Brasilien erlebt derzeit eine konservative Wende, die ihren Ausdruck nicht nur in der Präsidentschaft Jair Bolsonaros (2019-2022) fand, sondern sich auch in der Ausweitung des Phänomens sogenannter milícias (Parapolizeigruppen) in einkommensschwachen Vierteln manifestiert sowie im Aufkommen antisozialer Bewegungen, die sich selbst als rechtsgerichtet und konservativ verstehen. In diesem Kontext diskutiert der Beitrag am Beispiel der Metropolregion Rio de Janeiro das Wechselverhältnis zwischen (a) der Entstehung konservativer und rechtsextremer Gruppen, (b) der Ausbreitung von milícias im Stadtgebiet Rio de Janeiros und (c) deren Einfluss auf das Wahlverhalten in von ihnen dominierten einkommensschwachen Vierteln bei Wahlen zwischen 2018 und 2022. Die von den milícias praktizierten Formen der Gebietskontrolle – unter anderem Informationsnetzwerke, disziplinarische soziale Kontrolle, die Vermittlung zwischen individuellen und kollektiven Interessen sowie die Kontrolle von Wahlen – finden bislang weder bei Behörden noch in der Sozialanalyse und -forschung hinreichend Beachtung. Eine Reihe politischer Organisationen und alternativer Medien sind verantwortlich für die Verbreitung antidemokratischer Werte und Praktiken. Damit verfolgen sie das Ziel, die unterschwellige konservative Wende im Land zu legitimieren und die Beziehungen zwischen Stadterfahrung und Demokratie zu schwächen.
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Brasilien erlebt seit einigen Jahren eine konservative Wende. Während andere Studien Faktoren wie die Krise der Demokratie und die Verleugnung der Politik (Solano 2019) oder die Zunahme des religiösen Konservatismus (Almeida 2019) beleuchten, möchten wir mit dieser Studie den von uns so bezeichneten Milícia-Effekt auf das Wahlverhalten in einkommensschwachen Vierteln untersuchen. Mit anderen Worten soll in diesem Beitrag untersucht werden, wie die territoriale Kontrolle durch sogenannte milícias[1] ein rechtsextremes politisches Projekt befördert, das auf der Mobilisierung konservativer Werte in der Gesellschaft sowie auf der räumlichen Kontrolle von Wahlen beruht. Unsere Hypothese lautet, dass die Aktivitäten von milícias in Rio de Janeiro die Ausbreitung antidemokratischer Werte und Praktiken befördern. Dadurch ist die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten einer konservativen Umwälzung ihrer politischen Glaubenssysteme und Gepflogenheiten ausgesetzt. Die Ursache hierfür ist vor allem eine Schwächung urbaner Bindungen, die auf dem zentralen Element der Demokratie beruhen: der politischen Emanzipation.
Zur Prüfung unserer Hypothese stützen wir uns auf Theorien zum Wahlverhalten, die sich mit territorialen Einflüssen auf die Stimmabgabe befassen. Wir sehen aber auch die Notwendigkeit, über die in der internationalen Literatur zu diesem Thema etablierten Modelle hinauszudenken, um das Phänomen in ganz konkreten räumlichen Kontexten erfassen zu können. Anders ausgedrückt reichen klassische Variablen wie Parteiidentifikation, politisches Bewusstsein oder Zugang zu Medien und Wahlkampagnen nicht aus, um ein derart komplexes Phänomen zu erklären. Hierbei ist zu bedenken, dass die von den milícias genutzten Praktiken der territorialen Kontrolle noch nicht in all ihren Dimensionen hinreichend verstanden wurden. Dies gilt insbesondere für die Informationsnetzwerke, die disziplinierende soziale Kontrolle, die Vermittlung zwischen individuellen und kollektiven Interessen sowie die Kontrolle von Wahlen.
Wir stellen unsere Überlegungen am Beispiel der Metropolregion Rio de Janeiro (MRRJ) an.[2] Diese ist gekennzeichnet durch extreme sozialräumliche Ungleichheiten, die sich in einer Trennung nach Klasse, Geschlecht und raça (Rasse bzw. Rassifizierung) niederschlagen. Die Viertel der Ober- und Mittelschicht beziehungsweise der weißen Bevölkerung liegen größtenteils in der Zona Sul (Südzone) und im Stadtteil Barra da Tijuca im Südwesten der Stadt. Die Viertel, in denen Menschen mit geringeren Einkommen, schwarze Menschen (pretos) und People of Color (pardos) leben,[3] befinden sich in der Zona Oeste (Westzone) und der Zona Norte (Nordzone) der Stadt, in den peripheren Munizipien der Metropole, insbesondere in der Region Baixada Fluminense, sowie in den Favelas, die sich über alle ärmeren Stadtteile ausbreiten. Sehr stark präsent sind milícias vor allem in der Zona Oeste. In den letzten Jahren haben sie ihre räumliche Kontrolle jedoch auch in Richtung Baixada Fluminense ausgedehnt.
Die Expansion der milícias in der Metropolregion wurde durch mehrere Studien belegt (Cano/Duarte 2012; Manso 2020). Sie zeigen das Ausmaß des Milícia-Phänomens in der MRRJ, was unser Interesse an diesem Fallbeispiel begründet. Die bewaffnete Kontrolle einkommensschwacher Viertel durch kriminelle Parapolizeigruppen könnte einen Einfluss auf die dortigen Wahlergebnisse gehabt haben – dieser Hypothese möchten wir im Folgenden nachgehen.
Dazu nutzen wir die neuesten Daten aus einer von Daniel Veloso Hirata und Maria Isabel Couto (2022) erarbeiteten Kartierung bewaffneter Gruppen in Rio de Janeiro. Wir identifizieren damit jene Gebiete der Metropolregion, die von milícias oder den Organisationen des Drogenhandels beherrscht werden. Um den Zusammenhang zwischen den Aktivitäten von milícias und der Stimmabgabe für (extrem) rechte Kandidat_innen erforschen, verwenden wir die Wahlergebnisse von 2018, 2020 und 2022.[4] Anhand dieser Daten können wir überprüfen, ob milícias in den von ihnen kontrollierten Teilen einkommensschwacher Viertel tatsächlich Wahlen kontrollieren und ob ein Zusammenhang mit dem Abschneiden von Jair Bolsonaro bei den Präsidentschaftswahlen von 2018 und 2022 besteht. Unser zugrundeliegender Ansatz geht dem Phänomen von Illegalität und urbaner Gewalt mit Blick auf ein System von Praktiken und Repräsentationen nach, die sich an den häufig durchlässigen und nicht klar erkennbaren Grenzlinien zwischen legal und illegal, rechtmäßig und nicht rechtmäßig, formell und informell verorten lassen. Dieses System umfasst unter anderem die milícias, den Drogenhandel, Militäroperationen in Favelas sowie das Gefängnissystem. Dabei nehmen wir einen Zusammenhang an zwischen dem Aufschwung der Rechten und extremen Rechten im Land – der sich in der Ausbreitung bestimmter Gruppen, Medien und sozialen Praktiken manifestiert (Santos Junior 2022) – und der Wahl Jair Bolsonaros zum Präsidenten (Setzler 2021). Wir behaupten, dass dieser Zusammenhang in Rio de Janeiro eng mit der Expansion des Milícia-Phänomens verbunden ist.
Um dieses Argument zu entwickeln, gliedert sich der Beitrag in drei Teile: Zunächst skizzieren wir die theoretische Perspektive auf das Wahlverhalten in Brasilien mit Blick auf die verschiedenen Stadtviertel. Anschließend thematisieren wir die konservative Wende von 2018, die im Wahlsieg der von Jair Bolsonaro repräsentierten extremen Rechten zum Ausdruck kam, sowie die neuen Herausforderungen durch das Wiedererstarken progressiver Kräfte nach dem Sieg Luiz Inácio Lula da Silvas bei den Wahlen von 2022. Im dritten Teil diskutieren wir den Zusammenhang zwischen bewaffneten Gruppen – einschließlich der milícias – und dem Wahlverhalten in der Metropolregion Rio de Janeiro. Der Beitrag schließt mit einigen Überlegungen zum Milícia-Effekt und dessen Auswirkungen auf die Stadt und die Demokratie.
In Brasilien existiert ein reichhaltiger Korpus an Literatur zum Thema Wahlverhalten, der auf der Rezeption international anerkannter Theorieansätze basiert. Ein Teil dieser Arbeiten konstatiert, die brasilianischen Wähler_innen träfen ihre Entscheidung spätestens seit den Präsidentschaftswahlen von 1994 danach, wie sie die Arbeit der amtierenden Regierung oder genauer gesagt deren Wirtschaftspolitik bewerten (Meneguello 1996; Carreirão 1999, 2004, 2007; Nicolau 2007). Ein alternativer, seit den frühesten Untersuchungen des Wahlverhaltens in Brasilien häufig vertretener Ansatz hebt hingegen wahlbeeinflussende soziologische Faktoren hervor. Er versucht insbesondere, Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und politischer Positionierung zu identifizieren – etwa die Zugehörigkeit zur Elite mit der Ausrichtung auf eher konservative und rechte Parteien oder die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse mit der Tendenz zu linken Parteien. Neuen Auftrieb erfuhr diese soziologische Perspektive zuletzt durch die Arbeiten von André Singer (2009, 2012) zum Phänomen des Lulismus. Darin versucht der Autor, Lulas ersten Sieg bei der Präsidentschaftswahl 2002 zu erklären. Singer zufolge kam es bei dieser Wahl zu einer ideologischen Umorientierung der brasilianischen Wähler_innen sowie zusätzlich zu einer Neugestaltung des ideologischen Images, also der bedeutungsgebenden politischen Symbole der Arbeiterpartei (Partido de los Trabalhadores, PT). Dies führte letztlich dazu, dass ärmere Wähler_innenschichten den Kandidaten Lula da Silva unterstützten und für ihn stimmten. Die klare räumliche Ausprägung der Ergebnisse dieser Wahl deutet Singer zufolge darauf hin, dass die von der PT zu jener Zeit vertretene soziale Programmatik an Popularität gewonnen hatte. Singers These greift also Elemente von Erklärungsansätzen für das Wahlverhaltens auf, die sich mit den Ideologien politischer Parteien und deren Rolle bei der Herausbildung von Parteipräferenzen sowie letztlich der Wahlentscheidung bei Präsidentschaftswahlen in Brasilien befassen.
Allerdings weisen einige Autor_innen auf die möglichen Schwachstellen dieses soziologischen Ansatzes hin (Nicolau/Peixoto 2007; Hunter/Power 2007; Soares/Terron 2008). Sie verweisen auf die positiven Auswirkungen von Sozialprogrammen wie „Bolsa Família“. Dies spreche ihrer Ansicht nach für die These eines retrospektiven Wählens, wonach letztlich die Leistungen einer Regierung wahlentscheidend seien. Diesen Autor_innen zufolge fand keine ideologische Umorientierung statt, sondern vielmehr eine positive Bewertung der Wirtschafts- und Sozialpolitik – insbesondere bei Empfänger_innen sozialer Transferleistungen. Dieses Argument hat ein größeres Erklärungspotenzial als die Variable Ideologie, deren Aussagekraft begrenzt ist, da sich die Mehrheit der Wähler_innen nicht klar auf einer Rechts-Links-Skala einordnen lässt (Carreirão 2002; Turgeon/Rennó 2010; Oliveira/Turgeon 2015).
Trotz dieser Fülle an Studien zu Wahlentscheidungen bei Präsidentschaftswahlen gibt es keine vergleichenden Studien, die mit denselben Variablen andere Wahlen untersuchen – seien es jene nach Mehrheitswahlrecht wie Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen oder jene nach Verhältniswahlrecht wie Parlamentswahlen auf nationaler, bundesstaatlicher oder kommunaler Ebene. Wahlergebnisse unterhalb der Bundesebene werden in der Regel mit Blick auf den sogenannten Coattail-Effekt analysiert, also hinsichtlich der Frage, wie stark die Prominenz oder Beliebtheit bestimmter Politiker_innen, die bei Präsidentschafts- oder Gouverneurswahlen antreten, auf andere Kandidat_innen ausstrahlt (Ames 1994; Borges/Loyd 2016; Samuels 2020).
Um den Zusammenhang zwischen der territorialen Kontrolle bestimmter Stadtviertel durch milícias und der politischen Dominanz, die sich in der massiven Stimmabgabe zugunsten rechtsextremer Kandidat_innen niederschlägt, erfassen zu können, müssen wir die vorliegenden Ansätze um eine räumliche Dimension erweitern. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung waren Studien, die sich mit den Auswirkungen des Wahlrechts auf das brasilianische Parteiensystem befassten. Laut Ames (2023) ermöglicht das System der offenen Listenwahl verschiedene Strategien rund um die räumliche Verteilung von Wähler_innenstimmen. Die Auswirkung dieser verschiedenen Wahlstrategien auf das parlamentarische Agieren der gewählten Vertreter_innen zeigt sich in der Bindung von Wähler_innen an die Kandidat_innen. Das bedeutet, dass die Charakteristika des jeweiligen Wahlkreises Vorhersagen über das Abstimmungsverhalten von Abgeorfneten im Parlament ermöglichen.
Die ursächlichen Mechanismen einer Art von kumulierendem Wahlverhalten sind jedoch noch nicht vollständig erforscht. Laut Filipe Corrêa (2011) muss eine territorial bezogene Erklärung des Wahlverhaltens die Dimension objektiver Bedürfnisse berücksichtigen, also den Mangel an öffentlicher Infrastruktur in einem Viertel, der zur politischen Verhandlungsmasse werden kann. Einbezogen werden muss jedoch auch die soziale und politische Identifikation der Wähler_innen in den jeweiligen Wahlkreisen. Diese lässt sich anhand bestimmter politischer Wahrnehmungen und Werte feststellen. Der unmittelbare räumliche Kontext ist daher ein wichtiger Faktor zur Erklärung des politischen Verhaltens (Pattie/Johnston 2000; Johnston/Pattie 2006). Das gilt nicht nur hinsichtlich der Inhalte und Intensität der im Stadtviertel stattfindenden Interaktionen, sondern auch mit Blick auf die Entstehung von Gruppenidentitäten, die Herausbildung gemeinsamer politischer Haltungen und Werte sowie auf die Entwicklung bestimmter Verhaltensweisen aufgrund der objektiven Gegebenheiten, die alle in einem Viertel lebenden Menschen betreffen.
Hinsichtlich der von milícias kontrollierten Gebiete lautet unser Argument, dass ein System von Praktiken und Repräsentationen – das in einem bestimmten räumlichen Kontext den Alltag reguliert – auch das politische Verhalten beeinflusst. Dieser Einfluss äußert sich nicht allein in Form unmittelbarer Kontrolle durch Zwang, sondern auch in Überzeugungen, Legitimationen und einer Reihe von Werten, die Akteur_innen, die im selben Stadtviertel leben, miteinander teilen. Das Thema unserer Studie – die Kontrolle des Wahlverhaltens in bestimmten Teilen der Stadt – ist in diesem Sinne als Beispiel eines sozialen Phänomens zu verstehen, das wir als Milícia-Effekt bezeichnen wollen.
Dabei sollte auch erwähnt werden, dass zur gleichen Zeit, in der bewaffnete Parapolizeigruppen zunehmend die Kontrolle über arme Stadtviertel übernahmen und die dort existierenden Formen kollektiven Handelns zum Erliegen brachten, auf nationaler Ebene einige politische Gruppen[5] entstanden sind, die als Bindeglied zwischen nationalen und lokalen Werten, Agenden und Praktiken fungieren (Santos Junior 2022). Das zwischen bewaffneten milicías und politischen Gruppen bestehende Verhältnis manifestiert sich zum einen im parlamentarischen Raum, nämlich durch die Wahl von Abgeordneten mit Verbindungen zu milícias und zum anderen in sozialen Netzwerken, mittels derer sich Nachrichten und Informationen verbreiten. Die besagten Gruppen bezeichnen sich selbst als konservativ und rechts, aber viele von ihnen könnten durchaus als rechtsextrem eingeordnet werden. Sie bestehen mehrheitlich aus Unterstützer_innen und Anhänger_innen des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro: Von all diesen Gruppen hat sich lediglich eine – das „Movimento Brasil Livre“ (MBL) – erklärtermaßen gegen die Bolsonaro-Regierung positioniert. Organisiert sind die Gruppen rund um Führungspersönlichkeiten, die sich mitunter nicht lange halten, schnell auftauchen und ebenso schnell wieder in der Versenkung verschwinden. Entscheidend für unsere Argumentation ist jedoch, dass die meisten dieser politischen Organisationen eine konservative Agenda vertreten (z. B. gegen Abtreibung, gegen digitale Wahlen, für die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters oder für einen schlanken Staat), dass sie den Feind in der Linken und im Kommunismus sehen, zur Verbreitung ihrer Anliegen auf öffentliche Demonstrationen setzen und Online-Nachrichtenseiten betreiben, die zuverlässig ihre Werte kommunizieren.[6] Tatsächlich sprießt zusammen mit diesen Organisationen eine Unmenge von Online-Nachrichtendiensten und Profilen auf sozialen Medien aus dem Boden. Das Ergebnis ist eine lange Liste von Kommunikationsinstrumenten, die im Dienst von Desinformation und konservativer Propaganda stehen.
Daher vertreten wir in diesem Beitrag die These, dass ein Zusammenhang zwischen der Ausbreitung von milícias, der Expansion konservativer und rechter Gruppen und der Wahl rechtsextremer Parteien und Politiker_innen besteht. Jair Bolsonaro ist dafür nur ein Beispiel. Erklären lässt sich dieser Zusammenhang unserer Ansicht nach dadurch, dass es in manchen Stadtvierteln die milícias sind, die disziplinierende Kontrolle ausüben und zwischen individuellen und kollektiven Interessen vermitteln. Zugleich bringen diese bewaffneten Akteur_innen deutlich zum Ausdruck, wie die Konservativen das weitverbreitete Gewaltproblem in den Städten lösen wollen: durch massive soziale Kontrolle und den Einsatz von Gewalt gegen Personen, die durch vermeintlich deviantes Verhalten auffallen.
Ausgehend von den Überlegungen im vorherigen Abschnitt lautet unser Argument, dass das Wahlverhalten kein unmittelbares Resultat ökonomischer Phänomene ist. So lässt sich beispielsweise kein direkter Zusammenhang zwischen Armut, sozialer Schichtzugehörigkeit und der Wahl linker Parteien feststellen. Vielmehr wird das Wahlverhalten durch Institutionen, soziale Praktiken, Werte und die in spezifischen zeitlich-räumlichen Kontexten geteilten gesellschaftlichen Stimmungslagen bestimmt. Aus dieser Sicht ist die Erklärung für die konservative Wende, die ihren Ausdruck im Wahlsieg Bolsonaros und der extremen Rechten fand, in einem Zusammenspiel mehrerer gleichzeitig wirkender Faktoren zu suchen. Es geht also um eine multikausale Erklärungsmatrix, die auf verschiedenen Ebenen auch territoriale Dimensionen des Wahlverhaltens miteinbezieht. Außerdem müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass die Narrative, die das Wahlergebnis erklären, ebenfalls umstritten, das heißt, mit Auseinandersetzungen über die Klassifizierung der sozialen Welt an sich (Bourdieu 2001) verwoben sind und sich auf das zukünftige Vorgehen und die Entscheidungen von Parteien und Kandidat_innen auswirken.
Es sei daran erinnert, dass Lateinamerika zwischen den späten 1990er Jahren und den 2000er Jahren einen Zyklus sogenannter progressiver Regierungen durchlief. Im Zuge einer Suche nach politischen Alternativen wurden in der Region zahlreiche Kandidaten linker Parteien an die Macht gewählt: Hugo Chávez in Venezuela, Lula da Silva in Brasilien, Rafael Correa in Ecuador, Evo Morales in Bolivien, Daniel Ortega in Nicaragua, Fernando Lugo in Paraguay, José Mujica in Uruguay, Néstor Kirchner in Argentinien und Ollanta Humala in Peru. Auch wenn viele von ihnen letztlich eine neoliberale Politik betrieben oder gar ihre politische Richtung wechselten und sich dem konservativen Spektrum beziehungsweise der Rechten annäherten, ist die Zahl linker Politiker_innen, die in diesem Zeitraum in Lateinamerika gewählt wurden, beachtlich. So baute sich in den 2000er Jahren die sogenannte „rosa Welle“ auf,[7] während in den 2010er Jahren eine Art Gezeitenwechsel zu beobachten war, der in mehreren Ländern – darunter Argentinien, Chile, Kolumbien, Peru und Brasilien – die Rechte wieder an die Macht spülte.
Bilanziert man hingegen die Wahlen in den Ländern des Kontinents seit 2018, so zeigt sich ein differenzierteres Bild (Lissardy 2020): Die politische Landschaft ist recht komplex und wird weder von der Rechten noch von der Linken dominiert. Während rechte Parteien in Brasilien (2018), Kolumbien (2018), Uruguay (2019), Guatemala (2019) und El Salvador (2019) siegreich waren, gewannen Mitte-Links-Parteien in Mexiko (2018), Argentinien (2019), Panama (2019), Bolivien (2020), Chile (2021) und Peru (2021). Zuletzt siegten mit Lula da Silva und Gustavo Petro auch Mitte-Links-Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen in Brasilien (2022) und Kolumbien (2022).
Auch wenn manche Analyst_innen damals nicht mit einem Sieg der extremen Rechten gerechnet hatten, war Brasilien mit der Wahl von Jair Bolsonaro 2018 keineswegs ein Einzelfall. Auch in vielen anderen Ländern folgten auf progressive Regierungen konservative oder neoliberale. Bemerkenswert ist in Brasilien daher nicht der politische Richtungswechsel von links nach rechts an sich, sondern der Aufstieg rechter und rechtsextremer Gruppierungen mit ihren Hochburgen vor allem im Süden, Südosten und Mittelwesten des Landes. Dort konnte Bolsonaro 2018 die Wahlen für sich entscheiden (Carvalho/Santos Junior 2019). Als paradigmatisch für den engen Zusammenhang zwischen der konservativen Wende und der Ausbreitung des Milícia-Phänomens kann jedoch Rio de Janeiro gelten: Hier startete Jair Bolsonaro seine politische Karriere und hier hat er immer noch seine stärkste Basis an Unterstützer_innen.
Wie bereits erwähnt, hat es den Anschein, als seien ausgesprochen reaktionär-konservative gesellschaftliche Organisationen und kollektive Aktionsformen entstanden. Laut Santos Junior (2022) unterscheiden diese sich in mehrfacher Hinsicht von sozialen Bewegungen, auch wenn es in einzelnen Aspekten durchaus Übereinstimmungen gibt. Im urbanen Kontext Brasiliens könnte diese reaktionär-konservative Bewegung als eine neue Form kollektiven Handelns verstanden werden. Sie könnte zumindest behelfsmäßig als soziale Gegenbewegung (Rezende 2016) oder antisoziale Bewegung beschrieben werden, die es jedoch noch eingehender zu untersuchen und zu verstehen gilt.
Anhand journalistischer Recherchen (Pantolfi 2020; Manso 2020) und eigener Feldforschung fasst Santos Junior (2022) explorativ einige Merkmale dieser Formen konservativen kollektiven Handelns zusammen: (a) Ablehnung von Politik und Demokratie als öffentlicher Sphäre der Konfliktregulierung und des Zusammenlebens mit anderen Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit; (b) zentralisierte, undurchsichtige und streng hierarchische Formen der Entscheidungsfindung; (c) mit konservativen religiösen Institutionen (vor allem Neo-Pfingstkirchen) verbundene Formen der Verhaltenskontrolle; (d) ein auf der diffusen Kontrolle sozialer Netzwerke beruhendes Handlungsrepertoire, einschließlich der Produktion und Verbreitung eigener Nachrichten (inklusive einer Unmenge an Fake News) und der Ausrichtung auf bestimmte Zielgruppen und (e) Verbindungen zu bewaffneten Parapolizeigruppen, die durch das eigene kollektive Handeln gestützt und legitimiert werden. Und schließlich scheint diese neue Form des kollektiven Handelns nach innen sehr heterogen zu sein. In der Tat sieht es so aus, als sei das einende Moment nicht das Ergebnis einer Kampagne oder eines klar formulierten Anspruchs. Einigkeit besteht allein in der Negation – weshalb es naheliegend ist, diese neue Form politischen Handelns mit der Vorsilbe „anti“ zu versehen, das heißt antilinks, antidemokratisch, antiliberal und so weiter. Außerdem gibt es immer mehr oder weniger charismatischen Führungsfiguren, denen es gelingt, ein breites Spektrum von Personen und eine Reihe territorialer Organisationen hinter sich zu versammeln, indem sie als Vermittler_innen zwischen lokalen Interessen und dem legalen oder illegalen institutionellen System fungieren.
In Brasilien scheinen sich in einkommensschwachen Vierteln einige Formen kollektiven Handelns herauszubilden, die den genannten Merkmalen antisozialer Bewegungen sehr nahekommen. Sie werden aber mitunter nicht als solche erkannt, da sie nicht in der traditionellen Form sozialer Bewegungen organisiert sind. Allem Anschein nach gewinnen sie vor allem in bestimmten Regionen des Landes an Stärke. Insbesondere in den einkommensschwachen Stadtvierteln Rio de Janeiros könnten sie die Wahlergebnisse beeinflusst haben. So kommen wir schließlich zu den Wahlen selbst und damit zur Frage nach den möglichen Auswirkungen der bewaffneten Kontrolle dieser Stadtviertel auf das Wahlverhalten.
Auch wenn Erklärungsansätze, die auf einzelne Motivationen von Wähler_innen ausgerichtet sind, dies nicht abbilden können: Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen von 2022 zeigen – ähnlich wie die der Wahlen von 2018 (Carvalho/Santos Junior 2019) – eine tief reichende territoriale Spaltung des Landes in den Nordosten und Norden auf der einen und den Süden, Südosten und Mittelwesten auf der anderen Seite. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2022 gewann Lula da Silva (PT) mit 50,9 Prozent der gültigen Stimmen nur knapp gegen Jair Bolsonaro, den amtierenden und zur Wiederwahl angetretenen Präsidenten von der Liberalen Partei (Partido Liberal, PL). Der Nordosten war die einzige Region Brasiliens, in der Lula eine klare Mehrheit erreichen konnte: Dort stimmten 69,4 Prozent für ihn und 30,7 Prozent für Bolsonaro. Letzterer erzielte seine besten Ergebnisse im Süden, wo er 61,8 Prozent der Stimmen erhielt und Lula nur 38,2 Prozent. Auch in den anderen Regionen schnitt Bolsonaro besser ab als Lula: Im Mittelwesten waren es 60,2 Prozent für Bolsonaro gegenüber 39,8 Prozent für Lula, im Südosten 54,3 Prozent zu 45,7 Prozent. Im Norden, wo der Wahlausgang besonders knapp war, stimmten 51 Prozent für Bolsonaro und 49 Prozent für Lula. Insgesamt war Lula in 13 Bundesstaaten der Gewinner, darunter in allen Staaten des Nordostens plus Minas Gerais im Südosten sowie Amazonas, Pará und Tocantins im Norden. Bolsonaro siegte in 14 Bundesstaaten, darunter in allen Staaten des Südens, drei der vier Bundesstaaten im Südosten und dem größten Teil des Nordens. In den Städten zeigte sich hingegen ein anderes Bild: Hier lag Lula in 3.125 Munizipien vor Bolsonaro, der die Wahl nur in 2.445 Städten für sich entscheiden konnte.
Entsprechend der oben dargestellten Diskussion über Theorien zur Erklärung des Wahlverhaltens lassen sich der Sieg Bolsonaros bei den Wahlen 2018 und sein eindrucksvolles Abschneiden bei den Wahlen 2022 nicht durch eine einzige objektive Ursache erklären. Vielmehr ist sein Erfolg auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen, wobei sich ökonomische, politische, religiöse, moralische und soziale Motive miteinander vermischen. Es ist jedoch durchaus plausibel, von der Hypothese auszugehen, dass sein gutes Wahlergebnis stark mit einer größeren Präsenz konservativer Institutionen (Agrarindustrie, Neo-Pfingstkirchen, antisoziale Bewegungen, konservative Medien, offen neoliberale Institute usw.) zusammenhängt. Aus dieser Perspektive wollen wir einen Mikrokosmos dieses Universums erforschen, nämlich die von bewaffneten Gruppen kontrollierten einkommensschwachen Viertel Rio de Janeiros, in denen Bolsonaros Wähler_innenbasis besonders groß ist.
Jüngste Studien weisen darauf hin, dass sich das Agieren der milícias seit dem von Ignácio Cano und Thais Duarte (2012) untersuchten Zeitraum von 2008 bis 2011– also kurz nachdem das Parlament des Bundesstaates Rio de Janeiro eine parlamentarische Kommission (Comissão Parlamentar de Inquérito) eingesetzt hatte, um die Milícia-Aktivitäten in der Stadt zu untersuchen – in einiger Hinsicht verändert hat. Zu jener Zeit schienen die milícias bei ihren Aktionen auf Diskretion und Anonymität geachtet zu haben, höchstwahrscheinlich aufgrund der laufenden Ermittlungen gegen ihre Organisationen. Aber wie Hirata und Couto (2022) darlegen, haben sie in den vergangenen zehn Jahren offenbar eine neue Phase der offensiven Gebietskontrolle eingeläutet. Sie wurden in immer mehr Stadtvierteln aktiv, ja sogar in anderen Munizipien in der Metropolregion Rio de Janeiro. Sie beherrschen neue Gebiete, die bislang nicht von bewaffneten Gruppen kontrolliert worden waren. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass sich Struktur und Auftreten der milícias seit ihren Anfängen in den 1950er Jahren verändert haben (Souza Alves 2003; Misse 2011; Manso 2020). Auch wenn sie gewisse Unschärfen aufweist, kann man derzeit für Brasilien – und insbesondere für Rio de Janeiro – die von Cano (2008) vorgeschlagene Definition übernehmen, wonach das Milícia-Phänomen als ein Ensemble gleichzeitiger Praktiken zu verstehen ist. Dazu gehören:
Mit anderen Worten sind die milícias bewaffnete Gruppen, die sich aus aktiven oder ehemaligen Mitgliedern staatlicher Sicherheitsorgane (wie Polizei, Justizvollzug oder Feuerwehr) sowie Politiker_innen und Zivilist_innen zusammensetzen. Sie kontrollieren die Stadtviertel und Gemeinden durch (physischen oder psychischen) Zwang und durch das Verbreiten von Angst, aber auch durch Zustimmung und Legitimation. Dadurch üben sie eine gewisse Macht über das betreffende Gebiet aus. Außerdem schlagen sie Profit aus Dienstleistungen, die eigentlich die öffentliche Hand oder privatwirtschaftliche Anbieter_innen erbringen sollten, wie Sicherheit, Gasversorgung, Zugang zu Internet oder Kabelfernsehen, Beleuchtung, Wohnungsbau oder Nahverkehr. Die Aktivitäten der milícias bei der Schaffung der Stadt und der Kontrolle einkommensschwacher Viertel wirken sich daher generell massiv auf die Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Bürger_innenrechten sowie des Rechts auf Stadt aus.
In den letzten Jahren haben diese Parapolizeigruppen ihr Handlungsfeld um einige Formen der ökonomischen Verwertung erweitert. Sie sind in Bereiche expandiert, aus denen bislang nicht so viel Profit geschlagen wurde; sie haben sozusagen ein neues Geschäftsmodell entwickelt. Zu nennen wären hier vor allem Aktivitäten auf dem Immobilienmarkt: Diese sind zu einem zentralen Baustein des neuen Geschäftsmodells dieser Gruppen geworden, wie Mansos (2020) Studie zu den Ursprüngen und Umstrukturierungen der Milizen in Rio de Janeiro und insbesondere der Abschlussbericht einer von der Heinrich-Böll-Stiftung geförderten Studie zu neuem Illegalismus (Hirata et al. 2021) deutlich machen. Die in dem Bericht vorgestellte Untersuchung beschreibt, auf welche verschiedenen Weisen milícias in den Immobiliensektor involviert sind. Dazu gehören (a) die Inbesitznahme und Kommerzialisierung öffentlicher Straßen und Plätze, (b) die Aneignung von Eigentumswohnungen, die im Rahmen des sozialen Wohnungsbauprogramms „Minha Casa Minha Vida“ mit Bundesmitteln errichtet wurden sowie (c) der Bau von Wohnraum, einschließlich der Errichtung von Wohngebäuden in Naturschutzgebieten. Die Autor_innen zeigen auf, dass Angehörige der milícias vielerorts die Bewohner_innen der von ihnen in Besitz genommenen Wohneinheiten enteignen und zwangsweise räumen lassen, um die Wohnungen anschließend weiterzuverkaufen.
Das Geschäftsmodell der milícias stützt sich sowohl auf die bewaffnete Kontrolle von Gebieten als auch auf die Anbindung an das institutionelle System politischer Repräsentation. Dieses Systemnutzen einige führende Persönlichkeiten aus den Stadtvierteln, die den milícias nahestehen (oder die von ihnen unterstützt werden), um als gewählte Abgeordnete zwischen den Interessen der Community und der Exekutive zu vermitteln. Mit anderen Worten vertreten sie unter dem Deckmantel ihres vorgeblichen Engagements für die Interessen der Community die Interessen der milícias.[8]
In diesem Sinne versuchen wir, den Milícia-Effekt mit Blick auf dieWahlergebnisse zu analysieren. Darunter verstehen wir die Gesamtheit aller möglichen Auswirkungen der Gebietskontrolle durch milícias auf das Wahlverhalten der in diesen Gebieten lebenden Bevölkerung. Obwohl die Beziehung zwischen Parapolizeigruppen und den Bewohner_innen der von ihnen kontrollierten Viertel üblichen Darstellungen eines klientelistischen Verhältnisses (Hilgers 2011) ähnelt, sollten wir sie nicht als asymmetrische Aushandlung zwischen interessenmaximierend handelnden Individuen begreifen, und zwar einfach aus dem Grund, dass es keinen Raum für solche Aushandlungen gibt, wo der Einsatz illegaler Gewalt eine permanente Bedrohung darstellt. Die übliche Vorgehensweise der milícias ist vergleichbar mit der mafiöser Organisationen, wie sie etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Einwanderungsvierteln US-amerikanischer Großstädte wie New York, Chicago oder New Orleans entstanden.
Die Kandidatur von Politiker_innen mit Verbindungen zu milícias ist kein neues Phänomen, zumindest nicht mehr, seit Jerônimo Guimarães Filho, genannt „Jerominho“, im Jahr 2000 in den Stadtrat von Rio de Janeiro gewählt wurde. Der ehemalige Polizeibeamte war einer der führenden Köpfe der selbst ernannten Parapolizeigruppe „Liga da Justiça“ (Gerechtigkeitsliga). 2004 wurde er wiedergewählt. Er nahm auch Einfluss auf die Wahl seines Bruders zum Abgeordneten im Bundesstaat Rio de Janeiro 2006 sowie auf die seiner Tochter zur Stadträtin 2009. Als im Rahmen der bereits erwähnten, 2008 eingesetzten parlamentarischen Kommission zur Untersuchung von Milícia-Aktivitäten zahlreiche Klagen erhoben wurden, leitete die „Spezialeinheit gegen organisiertes Verbrechen der Polizeibehörde des Bundesstaates Rio de Janeiro“ (Delegacia de Repressão às Ações Criminosas Organizadas, DRACO) Ermittlungen gegen die Gerechtigkeitsliga ein. Dies blockierte die Wahlambitionen dieser Gruppe, die seither erfolglos geblieben sind. 2022 erklärte Jerominho, für die nationale Abgeordnetenkammer kandidieren zu wollen. Kurz darauf wurde er ermordet. Dies verweist auf einen Generationswechsel innerhalb der milícias und auf interne Streitigkeiten zwischen konkurrierenden Gruppen (Olivera/Soares 2022). Allerdings zeigt schon der Versuch einer der wichtigsten Führungsfiguren aus den Anfangszeiten der milícias, auf die Bühne des politischen Wettstreits zurückzukehren, dass die von uns vertretene These der Strategie territorialer Kontrolle durch formale politische Repräsentation eine gewisse Plausibilität hat.
Neu ist jedoch, dass sich diese Strategie, Gebiete durch Wahlen – das heißt, durch Vertreter_innen der milícias in Stadträten und Parlamenten – zu kontrollieren, auch auf andere Gemeinden in der MRRJ ausgeweitet hat, und zwar nach demselben Muster und in ebenso hohem Umfang wie zuvor in der Zona Oeste. Der Kartierung von Hirata und Couto (2022) zufolge hängt diese Entwicklung mit der größeren Präsenz und Aktivität der milícias im westlichen Teil der Metropolregion zusammen wie auch mit deren jüngster Expansion in genau diese benachbarten Gebiete, wohingegen Drogenorganisationen eher im östlichen Teil der Metropolregion aktiv sind.
Durch die Kombination von Daten aus der Kartierung zu bewaffneten Gruppen (Hirata/Couto 2022) mit Informationen, die von der obersten Wahlbehörde TSE zur Verfügung gestellt wurden, konnten wir ermitteln, dass bei den Kommunalwahlen 2020 in der MRRJ insgesamt 2.296.477 registrierte Wähler_innen Wahllokalen[9] zugeordnet waren, die in von milícias oder Drogenorganisationen kontrollierten Gebieten lagen. Dies entspricht 24,6 Prozent aller in der MRRJ registrierten Wähler_innen. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2022 lagen die Wahllokale von 14,8 Prozent der registrierten Wähler_innen in von milícias kontrollierten Gebieten. Weitere 9,7 Prozent wählten in vom Drogenhandel beherrschten Gegenden. Beides zusammengenommen stimmten 24,5 Prozent der Wähler_innen in Wahllokalen in Gebieten der unter Kontrolle irgendeiner bewaffneten Gruppe ab. Im Vergleich zu den Kommunalwahlen von 2012 erhöhte sich die Gesamtzahl der in diesen Wahlbezirken registrierten Wähler_innen um fast ein Drittel (29,3 Prozent). Berücksichtigt man ausschließlich die von milícias kontrollierten Gebiete, beträgt die Zunahme sogar 41,5 Prozent, während die Zahl der Wähler_innen in von Drogenorganisationen dominierten Gegenden mehr oder weniger gleich blieb (siehe Tabelle 1).
Kommunalwahl 2012 absolute Zahl (prozentualer Anteil) |
Präsidentschaftswahl 2022 absolute Zahl (prozentualer Anteil) |
|
Gesamtzahl Wähler_innen |
8.635.244 |
9.619.451 |
Wähler_innen in von milícias kontrollierten Gebieten |
833.266 (9,6 %) |
1.423.697 (14,8 %) |
Wähler_innen in von Drogenorganisationen kontrollierten Gebieten |
829.353 (9,6 %) |
930.641 (9,7 %) |
Wähler_innen in Gebieten unter der Kontrolle bewaffneter Gruppen |
1.662.619 (19,3 %) |
2.389.338 (24,5 %) |