung, also ganz im Sinne der ethnischen Vielfalt im föderalen Äthiopien. Im Unity Park manifestiert sich dies in einer Reihe von Pavillons, die den unterschiedlichen ethnischen Regionalstaaten Äthiopiens gewidmet sind und die in stereotyper Weise die ethnischen Eigenheiten dieser Regionen zelebrieren (siehe Abb. 3).

Abb. 3 Pavillon eines ethnischen Regionalstaats von Äthiopien: das Kamelhaus des äthiopischen Teilstaats Somali (Quelle: Thomas Betschart, Juli 2021).
Abb. 3 Pavillon eines ethnischen Regionalstaats von Äthiopien: das Kamelhaus des äthiopischen Teilstaats Somali (Quelle: Thomas Betschart, Juli 2021).

Die Anerkennung der ethnischen Vielfalt Äthiopiens schlägt sich auch in der Geschichtsschreibung auf den entsprechenden Infowänden im Thronhaus nieder: Im Gegensatz zu früheren historischen Darstellungen finden hier nicht nur das politische Zentrum im äthiopischen Hochland, sondern auch verschiedene Königreiche in den Tiefländern Anerkennung. Auf einer Informationstafel ist zu lesen: „All diese Königreiche und Staaten haben zu Äthiopiens reichem politischen Erbe beigetragen.“ (Unity Park 2021b; Übers. d. A.) Trotz der Erwähnung der Peripherien, die im imperialen Diskurs noch marginalisiert worden waren, offenbart die Geschichtsschreibung im Thronhaus eine gewisse Hierarchie. Letztlich wird die Geschichte dieser peripheren Königreiche in Äthiopiens great tradition eingeordnet, wie die Infotafel sinnbildlich erklärt: Äthiopiens Geschichte basiere auf „einer Legende“ aber auf „Tausend Geschichten“ (ebd.).

Während die Geschichtsschreibung im Zuge der modernen äthiopischen Staatsformierung ein zentrales Instrument zur Erzeugung einer nationalen Einheit war (Clapham 2002), öffnete gerade die ethnisch-föderale Verfassung des EPRDF-Regimes den Raum für eine Pluralität unterschiedlicher Geschichten (Fiseha 2007). Das Recht ethnischer Gruppen in den entsprechenden Regionalstaaten auf ihre eigene Geschichtsschreibung erwies sich dabei als entscheidend für einen kohäsiven Föderalismus: Die EPRDF grenzte sich nach ihrer Machtübernahme in den 1990er Jahren vorerst klar vom Narrativ der great tradition früherer Regime ab (Marzagora 2017) – und zwar zugunsten einer strategischen, ethno-nationalistischen Integration unterschiedlicher Regionen, in denen ethno-nationalistischen Parteien ihre regionale Herrschaft jeweils durch ihre spezifisch ethnische Denkmäler zu legitimieren versuchten (siehe u. a. Emmenegger 2021; Østebø/Tronvoll 2020). Anstelle einer einheitlichen Staatsgeschichte setzte die EPRDF als integratives Thema für den Aufbau des Nationalstaates auf einen Entwicklungsdiskurs. Dieser manifestierte sich in einer Reihe von Infrastrukturprojekten wie der Großen Äthiopischen Renaissance-Talsperre und groß angelegten Städtebauprojekten (Abbink 2011; Gebregziabher 2019). Erst angesichts ihres zunehmenden Machtverlusts versuchte die EPRDF verstärkt aus dem historischen Narrativ eines einheitlichen Staates Kapital zu schlagen (Marzagora 2017).

Tatsächlich ist die Geschichte im multiethnischen Äthiopien aufgrund der autoritären Vergangenheit und Gegenwart des Landes bis heute umstritten (Bulcha 2011; Gudina 2003; Mulugeta 2020). Die spektakuläre Inszenierung der Kaiserstatuen im Unity Park markiert einen Schlüsselmoment der Wiederauferstehung hegemonialer Vorstellungen von einem imperialen Äthiopien und dessen gewaltsamen Erbe (Bearak 2019). Als imperiale Symbole vermitteln die Statuen der beiden Kaiser sichtbar die heroischen Taten, für die beide Herrscher einst gefeiert wurden. Für die einst unterworfenen ethnischen Gruppen repräsentieren sie jedoch weniger eine Geschichte des Ruhmes als vielmehr des Leids (Gnamo 2014). Dieser Umstand motivierte viele Oromo-Aktivist:innen und -Nationalist:innen, der Einweihung des Unity Park fernzubleiben: So besuchte etwa der Aktivist und Politiker Jawar Mohammed am Tag der Zeremonie stattdessen das Aannole-Denkmal, das die Regionalregierung von Oromia 2014 zum Gedenken an die Opfer des Eroberungskrieges von Kaiser Menelik II im Jahr 1886 errichtet hatte (Mohammed A 2014). Jawar Mohammed erklärte dabei: „Dieser Ort steht für die Narbe und Wunde der Oromo im äthiopischen Reich. Im Zuge des Aufbaus des Reiches beging Menelik II Gräueltaten an den Oromo und anderen Nationen und Nationalitäten. Wir fordern hier keine Entschädigung […] Vielmehr fordern wir die Anerkennung der Narben, Schmerzen und Qualen, mit denen unser Volk gelebt hat.“ (Borati Reality 2020; Übers. d. A.)

Zum Zeitpunkt von Abiy Ahmeds imperialer Neuschreibung der Geschichte im Zentrum der politischen Macht artikulierten Oromo-Nationalist:innen nun aus der Peripherie als Kritik an den eben eingeweihten imperialen Denkmälern im Unity Park eine „Gegen-Geschichte“ (Regassa 2022: 62). Dieser Konflikt um die Interpretation der Vergangenheit steht sinnbildlich für das Spannungsfeld zwischen ethnischer und nationaler Identität in Äthiopien, aber auch für deren historische Verankerung im multiethnisch-föderalen Staat. Das Beispiel zeigt auch, dass Abiy Ahmed mit der Renovierung des Kaiserpalastes sowohl imperiale Vorstellungen als auch Konflikte über die Interpretation der Vergangenheit heraufbeschwor.

6. Autoritärer Urbanismus als ambivalentes Projekt

Angesichts der anhaltenden ethno-nationalistischen Kämpfe im multiethnisch-föderalen Äthiopien bleibt die Interpretation der Vergangenheit in dem Land weiterhin umstritten. In diesem Beitrag haben wir gezeigt, wie der Wiederaufbau des Kaiserpalastes als Unity Park es Abiy Ahmed ermöglichte, seinen Anspruch auf souveräne Herrschaft in einer nationalistischen Staatsgeschichte zu verankern und in den städtischen Raum einzuschreiben. Angesichts ethnischer Spannungen und der Legitimationskrise des herrschenden Regimes war dieser Aufbau einer „Erinnerungslandschaft“ (Emmenegger 2021: 4) in Addis Abeba bedeutsam für die politische Mobilisierung nationalistischer Amhar:innen und städtischer Eliten. Der Bau von Statuen und deren spektakuläre Inszenierung feiern gezielt frühere politische Führer, wobei Abiy Ahmed als legitimer Nachfolger präsentiert wird. Es erlaubt seine Inszenierung als souveräner äthiopischer Führer, als König, dessen weltliche und göttliche Macht sich aus der Beziehung zu seinen Vorgängern ergibt. Nicht zuletzt liefert der Beitrag Einblicke in die ideologische Dimension autoritärer Herrschaft und deren Konsolidierung im städtischen Raum. Der autoritäre Urbanismus ist, wie dieser Beitrag ebenfalls zeigt, nicht nur ein hegemoniales, sondern auch ein ambivalentes Projekt: Einerseits ermöglichte er es Abiy Ahmed, eine mythische Grundlage für seinen Herrschaftsanspruch zu schaffen. Andererseits intensivierte er auch die laufenden ethno-nationalistischen Kämpfe um die Deutung der Vergangenheit.