sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 169-198

doi.org/10.36900/suburban.v11i3/4.863

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CC BY-SA 4.0

Ersteinreichung: 11. Dezember 2022

Veröffentlichung online: 3. November 2023

Konservative Wende, milícias und die Wahlen

Überlegungen zum Fall Brasiliens

Orlando Santos Junior, Filipe Corrêa, Juciano Rodrigues

Brasilien erlebt derzeit eine konservative Wende, die ihren Ausdruck nicht nur in der Präsidentschaft Jair Bolsonaros (2019-2022) fand, sondern sich auch in der Ausweitung des Phänomens sogenannter milícias (Parapolizeigruppen) in einkommensschwachen Vierteln manifestiert sowie im Aufkommen antisozialer Bewegungen, die sich selbst als rechtsgerichtet und konservativ verstehen. In diesem Kontext diskutiert der Beitrag am Beispiel der Metropolregion Rio de Janeiro das Wechselverhältnis zwischen (a) der Entstehung konservativer und rechtsextremer Gruppen, (b) der Ausbreitung von milícias im Stadtgebiet Rio de Janeiros und (c) deren Einfluss auf das Wahlverhalten in von ihnen dominierten einkommensschwachen Vierteln bei Wahlen zwischen 2018 und 2022. Die von den milícias praktizierten Formen der Gebietskontrolle – unter anderem Informationsnetzwerke, disziplinarische soziale Kontrolle, die Vermittlung zwischen individuellen und kollektiven Interessen sowie die Kontrolle von Wahlen – finden bislang weder bei Behörden noch in der Sozialanalyse und -forschung hinreichend Beachtung. Eine Reihe politischer Organisationen und alternativer Medien sind verantwortlich für die Verbreitung antidemokratischer Werte und Praktiken. Damit verfolgen sie das Ziel, die unterschwellige konservative Wende im Land zu legitimieren und die Beziehungen zwischen Stadterfahrung und Demokratie zu schwächen.

An English abstract can be found at the end of the document.

1. Einleitung

Brasilien erlebt seit einigen Jahren eine konservative Wende. Während andere Studien Faktoren wie die Krise der Demokratie und die Verleugnung der Politik (Solano 2019) oder die Zunahme des religiösen Konservatismus (Almeida 2019) beleuchten, möchten wir mit dieser Studie den von uns so bezeichneten Milícia-Effekt auf das Wahlverhalten in einkommensschwachen Vierteln untersuchen. Mit anderen Worten soll in diesem Beitrag untersucht werden, wie die territoriale Kontrolle durch sogenannte milícias[1] ein rechtsextremes politisches Projekt befördert, das auf der Mobilisierung konservativer Werte in der Gesellschaft sowie auf der räumlichen Kontrolle von Wahlen beruht. Unsere Hypothese lautet, dass die Aktivitäten von milícias in Rio de Janeiro die Ausbreitung antidemokratischer Werte und Praktiken befördern. Dadurch ist die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten einer konservativen Umwälzung ihrer politischen Glaubenssysteme und Gepflogenheiten ausgesetzt. Die Ursache hierfür ist vor allem eine Schwächung urbaner Bindungen, die auf dem zentralen Element der Demokratie beruhen: der politischen Emanzipation.

Zur Prüfung unserer Hypothese stützen wir uns auf Theorien zum Wahlverhalten, die sich mit territorialen Einflüssen auf die Stimmabgabe befassen. Wir sehen aber auch die Notwendigkeit, über die in der internationalen Literatur zu diesem Thema etablierten Modelle hinauszudenken, um das Phänomen in ganz konkreten räumlichen Kontexten erfassen zu können. Anders ausgedrückt reichen klassische Variablen wie Parteiidentifikation, politisches Bewusstsein oder Zugang zu Medien und Wahlkampagnen nicht aus, um ein derart komplexes Phänomen zu erklären. Hierbei ist zu bedenken, dass die von den milícias genutzten Praktiken der territorialen Kontrolle noch nicht in all ihren Dimensionen hinreichend verstanden wurden. Dies gilt insbesondere für die Informationsnetzwerke, die disziplinierende soziale Kontrolle, die Vermittlung zwischen individuellen und kollektiven Interessen sowie die Kontrolle von Wahlen.

Wir stellen unsere Überlegungen am Beispiel der Metropolregion Rio de Janeiro (MRRJ) an.[2] Diese ist gekennzeichnet durch extreme sozialräumliche Ungleichheiten, die sich in einer Trennung nach Klasse, Geschlecht und raça (Rasse bzw. Rassifizierung) niederschlagen. Die Viertel der Ober- und Mittelschicht beziehungsweise der weißen Bevölkerung liegen größtenteils in der Zona Sul (Südzone) und im Stadtteil Barra da Tijuca im Südwesten der Stadt. Die Viertel, in denen Menschen mit geringeren Einkommen, schwarze Menschen (pretos) und People of Color (pardos) leben,[3] befinden sich in der Zona Oeste (Westzone) und der Zona Norte (Nordzone) der Stadt, in den peripheren Munizipien der Metropole, insbesondere in der Region Baixada Fluminense, sowie in den Favelas, die sich über alle ärmeren Stadtteile ausbreiten. Sehr stark präsent sind milícias vor allem in der Zona Oeste. In den letzten Jahren haben sie ihre räumliche Kontrolle jedoch auch in Richtung Baixada Fluminense ausgedehnt.

Die Expansion der milícias in der Metropolregion wurde durch mehrere Studien belegt (Cano/Duarte 2012; Manso 2020). Sie zeigen das Ausmaß des Milícia-Phänomens in der MRRJ, was unser Interesse an diesem Fallbeispiel begründet. Die bewaffnete Kontrolle einkommensschwacher Viertel durch kriminelle Parapolizeigruppen könnte einen Einfluss auf die dortigen Wahlergebnisse gehabt haben – dieser Hypothese möchten wir im Folgenden nachgehen.

Dazu nutzen wir die neuesten Daten aus einer von Daniel Veloso Hirata und Maria Isabel Couto (2022) erarbeiteten Kartierung bewaffneter Gruppen in Rio de Janeiro. Wir identifizieren damit jene Gebiete der Metropolregion, die von milícias oder den Organisationen des Drogenhandels beherrscht werden. Um den Zusammenhang zwischen den Aktivitäten von milícias und der Stimmabgabe für (extrem) rechte Kandidat_innen erforschen, verwenden wir die Wahlergebnisse von 2018, 2020 und 2022.[4] Anhand dieser Daten können wir überprüfen, ob milícias in den von ihnen kontrollierten Teilen einkommensschwacher Viertel tatsächlich Wahlen kontrollieren und ob ein Zusammenhang mit dem Abschneiden von Jair Bolsonaro bei den Präsidentschaftswahlen von 2018 und 2022 besteht. Unser zugrundeliegender Ansatz geht dem Phänomen von Illegalität und urbaner Gewalt mit Blick auf ein System von Praktiken und Repräsentationen nach, die sich an den häufig durchlässigen und nicht klar erkennbaren Grenzlinien zwischen legal und illegal, rechtmäßig und nicht rechtmäßig, formell und informell verorten lassen. Dieses System umfasst unter anderem die milícias, den Drogenhandel, Militäroperationen in Favelas sowie das Gefängnissystem. Dabei nehmen wir einen Zusammenhang an zwischen dem Aufschwung der Rechten und extremen Rechten im Land – der sich in der Ausbreitung bestimmter Gruppen, Medien und sozialen Praktiken manifestiert (Santos Junior 2022) – und der Wahl Jair Bolsonaros zum Präsidenten (Setzler 2021). Wir behaupten, dass dieser Zusammenhang in Rio de Janeiro eng mit der Expansion des Milícia-Phänomens verbunden ist.

Um dieses Argument zu entwickeln, gliedert sich der Beitrag in drei Teile: Zunächst skizzieren wir die theoretische Perspektive auf das Wahlverhalten in Brasilien mit Blick auf die verschiedenen Stadtviertel. Anschließend thematisieren wir die konservative Wende von 2018, die im Wahlsieg der von Jair Bolsonaro repräsentierten extremen Rechten zum Ausdruck kam, sowie die neuen Herausforderungen durch das Wiedererstarken progressiver Kräfte nach dem Sieg Luiz Inácio Lula da Silvas bei den Wahlen von 2022. Im dritten Teil diskutieren wir den Zusammenhang zwischen bewaffneten Gruppen – einschließlich der milícias – und dem Wahlverhalten in der Metropolregion Rio de Janeiro. Der Beitrag schließt mit einigen Überlegungen zum Milícia-Effekt und dessen Auswirkungen auf die Stadt und die Demokratie.

1. Theoretische Perspektiven auf das Verhältnis zwischen Wahlverhalten und Raum in Brasilien

In Brasilien existiert ein reichhaltiger Korpus an Literatur zum Thema Wahlverhalten, der auf der Rezeption international anerkannter Theorieansätze basiert. Ein Teil dieser Arbeiten konstatiert, die brasilianischen Wähler_innen träfen ihre Entscheidung spätestens seit den Präsidentschaftswahlen von 1994 danach, wie sie die Arbeit der amtierenden Regierung oder genauer gesagt deren Wirtschaftspolitik bewerten (Meneguello 1996; Carreirão 1999, 2004, 2007; Nicolau 2007). Ein alternativer, seit den frühesten Untersuchungen des Wahlverhaltens in Brasilien häufig vertretener Ansatz hebt hingegen wahlbeeinflussende soziologische Faktoren hervor. Er versucht insbesondere, Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und politischer Positionierung zu identifizieren – etwa die Zugehörigkeit zur Elite mit der Ausrichtung auf eher konservative und rechte Parteien oder die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse mit der Tendenz zu linken Parteien. Neuen Auftrieb erfuhr diese soziologische Perspektive zuletzt durch die Arbeiten von André Singer (2009, 2012) zum Phänomen des Lulismus. Darin versucht der Autor, Lulas ersten Sieg bei der Präsidentschaftswahl 2002 zu erklären. Singer zufolge kam es bei dieser Wahl zu einer ideologischen Umorientierung der brasilianischen Wähler_innen sowie zusätzlich zu einer Neugestaltung des ideologischen Images, also der bedeutungsgebenden politischen Symbole der Arbeiterpartei (Partido de los Trabalhadores, PT). Dies führte letztlich dazu, dass ärmere Wähler_innenschichten den Kandidaten Lula da Silva unterstützten und für ihn stimmten. Die klare räumliche Ausprägung der Ergebnisse dieser Wahl deutet Singer zufolge darauf hin, dass die von der PT zu jener Zeit vertretene soziale Programmatik an Popularität gewonnen hatte. Singers These greift also Elemente von Erklärungsansätzen für das Wahlverhaltens auf, die sich mit den Ideologien politischer Parteien und deren Rolle bei der Herausbildung von Parteipräferenzen sowie letztlich der Wahlentscheidung bei Präsidentschaftswahlen in Brasilien befassen.

Allerdings weisen einige Autor_innen auf die möglichen Schwachstellen dieses soziologischen Ansatzes hin (Nicolau/Peixoto 2007; Hunter/Power 2007; Soares/Terron 2008). Sie verweisen auf die positiven Auswirkungen von Sozialprogrammen wie „Bolsa Família“. Dies spreche ihrer Ansicht nach für die These eines retrospektiven Wählens, wonach letztlich die Leistungen einer Regierung wahlentscheidend seien. Diesen Autor_innen zufolge fand keine ideologische Umorientierung statt, sondern vielmehr eine positive Bewertung der Wirtschafts- und Sozialpolitik – insbesondere bei Empfänger_innen sozialer Transferleistungen. Dieses Argument hat ein größeres Erklärungspotenzial als die Variable Ideologie, deren Aussagekraft begrenzt ist, da sich die Mehrheit der Wähler_innen nicht klar auf einer Rechts-Links-Skala einordnen lässt (Carreirão 2002; Turgeon/Rennó 2010; Oliveira/Turgeon 2015).

Trotz dieser Fülle an Studien zu Wahlentscheidungen bei Präsident­schaftswahlen gibt es keine vergleichenden Studien, die mit denselben Variablen andere Wahlen untersuchen – seien es jene nach Mehrheitswahlrecht wie Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen oder jene nach Verhältniswahlrecht wie Parlamentswahlen auf nationaler, bundesstaatlicher oder kommunaler Ebene. Wahlergebnisse unterhalb der Bundesebene werden in der Regel mit Blick auf den sogenannten Coattail-Effekt analysiert, also hinsichtlich der Frage, wie stark die Prominenz oder Beliebtheit bestimmter Politiker_innen, die bei Präsidentschafts- oder Gouverneurswahlen antreten, auf andere Kandidat_innen ausstrahlt (Ames 1994; Borges/Loyd 2016; Samuels 2020).

Um den Zusammenhang zwischen der territorialen Kontrolle bestimmter Stadtviertel durch milícias und der politischen Dominanz, die sich in der massiven Stimmabgabe zugunsten rechtsextremer Kandidat_innen niederschlägt, erfassen zu können, müssen wir die vorliegenden Ansätze um eine räumliche Dimension erweitern. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung waren Studien, die sich mit den Auswirkungen des Wahlrechts auf das brasilianische Parteiensystem befassten. Laut Ames (2023) ermöglicht das System der offenen Listenwahl verschiedene Strategien rund um die räumliche Verteilung von Wähler_innenstimmen. Die Auswirkung dieser verschiedenen Wahlstrategien auf das parlamentarische Agieren der gewählten Vertreter_innen zeigt sich in der Bindung von Wähler_innen an die Kandidat_innen. Das bedeutet, dass die Charakteristika des jeweiligen Wahlkreises Vorhersagen über das Abstimmungsverhalten von Abgeorfneten im Parlament ermöglichen.

Die ursächlichen Mechanismen einer Art von kumulierendem Wahlverhalten sind jedoch noch nicht vollständig erforscht. Laut Filipe Corrêa (2011) muss eine territorial bezogene Erklärung des Wahlverhaltens die Dimension objektiver Bedürfnisse berücksichtigen, also den Mangel an öffentlicher Infrastruktur in einem Viertel, der zur politischen Verhandlungsmasse werden kann. Einbezogen werden muss jedoch auch die soziale und politische Identifikation der Wähler_innen in den jeweiligen Wahlkreisen. Diese lässt sich anhand bestimmter politischer Wahrnehmungen und Werte feststellen. Der unmittelbare räumliche Kontext ist daher ein wichtiger Faktor zur Erklärung des politischen Verhaltens (Pattie/Johnston 2000; Johnston/Pattie 2006). Das gilt nicht nur hinsichtlich der Inhalte und Intensität der im Stadtviertel stattfindenden Interaktionen, sondern auch mit Blick auf die Entstehung von Gruppenidentitäten, die Herausbildung gemeinsamer politischer Haltungen und Werte sowie auf die Entwicklung bestimmter Verhaltensweisen aufgrund der objektiven Gegebenheiten, die alle in einem Viertel lebenden Menschen betreffen.

Hinsichtlich der von milícias kontrollierten Gebiete lautet unser Argument, dass ein System von Praktiken und Repräsentationen – das in einem bestimmten räumlichen Kontext den Alltag reguliert – auch das politische Verhalten beeinflusst. Dieser Einfluss äußert sich nicht allein in Form unmittelbarer Kontrolle durch Zwang, sondern auch in Überzeugungen, Legitimationen und einer Reihe von Werten, die Akteur_innen, die im selben Stadtviertel leben, miteinander teilen. Das Thema unserer Studie – die Kontrolle des Wahlverhaltens in bestimmten Teilen der Stadt – ist in diesem Sinne als Beispiel eines sozialen Phänomens zu verstehen, das wir als Milícia-Effekt bezeichnen wollen.

Dabei sollte auch erwähnt werden, dass zur gleichen Zeit, in der bewaffnete Parapolizeigruppen zunehmend die Kontrolle über arme Stadtviertel übernahmen und die dort existierenden Formen kollektiven Handelns zum Erliegen brachten, auf nationaler Ebene einige politische Gruppen[5] entstanden sind, die als Bindeglied zwischen nationalen und lokalen Werten, Agenden und Praktiken fungieren (Santos Junior 2022). Das zwischen bewaffneten milicías und politischen Gruppen bestehende Verhältnis manifestiert sich zum einen im parlamentarischen Raum, nämlich durch die Wahl von Abgeordneten mit Verbindungen zu milícias und zum anderen in sozialen Netzwerken, mittels derer sich Nachrichten und Informationen verbreiten. Die besagten Gruppen bezeichnen sich selbst als konservativ und rechts, aber viele von ihnen könnten durchaus als rechtsextrem eingeordnet werden. Sie bestehen mehrheitlich aus Unterstützer_innen und Anhänger_innen des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro: Von all diesen Gruppen hat sich lediglich eine – das „Movimento Brasil Livre“ (MBL) – erklärtermaßen gegen die Bolsonaro-Regierung positioniert. Organisiert sind die Gruppen rund um Führungspersönlichkeiten, die sich mitunter nicht lange halten, schnell auftauchen und ebenso schnell wieder in der Versenkung verschwinden. Entscheidend für unsere Argumentation ist jedoch, dass die meisten dieser politischen Organisationen eine konservative Agenda vertreten (z. B. gegen Abtreibung, gegen digitale Wahlen, für die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters oder für einen schlanken Staat), dass sie den Feind in der Linken und im Kommunismus sehen, zur Verbreitung ihrer Anliegen auf öffentliche Demonstrationen setzen und Online-Nachrichtenseiten betreiben, die zuverlässig ihre Werte kommunizieren.[6] Tatsächlich sprießt zusammen mit diesen Organisationen eine Unmenge von Online-Nachrichtendiensten und Profilen auf sozialen Medien aus dem Boden. Das Ergebnis ist eine lange Liste von Kommunikationsinstrumenten, die im Dienst von Desinformation und konservativer Propaganda stehen.

Daher vertreten wir in diesem Beitrag die These, dass ein Zusammen­hang zwischen der Ausbreitung von milícias, der Expansion konservativer und rechter Gruppen und der Wahl rechtsextremer Parteien und Politiker_innen besteht. Jair Bolsonaro ist dafür nur ein Beispiel. Erklären lässt sich dieser Zusammenhang unserer Ansicht nach dadurch, dass es in manchen Stadtvierteln die milícias sind, die disziplinierende Kontrolle ausüben und zwischen individuellen und kollektiven Interessen vermitteln. Zugleich bringen diese bewaffneten Akteur_innen deutlich zum Ausdruck, wie die Konservativen das weitverbreitete Gewaltproblem in den Städten lösen wollen: durch massive soziale Kontrolle und den Einsatz von Gewalt gegen Personen, die durch vermeintlich deviantes Verhalten auffallen.

2. Die konservative Wende und Bolsonaros Stärke bei den Wahlen

Ausgehend von den Überlegungen im vorherigen Abschnitt lautet unser Argument, dass das Wahlverhalten kein unmittelbares Resultat ökonomischer Phänomene ist. So lässt sich beispielsweise kein direkter Zusammenhang zwischen Armut, sozialer Schichtzugehörigkeit und der Wahl linker Parteien feststellen. Vielmehr wird das Wahl­verhalten durch Institutionen, soziale Praktiken, Werte und die in spezifischen zeitlich-räumlichen Kontexten geteilten gesellschaftlichen Stimmungslagen bestimmt. Aus dieser Sicht ist die Erklärung für die konservative Wende, die ihren Ausdruck im Wahlsieg Bolsonaros und der extremen Rechten fand, in einem Zusammenspiel mehrerer gleichzeitig wirkender Faktoren zu suchen. Es geht also um eine multikausale Erklärungsmatrix, die auf verschiedenen Ebenen auch territoriale Dimensionen des Wahlverhaltens miteinbezieht. Außerdem müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass die Narrative, die das Wahlergebnis erklären, ebenfalls umstritten, das heißt, mit Auseinandersetzungen über die Klassifizierung der sozialen Welt an sich (Bourdieu 2001) verwoben sind und sich auf das zukünftige Vorgehen und die Entscheidungen von Parteien und Kandidat_innen auswirken.

Es sei daran erinnert, dass Lateinamerika zwischen den späten 1990er Jahren und den 2000er Jahren einen Zyklus sogenannter progressiver Regierungen durchlief. Im Zuge einer Suche nach politischen Alternativen wurden in der Region zahlreiche Kandidaten linker Parteien an die Macht gewählt: Hugo Chávez in Venezuela, Lula da Silva in Brasilien, Rafael Correa in Ecuador, Evo Morales in Bolivien, Daniel Ortega in Nicaragua, Fernando Lugo in Paraguay, José Mujica in Uruguay, Néstor Kirchner in Argentinien und Ollanta Humala in Peru. Auch wenn viele von ihnen letztlich eine neoliberale Politik betrieben oder gar ihre politische Richtung wechselten und sich dem konservativen Spektrum beziehungsweise der Rechten annäherten, ist die Zahl linker Politiker_innen, die in diesem Zeitraum in Lateinamerika gewählt wurden, beachtlich. So baute sich in den 2000er Jahren die sogenannte „rosa Welle“ auf,[7] während in den 2010er Jahren eine Art Gezeitenwechsel zu beobachten war, der in mehreren Ländern – darunter Argentinien, Chile, Kolumbien, Peru und Brasilien – die Rechte wieder an die Macht spülte.

Bilanziert man hingegen die Wahlen in den Ländern des Kontinents seit 2018, so zeigt sich ein differenzierteres Bild (Lissardy 2020): Die politische Landschaft ist recht komplex und wird weder von der Rechten noch von der Linken dominiert. Während rechte Parteien in Brasilien (2018), Kolumbien (2018), Uruguay (2019), Guatemala (2019) und El Salvador (2019) siegreich waren, gewannen Mitte-Links-Parteien in Mexiko (2018), Argentinien (2019), Panama (2019), Bolivien (2020), Chile (2021) und Peru (2021). Zuletzt siegten mit Lula da Silva und Gustavo Petro auch Mitte-Links-Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen in Brasilien (2022) und Kolumbien (2022).

Auch wenn manche Analyst_innen damals nicht mit einem Sieg der extremen Rechten gerechnet hatten, war Brasilien mit der Wahl von Jair Bolsonaro 2018 keineswegs ein Einzelfall. Auch in vielen anderen Ländern folgten auf progressive Regierungen konservative oder neoliberale. Bemerkenswert ist in Brasilien daher nicht der politische Richtungswechsel von links nach rechts an sich, sondern der Aufstieg rechter und rechtsextremer Gruppierungen mit ihren Hochburgen vor allem im Süden, Südosten und Mittelwesten des Landes. Dort konnte Bolsonaro 2018 die Wahlen für sich entscheiden (Carvalho/Santos Junior 2019). Als paradigmatisch für den engen Zusammenhang zwischen der konservativen Wende und der Ausbreitung des Milícia-Phänomens kann jedoch Rio de Janeiro gelten: Hier startete Jair Bolsonaro seine politische Karriere und hier hat er immer noch seine stärkste Basis an Unterstützer_innen.

Wie bereits erwähnt, hat es den Anschein, als seien ausgesprochen reaktionär-konservative gesellschaftliche Organisationen und kollektive Aktionsformen entstanden. Laut Santos Junior (2022) unterscheiden diese sich in mehrfacher Hinsicht von sozialen Bewegungen, auch wenn es in einzelnen Aspekten durchaus Übereinstimmungen gibt. Im urbanen Kontext Brasiliens könnte diese reaktionär-konservative Bewegung als eine neue Form kollektiven Handelns verstanden werden. Sie könnte zumindest behelfsmäßig als soziale Gegenbewegung (Rezende 2016) oder antisoziale Bewegung beschrieben werden, die es jedoch noch eingehender zu untersuchen und zu verstehen gilt.

Anhand journalistischer Recherchen (Pantolfi 2020; Manso 2020) und eigener Feldforschung fasst Santos Junior (2022) explorativ einige Merkmale dieser Formen konservativen kollektiven Handelns zusammen: (a) Ablehnung von Politik und Demokratie als öffentlicher Sphäre der Konfliktregulierung und des Zusammenlebens mit anderen Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit; (b) zentralisierte, undurchsichtige und streng hierarchische Formen der Entscheidungsfindung; (c) mit konservativen religiösen Institutionen (vor allem Neo-Pfingstkirchen) verbundene Formen der Verhaltenskontrolle; (d) ein auf der diffusen Kontrolle sozialer Netzwerke beruhendes Handlungsrepertoire, einschließlich der Produktion und Verbreitung eigener Nachrichten (inklusive einer Unmenge an Fake News) und der Ausrichtung auf bestimmte Zielgruppen und (e) Verbindungen zu bewaffneten Parapolizeigruppen, die durch das eigene kollektive Handeln gestützt und legitimiert werden. Und schließlich scheint diese neue Form des kollektiven Handelns nach innen sehr heterogen zu sein. In der Tat sieht es so aus, als sei das einende Moment nicht das Ergebnis einer Kampagne oder eines klar formulierten Anspruchs. Einigkeit besteht allein in der Negation – weshalb es naheliegend ist, diese neue Form politischen Handelns mit der Vorsilbe „anti“ zu versehen, das heißt antilinks, antidemokratisch, antiliberal und so weiter. Außerdem gibt es immer mehr oder weniger charismatischen Führungsfiguren, denen es gelingt, ein breites Spektrum von Personen und eine Reihe territorialer Organisationen hinter sich zu versammeln, indem sie als Vermittler_innen zwischen lokalen Interessen und dem legalen oder illegalen institutionellen System fungieren.

In Brasilien scheinen sich in einkommensschwachen Vierteln einige Formen kollektiven Handelns herauszubilden, die den genannten Merkmalen antisozialer Bewegungen sehr nahekommen. Sie werden aber mitunter nicht als solche erkannt, da sie nicht in der traditionellen Form sozialer Bewegungen organisiert sind. Allem Anschein nach gewinnen sie vor allem in bestimmten Regionen des Landes an Stärke. Insbesondere in den einkommensschwachen Stadtvierteln Rio de Janeiros könnten sie die Wahlergebnisse beeinflusst haben. So kommen wir schließlich zu den Wahlen selbst und damit zur Frage nach den möglichen Auswirkungen der bewaffneten Kontrolle dieser Stadtviertel auf das Wahlverhalten.

Auch wenn Erklärungsansätze, die auf einzelne Motivationen von Wähler_innen ausgerichtet sind, dies nicht abbilden können: Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen von 2022 zeigen – ähnlich wie die der Wahlen von 2018 (Carvalho/Santos Junior 2019) – eine tief reichende territoriale Spaltung des Landes in den Nordosten und Norden auf der einen und den Süden, Südosten und Mittelwesten auf der anderen Seite. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2022 gewann Lula da Silva (PT) mit 50,9 Prozent der gültigen Stimmen nur knapp gegen Jair Bolsonaro, den amtierenden und zur Wiederwahl angetretenen Präsidenten von der Liberalen Partei (Partido Liberal, PL). Der Nordosten war die einzige Region Brasiliens, in der Lula eine klare Mehrheit erreichen konnte: Dort stimmten 69,4 Prozent für ihn und 30,7 Prozent für Bolsonaro. Letzterer erzielte seine besten Ergebnisse im Süden, wo er 61,8 Prozent der Stimmen erhielt und Lula nur 38,2 Prozent. Auch in den anderen Regionen schnitt Bolsonaro besser ab als Lula: Im Mittelwesten waren es 60,2 Prozent für Bolsonaro gegenüber 39,8 Prozent für Lula, im Südosten 54,3 Prozent zu 45,7 Prozent. Im Norden, wo der Wahlausgang besonders knapp war, stimmten 51 Prozent für Bolsonaro und 49 Prozent für Lula. Insgesamt war Lula in 13 Bundesstaaten der Gewinner, darunter in allen Staaten des Nordostens plus Minas Gerais im Südosten sowie Amazonas, Pará und Tocantins im Norden. Bolsonaro siegte in 14 Bundesstaaten, darunter in allen Staaten des Südens, drei der vier Bundesstaaten im Südosten und dem größten Teil des Nordens. In den Städten zeigte sich hingegen ein anderes Bild: Hier lag Lula in 3.125 Munizipien vor Bolsonaro, der die Wahl nur in 2.445 Städten für sich entscheiden konnte.

Abb. 1 Verteilung gewonnener Wahlkreise in der zweiten Runde der Präsidentschafts­wahlen 2022 nach Städten und Regionen (Quelle: eigene tabellarische Darstellung basierend auf Daten der obersten Wahlbehörde Tribunal Superior Eleitoral, TSE)
Abb. 1 Verteilung gewonnener Wahlkreise in der zweiten Runde der Präsidentschafts­wahlen 2022 nach Städten und Regionen (Quelle: eigene tabellarische Darstellung basierend auf Daten der obersten Wahlbehörde Tribunal Superior Eleitoral, TSE).

Entsprechend der oben dargestellten Diskussion über Theorien zur Erklärung des Wahlverhaltens lassen sich der Sieg Bolsonaros bei den Wahlen 2018 und sein eindrucksvolles Abschneiden bei den Wahlen 2022 nicht durch eine einzige objektive Ursache erklären. Vielmehr ist sein Erfolg auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen, wobei sich ökonomische, politische, religiöse, moralische und soziale Motive miteinander vermischen. Es ist jedoch durchaus plausibel, von der Hypothese auszugehen, dass sein gutes Wahlergebnis stark mit einer größeren Präsenz konservativer Institutionen (Agrarindustrie, Neo-Pfingstkirchen, antisoziale Bewegungen, konservative Medien, offen neoliberale Institute usw.) zusammenhängt. Aus dieser Perspektive wollen wir einen Mikrokosmos dieses Universums erforschen, nämlich die von bewaffneten Gruppen kontrollierten einkommensschwachen Viertel Rio de Janeiros, in denen Bolsonaros Wähler_innenbasis besonders groß ist.

3. Bewaffnete Gruppen, milícias und das Wahlverhalten in der Metropolregion Rio de Janeiro

Jüngste Studien weisen darauf hin, dass sich das Agieren der milícias seit dem von Ignácio Cano und Thais Duarte (2012) untersuchten Zeitraum von 2008 bis 2011– also kurz nachdem das Parlament des Bundesstaates Rio de Janeiro eine parlamentarische Kommission (Comissão Parlamentar de Inquérito) eingesetzt hatte, um die Milícia-Aktivitäten in der Stadt zu untersuchen – in einiger Hinsicht verändert hat. Zu jener Zeit schienen die milícias bei ihren Aktionen auf Diskretion und Anonymität geachtet zu haben, höchstwahrscheinlich aufgrund der laufenden Ermittlungen gegen ihre Organisationen. Aber wie Hirata und Couto (2022) darlegen, haben sie in den vergangenen zehn Jahren offenbar eine neue Phase der offensiven Gebietskontrolle eingeläutet. Sie wurden in immer mehr Stadtvierteln aktiv, ja sogar in anderen Munizipien in der Metropolregion Rio de Janeiro. Sie beherrschen neue Gebiete, die bislang nicht von bewaffneten Gruppen kontrolliert worden waren. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass sich Struktur und Auftreten der milícias seit ihren Anfängen in den 1950er Jahren verändert haben (Souza Alves 2003; Misse 2011; Manso 2020). Auch wenn sie gewisse Unschärfen aufweist, kann man derzeit für Brasilien – und insbesondere für Rio de Janeiro – die von Cano (2008) vorgeschlagene Definition übernehmen, wonach das Milícia-Phänomen als ein Ensemble gleichzeitiger Praktiken zu verstehen ist. Dazu gehören:

  1. die Kontrolle eines Gebietes und der dort ansässigen Bevölkerung durch eine irreguläre bewaffnete Gruppe;
  2. der Zwangscharakter dieser Kontrolle über die Bewohner_innen des betreffenden Gebietes;
  3. persönlicher Nutzen als Hauptmotiv der Mitglieder dieser Gruppen;
  4. ein Legitimationsdiskurs über den Schutz der Bewohner_innen und die Schaffung einer Ordnung, die wie jede Ordnung, bestimmte Rechte garantiert und andere ausschließt, es aber ermöglicht, Regeln und Erwartungen an die Normalisierung des Verhaltens zu formulieren;
  5. die Mitwirkung von Staatsbediensteten als aktive und bekannte Angehörige bewaffneter Gruppen (Cano 2008: 59).

Mit anderen Worten sind die milícias bewaffnete Gruppen, die sich aus aktiven oder ehemaligen Mitgliedern staatlicher Sicherheitsorgane (wie Polizei, Justizvollzug oder Feuerwehr) sowie Politiker_innen und Zivilist_innen zusammensetzen. Sie kontrollieren die Stadtviertel und Gemeinden durch (physischen oder psychischen) Zwang und durch das Verbreiten von Angst, aber auch durch Zustimmung und Legitimation. Dadurch üben sie eine gewisse Macht über das betreffende Gebiet aus. Außerdem schlagen sie Profit aus Dienstleistungen, die eigentlich die öffentliche Hand oder privatwirtschaftliche Anbieter_innen erbringen sollten, wie Sicherheit, Gasversorgung, Zugang zu Internet oder Kabelfernsehen, Beleuchtung, Wohnungsbau oder Nahverkehr. Die Aktivitäten der milícias bei der Schaffung der Stadt und der Kontrolle einkommensschwacher Viertel wirken sich daher generell massiv auf die Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Bürger_innenrechten sowie des Rechts auf Stadt aus.

In den letzten Jahren haben diese Parapolizeigruppen ihr Handlungsfeld um einige Formen der ökonomischen Verwertung erweitert. Sie sind in Bereiche expandiert, aus denen bislang nicht so viel Profit geschlagen wurde; sie haben sozusagen ein neues Geschäftsmodell entwickelt. Zu nennen wären hier vor allem Aktivitäten auf dem Immobilienmarkt: Diese sind zu einem zentralen Baustein des neuen Geschäftsmodells dieser Gruppen geworden, wie Mansos (2020) Studie zu den Ursprüngen und Umstrukturierungen der Milizen in Rio de Janeiro und insbesondere der Abschlussbericht einer von der Heinrich-Böll-Stiftung geförderten Studie zu neuem Illegalismus (Hirata et al. 2021) deutlich machen. Die in dem Bericht vorgestellte Untersuchung beschreibt, auf welche verschiedenen Weisen milícias in den Immobiliensektor involviert sind. Dazu gehören (a) die Inbesitznahme und Kommerzialisierung öffentlicher Straßen und Plätze, (b) die Aneignung von Eigentumswohnungen, die im Rahmen des sozialen Wohnungsbauprogramms „Minha Casa Minha Vida“ mit Bundesmitteln errichtet wurden sowie (c) der Bau von Wohnraum, einschließlich der Errichtung von Wohngebäuden in Naturschutzgebieten. Die Autor_innen zeigen auf, dass Angehörige der milícias vielerorts die Bewohner_innen der von ihnen in Besitz genommenen Wohneinheiten enteignen und zwangsweise räumen lassen, um die Wohnungen anschließend weiterzuverkaufen.

Das Geschäftsmodell der milícias stützt sich sowohl auf die bewaffnete Kontrolle von Gebieten als auch auf die Anbindung an das institutionelle System politischer Repräsentation. Dieses Systemnutzen einige führende Persönlichkeiten aus den Stadtvierteln, die den milícias nahestehen (oder die von ihnen unterstützt werden), um als gewählte Abgeordnete zwischen den Interessen der Community und der Exekutive zu vermitteln. Mit anderen Worten vertreten sie unter dem Deckmantel ihres vorgeblichen Engagements für die Interessen der Community die Interessen der milícias.[8]

In diesem Sinne versuchen wir, den Milícia-Effekt mit Blick auf dieWahlergebnisse zu analysieren. Darunter verstehen wir die Gesamtheit aller möglichen Auswirkungen der Gebietskontrolle durch milícias auf das Wahlverhalten der in diesen Gebieten lebenden Bevölkerung. Obwohl die Beziehung zwischen Parapolizeigruppen und den Bewohner_innen der von ihnen kontrollierten Viertel üblichen Darstellungen eines klientelistischen Verhältnisses (Hilgers 2011) ähnelt, sollten wir sie nicht als asymmetrische Aushandlung zwischen interessenmaximierend handelnden Individuen begreifen, und zwar einfach aus dem Grund, dass es keinen Raum für solche Aushandlungen gibt, wo der Einsatz illegaler Gewalt eine permanente Bedrohung darstellt. Die übliche Vorgehensweise der milícias ist vergleichbar mit der mafiöser Organisationen, wie sie etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Einwanderungsvierteln US-amerikanischer Großstädte wie New York, Chicago oder New Orleans entstanden.

Die Kandidatur von Politiker_innen mit Verbindungen zu milícias ist kein neues Phänomen, zumindest nicht mehr, seit Jerônimo Guimarães Filho, genannt „Jerominho“, im Jahr 2000 in den Stadtrat von Rio de Janeiro gewählt wurde. Der ehemalige Polizeibeamte war einer der führenden Köpfe der selbst ernannten Parapolizeigruppe „Liga da Justiça“ (Gerechtigkeitsliga). 2004 wurde er wiedergewählt. Er nahm auch Einfluss auf die Wahl seines Bruders zum Abgeordneten im Bundesstaat Rio de Janeiro 2006 sowie auf die seiner Tochter zur Stadträtin 2009. Als im Rahmen der bereits erwähnten, 2008 eingesetzten parlamentarischen Kommission zur Untersuchung von Milícia-Aktivitäten zahlreiche Klagen erhoben wurden, leitete die „Spezialeinheit gegen organisiertes Verbrechen der Polizeibehörde des Bundesstaates Rio de Janeiro“ (Delegacia de Repressão às Ações Criminosas Organizadas, DRACO) Ermittlungen gegen die Gerechtigkeitsliga ein. Dies blockierte die Wahlambitionen dieser Gruppe, die seither erfolglos geblieben sind. 2022 erklärte Jerominho, für die nationale Abgeordnetenkammer kandidieren zu wollen. Kurz darauf wurde er ermordet. Dies verweist auf einen Generationswechsel innerhalb der milícias und auf interne Streitigkeiten zwischen konkurrierenden Gruppen (Olivera/Soares 2022). Allerdings zeigt schon der Versuch einer der wichtigsten Führungsfiguren aus den Anfangszeiten der milícias, auf die Bühne des politischen Wettstreits zurückzukehren, dass die von uns vertretene These der Strategie territorialer Kontrolle durch formale politische Repräsentation eine gewisse Plausibilität hat.

Neu ist jedoch, dass sich diese Strategie, Gebiete durch Wahlen – das heißt, durch Vertreter_innen der milícias in Stadträten und Parlamenten – zu kontrollieren, auch auf andere Gemeinden in der MRRJ ausgeweitet hat, und zwar nach demselben Muster und in ebenso hohem Umfang wie zuvor in der Zona Oeste. Der Kartierung von Hirata und Couto (2022) zufolge hängt diese Entwicklung mit der größeren Präsenz und Aktivität der milícias im westlichen Teil der Metropolregion zusammen wie auch mit deren jüngster Expansion in genau diese benachbarten Gebiete, wohingegen Drogenorganisationen eher im östlichen Teil der Metropolregion aktiv sind.

3.1. Kontrolle durch milícias und ihre Auswirkungen auf die Wahldynamik in der MRRJ

Durch die Kombination von Daten aus der Kartierung zu bewaffneten Gruppen (Hirata/Couto 2022) mit Informationen, die von der obersten Wahlbehörde TSE zur Verfügung gestellt wurden, konnten wir ermitteln, dass bei den Kommunalwahlen 2020 in der MRRJ insgesamt 2.296.477 registrierte Wähler_innen Wahllokalen[9] zugeordnet waren, die in von milícias oder Drogenorganisationen kontrollierten Gebieten lagen. Dies entspricht 24,6 Prozent aller in der MRRJ registrierten Wähler_innen. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2022 lagen die Wahllokale von 14,8 Prozent der registrierten Wähler_innen in von milícias kontrollierten Gebieten. Weitere 9,7 Prozent wählten in vom Drogenhandel beherrschten Gegenden. Beides zusammengenommen stimmten 24,5 Prozent der Wähler_innen in Wahllokalen in Gebieten der unter Kontrolle irgendeiner bewaffneten Gruppe ab. Im Vergleich zu den Kommunalwahlen von 2012 erhöhte sich die Gesamtzahl der in diesen Wahlbezirken registrierten Wähler_innen um fast ein Drittel (29,3 Prozent). Berücksichtigt man ausschließlich die von milícias kontrollierten Gebiete, beträgt die Zunahme sogar 41,5 Prozent, während die Zahl der Wähler_innen in von Drogenorganisationen dominierten Gegenden mehr oder weniger gleich blieb (siehe Tabelle 1).

Kommunalwahl 2012

absolute Zahl (prozentualer Anteil)

Präsidentschaftswahl 2022

absolute Zahl (prozentualer Anteil)

Gesamtzahl Wähler_innen

8.635.244

9.619.451

Wähler_innen in von milícias kontrollierten Gebieten

833.266 (9,6 %)

1.423.697 (14,8 %)

Wähler_innen in von Drogenorganisationen kontrollierten Gebieten

829.353 (9,6 %)

930.641 (9,7 %)

Wähler_innen in Gebieten unter der Kontrolle bewaffneter Gruppen

1.662.619 (19,3 %)

2.389.338 (24,5 %)

Tab. 1 Wähler_innen nach Wahllokalen in der MRRJ in Gebieten unter der Kontrolle bewaffneter Gruppen 2012 und 2022 (Quelle: eigene tabellarische Darstellung basierend auf Daten der TSE sowie der Kartierung bewaffneter Gruppen (Hirata/Couto 2022)).

Die von uns angenommene Form der territorialen Kontrolle des Wahlverhaltens empirisch nachzuweisen, ist kein leichtes Unterfangen. Um die Diskussion voranzubringen, greifen wir an dieser Stelle auf ein methodisches Hilfsmittel zurück: Wir untersuchen den Grad an Wettbewerb in unterschiedlichen Wahllokalen, der sich über den sogenannten Herfindahl-Hirschmann-Index ermitteln lässt (Corrêa 2016).[10]

Die Abbildungen 2, 3 und 4 zeigten die Ergebnisse der Analyse. Daraus geht hervor, ob das Wahlverhalten in Gegenden, die nachweislich vom Drogenhandel oder von milícias kontrolliert werden, tatsächlich ein konzentrierteres Muster aufweist als in anderen Teilen der Stadt, also in Gebieten, die nicht unter der Kontrolle derartiger Gruppen stehen. Dies würde auf die Kontrolle des Gebietes durch eine bestimmte Führung verweisen. Was wir sehen können, ist, dass die Stimmenkonzentrationen tatsächlich der derzeitigen räumlichen Verteilung der Aktivitäten von milícias entsprechen. Sie fallen in Wahllokalen im westlichen Teil der Stadt sowie im Gebiet Baixada Fluminense an der Peripherie der Metropole, wo große soziale Ungleichheit herrscht, deutlich markanter aus. Das legt nahe, dass sich die Milícia-Aktivitäten in den Gemeinden dieses Teils der Metropolregion tatsächlich auf die Dynamik der Wahlen zu den jeweils zu vergebenden politischen Ämtern auswirken. Mit anderen Worten haben die in diesen Gegenden aktiven milícias vergleichbare Wahlstrategien angewandt, um dafür zu sorgen, dass ihre eigenen beziehungsweise die von ihnen unterstützten Kandidat_innen möglichst ohne Konkurrenz sind.

Abb. 2 Wahllokale mit hoher Stimmenkonzentration in der MRRJ bei den Kommunalwahlen 2020 (Quelle: eigene tabellarische Darstellung basierend auf Daten der TSE).
Abb. 2 Wahllokale mit hoher Stimmenkonzentration in der MRRJ bei den Kommunalwahlen 2020 (Quelle: eigene tabellarische Darstellung basierend auf Daten der TSE).
Abb. 3 </span>Wahllokale mit hoher Stimmenkonzentration in der MRRJ bei den Wahlen zum Parlament des Bundesstaats Rio de Janeiro 2018 (Quelle: eigene tabellarische Darstellung basierend auf Daten der TSE).
Abb. 3 Wahllokale mit hoher Stimmenkonzentration in der MRRJ bei den Wahlen zum Parlament des Bundesstaats Rio de Janeiro 2018 (Quelle: eigene tabellarische Darstellung basierend auf Daten der TSE).
Abb. 4 Wahllokale mit hoher Stimmenkonzentration in der MRRJ bei den Wahlen zur nationalen Abgeordnetenkammer 2018 (Quelle: eigene tabellarische Darstellung basierend auf Daten der TSE).
Abb. 4 Wahllokale mit hoher Stimmenkonzentration in der MRRJ bei den Wahlen zur nationalen Abgeordnetenkammer 2018 (Quelle: eigene tabellarische Darstellung basierend auf Daten der TSE).

Es ist nicht ganz leicht, zwischen dem Phänomen der Stimmenkontrolle durch milícias und dem Wahlklientelismus zu unterscheiden, der historisch als eine Form der politischen Repräsentation in einkommensschwachen Vierteln der MRRJ beschrieben wurde (Chermont 2001; Carvalho/Corrêa 2012). Beides äußert sich in dem Versuch, Funktionen der politischen Repräsentation zu monopolisieren, um lokale Belange zu vertreten und dafür im Gegenzug Gefälligkeiten sowie Zugang zu öffentlichen oder privaten Gütern und Dienstleistungen zu erhalten. Wie bereits erwähnt kann hier allerdings von einer freien Austauschbeziehung nicht die Rede sein. Vielmehr wird Kooperation durch die Androhung von Gewalt sichergestellt.

Im brasilianischen Wahlsystem werden Parlamentssitze auf kommunaler, bundesstaatlicher und Bundesebene nach dem Verhältniswahlrecht und dem Prinzip offener Listen vergeben: Die Wähler_innen stimmen für einzelne Kandidat_innen. Anschließend werden anhand der Rangfolge abgegebenen Stimmen für die einzelnen Kandidat_innen Parteilisten gebildet. Ein Charakteristikum einer solchen Verhältniswahl mit offenen Listen ist die Möglichkeit der Streuung von Stimmen. Dies soll eigentlich zu einem größeren Wettbewerb um die Gunst der Wähler_innen beitragen. Allerdings verhindert dieses System nicht Strategien der Gebietskontrolle, bei denen Kandidat_innen versuchen, eine Wahl zu gewinnen, indem sie die Abstimmung in bestimmten Stadtvierteln dominieren (Ames 2003; Carvalho 2003; Corrêa 2011, 2016). In Vierteln, in denen eine größere Zahl an Kandidat_innen eine solche Strategie verfolgt, kommt es somit zu einem erbitterten Kampf um die Kontrolle der Wähler_innen. Dennoch ermöglichen es Methoden zur Analyse des Grades der Stimmenkonzentration in Wahllokalen, trotz der typischen Stimmenstreuung jene Stadtviertel zu identifizieren, in denen der Wettbewerb offenbar eingeschränkt ist, wo es also bestimmten Kandidat_innen gelingt, in erheblichem Umfang Stimmen auf sich zu vereinen.

Zum Verständnis dieser Strategien der Stimmenkontrolle muss betont werden, dass jede Wahl zu parlamentarischen Vertretungen auf kommunaler, bundesstaatlicher und Bundesebene ihre jeweils eigene Wettbewerbsdynamik aufweist. Je größer die Zahl der zu vergebenden Sitze in der Legislative, desto größer ist auch die Tendenz zu Lokalismus beim Kampf um Stimmen. Wegen des Verhältniswahlrechts weist der Wettbewerb um einen Sitz in der nationalen Abgeordnetenkammer (Bundesebene) eine ähnliche Dynamik auf wie der um einen Sitz in der Legislativversammlung des Bundesstaates. Dennoch gibt es Unterschiede, da die Anzahl von Wähler_innen pro Abgeordnetensitz auf Bundesebene höher ist als auf bundesstaatlicher Ebene. Das liegt daran, dass jeweils eine unterschiedliche Zahl von Sitzen zu vergeben ist: Der Bundesstaat Rio de Janeiro stellt in der nationalen Abgeordnetenkammer (Câmara dos Deputados do Brasil)[11] 46 der insgesamt 513 Abgeordneten. Die Legislativversammlung des Bundesstaates (Assembleia Legislativa do Estado do Rio de Janeiro) umfasst hingegen 70 Sitze. Dementsprechend sind die Wahlbezirke für die Parlamentswahlen auf Bundesebene größer als jene für die Wahlen zur Legislativversammlung. Folglich können Kandidat_innen für einen Sitz auf Bundestaatsebene einen kleinräumigeren Wahlkampf führen, während die Kampagnen von Kandidat_innen für die Abgeordnetenkammer ein größeres Gebiet abdecken müssen. Die Gründe hierfür sind rein mathematischer Natur: Je weniger Sitze zu vergeben sind beziehungsweise je größer der Einzugsbereich ist, desto mehr Stimmen aus verschiedenen Gegenden werden benötigt, da eine Stimmenkonzentration an einem Ort für Kandidat_innen nicht ausreicht, um gewählt zu werden.

Betrachtet man schließlich den Wettbewerb um einen Sitz im Stadtrat von Rio de Janeiro, der auf die administrativen Grenzen der Kommune begrenzt ist, wird die Strategie der territorialen Kontrolle noch offensichtlicher (siehe Abb. 2): Das liegt daran, dass die Zahl der Wahlberechtigten und der Wahlkoeffizient in der Regel kleiner sind. Daher ist eine Konzentration von Stimmen in einzelnen Vierteln für Kandidat_innen oft ausreichend, um ins Kommunalparlament gewählt zu werden. Unter bestimmten Umständen lassen sich aber auch für Wahlen zu den Vertretungen auf bundesstaatlicher und Bundesebene in den Wahllokalen der anderen Munizipien der Metropolregion hohe Stimmenkonzentrationen nachweisen. Das ist dann der Fall, wenn Kandidat_innen antreten, die über enge Verbindungen zu den kommunalen politischen Dynamiken verfügen. Dies war etwa 2018 bei der Wahl zur Legislativversammlung des Bundesstaates in den Gemeinden Maricá, Rio Bonito, Tanguá, Guapimirim, Magé, Petrópolis und Paracambi zu beobachten. Die Ergebnisse der zeitgleichen Wahl zur nationalen Abgeordnetenkammer legen hingegen nahe, dass der Zusammenhang zwischen Stimmenkonzentrationen in einzelnen Stadtvierteln und der Wahldynamik geringer ausgeprägt war. Er zeigte sich lediglich in den Gemeinden Maricá und Belford Roxo deutlich. Alle anderen Gemeinden der Metropolregion wiesen bei dieser Wahl eine weniger homogene Verteilung konzentrierter Abstimmungsmuster auf.

Allerdings muss betont werden, dass in Gebieten, in denen milícias aktiv sind, Kandidat_innen, die nicht mit ihnen in Verbindung stehen, einen schweren Stand haben, da der Zugang zur Kandidatur durch eine bewaffnete Gruppe und ihre Zwangsgewalt vermittelt und kontrolliert wird. Trotz jüngster Veränderungen bei den milícias verweisen wir an dieser Stelle auf das Beispiel eines Kandidaten, eines Sergeants der Militärpolizei des Bundesstaates Rio de Janeiro, der von der bereits erwähnte parlamentarische Untersuchungskommission zu Milícia-Aktivitäten vorgeladen wurde.[12] Dieser Kandidat wurde 2018 zwar nicht gewählt, war aber in allen Wahllokalen des Cosmos-Viertels in der Zona Oeste sowie in benachbarten Vierteln (beispielsweise Paciência und Inhoaíba, der Wiege der ältesten Milícia-Organisation der Metropolregion) der Bewerber, der die meisten Stimmen erhielt. In einem Wahllokal kam er sogar auf 36,5 Prozent der abgegebenen Stimmen.

Für die anderen Munizipien der Metropolregion, genauer gesagt für jene im Gebiet Baixada Fluminense, lässt sich konstatieren, dass Strategien zur Stimmenkonzentration, die zuvor bereits im Westen Rio de Janeiros zu beobachten waren, mit der Expansion von Milícia-Gruppen zusammenfallen. Am offensichtlichsten ist dies in den Stadtvierteln Cabuçu, Valverde und Palhada sowie in der Gemeinde Nova Iguaçu. Dort machen sich die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen zwei Gruppierungen – dem „Bonde do Ecko“, einer Nachfolgeorganisation der ehemaligen Gerechtigkeitsliga, und der Truppe des Milícia-Führers Tandera – besonders bemerkbar. In Cabuçu gab es zum Beispiel einen Kandidaten (Rianelli 2020), der in einem Wahllokal 46 Prozent der Stimmen erhielt und auch in den anderen Wahllokalen des Viertels sowie in Valverde vorne lag. In Palhada stach besonders ein Wahllokal in der Hans-Christian-Andersen-Schule hervor. Dort entfielen sage und schreibe 77 Prozent der abgegebenen Stimmen auf einen einzigen Kandidaten.

Unser Argument lautet daher, dass tatsächlich eine Wahlstrategie existiert, diese aber je nach der zu vergebenden Position variabel gestaltet wird. Die qualitative Analyse der Kandidat_innen, denen Verbindungen zu milícias nachgesagt werden, in Kombination mit einer quantitativen Analyse der Stimmenkonzentrationen in einkommensschwachen Gegenden der Metropolregion liefert jedoch deutliche Hinweise darauf, dass die Einflussnahme der milícias darin besteht, entweder direkt Personen zu benennen, die mit ihnen in Verbindung stehen oder Politiker_innen zu bevorzugen, die einen privilegierten Zugang zum betreffenden Viertel haben und keine Bedrohung für das Geschäftsmodell der milícias darstellen.

3.2 Präsidentschaftswahlen von 2018 und 2022 und Gebietskon­trolle durch milícias

Für die Präsidentschaftswahl 2018 zeigen die Daten, dass Präsident Bolsonaro in von milícias kontrollierten Gebieten mehr Stimmen erzielte als in nicht von ihnen dominierten Gegenden. Bei dieser Wahl lagen 32,5 Prozent der Wahllokale in Gebieten unter direkter Kontrolle durch milícias beziehungsweise in deren Einflussbereich. Diesen Wahllokalen waren 34,1 Prozent der in der MRRJ zur Wahl aufgerufenen Personen zugeordnet. In der ersten Wahlrunde rangierte Jair Bolsonaros Stimmenanteil in allen Wahllokalen der Metropolregion zwischen 24,2 und 86,6 Prozent. Im Durchschnitt bekam Bolsonaro 59,6 Prozent der gültigen Stimmen; in der Hälfte der Wahllokale lag sein Stimmenanteil über 61 Prozent. Nimmt man die absolute Mehrheit als Messlatte, so offenbart sich ein auffälliges räumliches Verteilungsmuster der Stimmen: Es zeigt sich eine deutliche Spaltung zwischen der Zona Sul von Rio de Janeiro und Tijuca, wo Bolsonaro unter 50 Prozent lag, und der von milícias beherrschten Zona Oeste und anderen Gemeinden im Westen der Metropolregion, wo er über 50 Prozent der Stimmen holte.

Wir sehen also, dass sich die Wahlbezirke, in denen Bolsonaro die höchsten Stimmenanteile einfahren konnte, stark mit den Gebieten decken, die von milícias kontrolliert werden. In Wahllokalen in von milícias beherrschten Gegenden oder in deren unmittelbarer Umgebung erzielte Bolsonaro im Schnitt 62,2 Prozent der gültigen Stimmen. In den übrigen Teilen der Metropolregion waren es durchschnittlich 58,3 Prozent. Aufgeschlüsselt nach einzelnen Kommunen zeigen sich aber auch hier überdurchschnittliche Stimmanteile für Bolsonaro in Gemeinden mit hoher Milícia-Aktivität, wie beispielsweise in Seropédica, Nilópolis, Nova Iguaçu, São João de Meriti und Itaguaí. Hier holte Bolsonaro bis zu 67,1 Prozent der Stimmen.

In der eigentlichen Stadt Rio de Janeiro lagen Bolsonaros Stimmenanteile in von milícias kontrollierten Vierteln zwar knapp unter dem Durchschnitt der MRRJ, der Unterschied zu den nicht von milícias beherrschten Teilen der Stadt ist jedoch mit 61,9 gegenüber 55,1 Prozent deutlich. Bolsonaros hohe Stimmenanteile in der gesamten Metropolregion spiegeln sich auch im Abschneiden seines Hauptkontrahenten Fernando Haddad wider. Dieser erhielt im Schnitt 14,2 Prozent der gültigen Stimmen, wobei der Anteil in nicht von milícias kontrollierten Gebieten mit 15,1 Prozent etwas höher lag als die 13 Prozent in den von bewaffneten Gruppen kontrollierten Gegenden und deren unmittelbarer Umgebung.

Daten von der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 2022 zeigen, dass Bolsonaro in von milícias kontrollierten Gegenden mit 53,1 Prozent der Stimmen besser abschnitt als im Durchschnitt der Metropolregion (49,9 Prozent). Umgekehrt erhielt Lula (PT) in den von milícias kontrollierten Gebieten weniger Zustimmung (39,1 Prozent) als insgesamt in der Metropolregion (41,6 Prozent). Außerdem fällt auf, dass Bolsonaros Vorsprung vor Lula in den von milícias kontrollierten Gebieten mit 14 Prozent größer war als im Durchschnitt der Metropolregion (8 Prozent). Erst recht bedeutsam wird dieser Unterschied angesichts der stark polarisierten politischen Auseinandersetzung zwischen beiden Kontrahenten. Interessant ist auch, dass sich bei anderen Kandidat_innen keine derart signifikanten Unterschiede zwischen ihren Stimmenanteilen in Milícia-Gebieten und der gesamten Metropolregion zeigten. Das gilt sogar, wenn man bedenkt, dass andere Kandidat_innen in der Metropolregion nur geringe Stimmenanteile erzielen konnten (siehe Tabelle 2). Mit anderen Worten: Diese Kluft scheint lediglich das Verhalten der Wähler_innen der beiden Kandidaten Bolsonara und Lula zu betreffen.

Kandidat_in

Gültige Stimmen in der gesamten MRRJ

Stimmenanteil in der gesamten MRRJ

Gültige Stimmen in den von milícias kontrollierten Gebieten

Stimmenanteil in den von milícias kontrollierten Gebieten

Jair Bolsonaro

3.533.083

49,9 %

554.529

53,1 %

Lula da Silva

2.942.557

41,6 %

408.189

39,1 %

Simone Tebet

276.419

3,9 %

36.560

3,5 %

Ciro Gomes

236.776

3,3 %

33.441

3,2 %

Soraya Thronicke

35.084

0,5 %

5.403

0,5 %

Felipe D’avila

33,702

0,5 %

4.389

0,4 %

Léo Péricles

5.879

0,1 %

956

0,1 %

Padre Kelmon

5.870

0,1 %

949

0,1 %

Sofia Manzano

3.576

0,1 %

467

0,0 %

Constituinte Eymael

1.124

0,0 %

150

0,0 %

Gesamt

7.074.070

1.045.033

Tab. 2 Präsidentschaftswahl 2022 – Wahlergebnisse in MRRJ und Milícia-Gebieten (Quelle: eigene tabellarische Darstellung basierend auf Wahldaten der TSE (2022) und der Kartierung bewaffneter Gruppen (Hirata/Couto 2022)).

4. Abschließende Überlegungen: Der Milícia-Effekt und seine Auswirkungen auf Stadt und Demokratie

Die obige Analyse bestätigt, dass territoriale Kontrolle eine entscheidende Variable für die Stimmanteile einer signifikanten Anzahl von Kandidat_innen ist. Obwohl es schwierig ist, den Effekt von milícias auf Wahlergebnisse isoliert zu erfassen, zeigt die Analyse quantitativer und qualitativer Daten zu Wahlergebnissen nach dem Mehrheits- und dem Verhältniswahlrecht Auswirkungen auf das Wahlverhalten zugunsten von Jair Bolsonaro und seiner Gefolgsleute in von milícias kontrollierten Gebieten.

Die Ergebnisse unserer Analyse bieten recht aussagekräftige Belege für den von uns so bezeichneten Milícia-Effekt – hier in Form einer Wahlbeeinflussung zugunsten des Kandidaten Bolsonaro und seines Parteienbündnisses. Dieser Effekt äußert sich im Einfluss auf das Stimmverhalten von Wähler_innen, die in einkommensschwachen und von milícias kontrollierten Vierteln leben. Auch wenn uns hierzu noch keine abschließenden Forschungsergebnisse vorliegen, lautet unser Argument, dass die Stimmen dieser Wähler_innen durch die Verbreitung der mit diesem politischen Spektrum verbundenen konservativen Werte sowie durch die Behinderung des Zugangs anderer Kandidat_innen zu diesen Gebieten gewonnen werden. Dies lässt sich nur durch eine Verknüpfung der Analyse des Wahlverhaltens mit einer Analyse der von milícias ausgeübten Gebietskontrolle herausarbeiten. Die Wahlkontrolle ist jedoch nicht absolut, da sich andere Kandidaturen über soziale Netzwerke verbreiten und andere Identitätsanbindungen oder soziale Anbindungen mobilisieren. Auf jeden Fall erweist sich die von milícias ausgeübte Gebietskontrolle als entscheidende Variable für die Stimmanteile einer beträchtlichen Anzahl von Kandidat_innen – und zwar unabhängig davon, ob zu vergebende Position nach Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht besetzt wird. Wir können daher festhalten, dass die territoriale Kontrolle durch milícias in einkommensschwachen Vierteln wahlbeeinflussend ist.

Unserer Ansicht nach sollte das Phänomen brasilianischer milícias unbedingt in den Forschungskanon zum Verhältnis von Gewalt und Demokratie in Lateinamerika aufgenommen werden (Arias/Goldstein 2010). Die von den milícias eingesetzten Praktiken der bewaffneten Kontrolle einkommensschwacher Gebiete in Kombination mit Geschäftsmodellen, die auf dem Verkauf urbaner Waren und Dienstleistungen basieren, finden zunehmend auch in anderen Regionen Brasiliens Verbreitung. Sie werden zudem von anderen Gruppierungen übernommen, beispielsweise von Drogenorganisationen oder paramilitärischen Gruppen, auch wenn sich die Konstellationen im Detail unterscheiden. Die Studie von Miguel García Sánchez (2016) zur Situation in Kolumbien scheint in dieselbe Richtung zu weisen und stellt territoriale Kontrolle als ein zentrales Element der Beeinflussung des Wahlverhaltens durch bewaffnete Gruppen dar. Der entscheidende Punkt ist, dass sich Formen der Kontrolle des urbanen Raums, die auf Gewalt, Sicherheitsvorkehrungen, Überwachung, Zwang und Unterdrückung basieren, unmittelbar auf die Dynamiken von citizenship und die Möglichkeiten von Demokratie in der Stadt auswirken. Aus dieser Perspektive betrachtet lohnt es sich, auf einige Aspekte hinzuweisen, die einer Behandlung dieser Fragestellungen aus Sicht der kritischen Stadtforschung dienlich wären.

In erster Linie ist es wichtig, dass wir die Mittel nachzeichnen und analysieren, mit denen milícias Gebiete und die Körper der Menschen kontrollieren. Das gilt insbesondere für die zunehmende Unterdrückung freier Zusammenkünfte und Vereinigungen, repräsentativer Anwohner_innenvertretungen und anderer Formen kollektiven Handelns, aber auch für die Behinderung der Wahlkampagnen progressiver Kandidat_innen in milizkontrollierten Gebieten. Außerdem befördern die von Leandro Benmergui und Rafael Soares Gonçalves (2019) als urbanismo miliciano bezeichneten Formen der Schaffung und Aneignung urbanen Raums durch milícias in einigen Stadtvierteln Rio de Janeiros eine nekropolitische Art des Regierens, die der Gewalt gegen die ärmsten Bevölkerungsgruppen Vorschub leistet (Hutta 2022). Was den Umgang des Staates mit einkommensschwachen Vierteln betrifft – vor allem mit jenen, die von Drogenorganisationen dominiert werden – so ist eine Zunahme von staatlicher Gewalt und Militarisierung zu beobachten (Polizei- und Militäroperationen, Sicherheitsvorkehrungen usw.). In der Folge warfen mehrere Organisationen den Polizeibehörden institutionellen Rassismus und eine Politik des polizeilichen Genozids vor, da es sich bei den von staatlichen Akteur_innen getöteten Personen mehrheitlich um Afrobrasilianer_innen handelt (Plataforma Dhesca Brasil 2017). Wir beobachten Phänomene, die die Beziehungen zwischen dem Leben in der Stadt und der Demokratie tiefgreifend verändern. Dies zu verstehen ist von grundlegender Bedeutung für eine Theorie und Praxis, die sich einer radikalen Transformation der Gesellschaft in der Perspektive des Rechts auf Stadt verpflichtet sieht (Harvey 2012).

Der zentrale Punkt ist, wie es David Harvey (2001: 191) formuliert, dass „ein Verständnis dessen, wie lokale Solidaritäten und politischer Zusammenhalt hergestellt werden bzw. werden können […] entscheidend ist für ein Nachdenken darüber, wie Ideen für sozialen Wandel […] Realität werden könnten“ – und zwar in einer radikal-emanzipatorischen Perspektive angesichts der Komplexität unserer Zeit und im Kontext des Neoliberalismus und der konservativen Wende. Harvey (ebd.: 192) kommt zu dem Schluss, dass sich bei der Suche nach alternativen Formen urbanen Lebens „alle politischen Bewegungen […] in irgendeiner Weise mit den Themen ‚Lokalität‘ und ‚Gemeinschaft‘ auseinandersetzen“ müssen – also letztlich mit den Fragen von Raum und Territorium.