Seit 2010 wird die kommunale Planungshoheit in Ungarn durch die Orbán-Regierungen eingeschränkt. Die Hauptstadt Budapest steht dabei besonders im Fokus, nachdem 2019 ein oppositionelles Mitte-links-Bündnis die Kommunalwahlen gewann und seither den Oberbürgermeister stellt. Der Beitrag geht der Frage nach, welche rechtlichen Instrumente von der national-autoritären Regierung seit 2010 angewandt werden, um in die kommunale Planungshoheit einzugreifen. Insbesondere das Rechtsinstrument der „Investitionen von herausgehobener volkswirtschaftlicher Bedeutung“ (IVHVB) ist hierbei von Interesse. Seine Arbeits- und Wirkweisen sollen beispielhaft anhand der Planungen des sogenannten Budapart-Projekts erläutert werden. Methodisch stützt sich der Text auf Interviews und Recherchearbeiten, welche im Rahmen eines Forschungsprojekts im Winter 2021 durchgeführt worden sind.[1] Zunächst wird der politische Hintergrund und die grundsätzliche stadt- und raumplanerische Verfasstheit Ungarns skizziert. Dann wird auf die Geschichte und die Wirkungsweise des Rechtsinstruments der IVHVB eingegangen, um anschließend den konkreten Planungsprozess des Budapart-Projekts zu erläutern. Abschließend werden sowohl planungstheoretische Fragen hinsichtlich des Rechtsinstrumentes selbst als auch die Folgen seiner extensiven Anwendung im gegenwärtigen autoritären ungarischen Staatswesen diskutiert.
Ungarn hat sich von einer Demokratie zu einem hybriden System der Wahlautokratie entwickelt, in dem demokratische Normen und Standards nicht eingehalten werden (Europäisches Parlament 2022).[2] Die seit 2010 amtierenden Regierungen unter Ministerpräsident Viktor Orbán betreiben einen tiefgreifenden Umbau der Demokratie in Ungarn. Ziel ist die Zentralisierung der politischen Macht bei der Exekutive und eine gleichzeitige Schwächung der institutionellen Gegengewichte (Bos 2021: 34 f.). Zu den Auswirkungen gehören unter anderem ein umfassender Personalaustausch in staatlichen Institutionen, die Schwächung des Verfassungsgerichts und die De-facto-Eindämmung einer kritischen, unabhängigen Berichterstattung. Dieser Umbau wird von Regierungsvertreter_innen wahlweise als illiberale Demokratie[3], System der nationalen Zusammenarbeit[4] oder christliche Demokratie[5] bezeichnet. Die Regierung kann für dieses Vorgehen auf eine komfortable Zweidrittelmehrheit in der Nationalversammlung zurückgreifen, bestehend aus der Parteiallianz des Bundes Junger Demokraten (Fiatal Demokraták Szövetsége, Fidesz) und der Christlich-Demokratischen Volkspartei (Kereszténydemokrata Néppárt, KDNP), mit der auch die Verfassung geändert werden kann. In der Folge ist Ungarn in verschiedenen internationalen Rechtsstaatlichkeitsindizes eklatant abgestürzt, was insbesondere auf eine problematische Rechtskultur und institutionelle Korruption zurückzuführen ist (Bodnár/Jakab 2021: 69 f.).
Bedeutsam für die politische Landschaft Ungarns war die Wahl des oppositionellen Kandidaten Gergely Karácsony zum Oberbürgermeister von Budapest im Jahr 2019. In dieser Wahl wurde der zuvor regierungsnahe Bürgermeister abgewählt. Seither gibt es die bemerkenswerte Konstellation, dass der national-autoritären Regierung ein mitte-links-geführtes Rathaus gegenübersteht. Budapest, als Hauptstadt des zentralistisch organisierten Ungarns, besitzt eine hohe politische Bedeutung, die sich unter anderem daraus ergibt, dass 1,7 der insgesamt 9,7 Millionen Einwohner_innen Ungarns hier ansässig sind. Die Frage, welche Aufgaben der Nationalstaat und die Stadtverwaltung in Budapest jeweils wahrnehmen sollten, hat einen erheblichen Konflikt zwischen den beiden staatlichen Hierarchie-Ebenen zutage treten lassen. Seit 2019 wurde der finanzielle Handlungsspielraum der Stadtverwaltung durch die ungarische Regierung maßgeblich beschnitten und politische Gestaltungskompetenzen seither von der kommunalen auf die nationalstaatliche Ebene verlagert. Davon betroffen ist nicht zuletzt die kommunale Planungshoheit der Stadt Budapest, deren behördlicher und fachplanerischer Einfluss schrittweise beschränkt worden ist.
Grundsätzlich ist das ungarische Planungssystem mit dem deutschen vergleichbar, allerdings mit der Besonderheit, dass in Budapest die gesamtstädtische Stadtverwaltung und die 23 weitgehend unabhängigen Bezirke der Hauptstadt zusammenarbeiten müssen. Die administrative Gliederung in Bezirke lässt Parallelen zu Berlin erkennen, allerdings mit dem Unterschied, dass die Bezirke in Budapest über eine noch größere Autonomie gegenüber der Gesamtstadt verfügen. Verankert ist diese Konstellation in der ungarischen Kommunalverfassung von 1990, welche nach der politischen Wende einen Gegenentwurf zum vorherigen zentralistischen System schuf (Brenner 1993: 12). Die Dezentralisierung hat jedoch seither eine hemmende Wirkung auf eine integrierte gesamtstädtische Stadtentwicklung. Während die Stadt Budapest einen gesamtstädtischen Flächennutzungsplan aufstellt, obliegt es den Bezirken, Bebauungspläne und Bausatzungen festzusetzten. Daraus resultieren für die Bauleitplanung und Stadtentwicklung äußerst komplizierte und zeitaufwendige Abstimmungsprozesse, welche seit 1990 regelmäßig Anlass für Kritik boten. Diese komplexe Gemengelage bildet gemeinsam mit der aktuellen politischen Situation das argumentative Gerüst für die Einführung und Anwendung durchsetzungsstarker Planungsinstrumente durch die ungarische Regierung. Dazu gehört das im nächsten Kapitel näher beschriebene Rechtsinstrument der „Investitionen von herausgehobener volkswirtschaftlicher Bedeutung“ (IVHVB). Dieses Rechtsinstrument dient sowohl der Planungsbeschleunigung, indem formale Anforderungen an Planungsprozesse gesenkt werden, als auch als Mittel, um die kommunale Planungshoheit zu beschränken. Der Einsatz dieses Rechtsinstruments wird in diesem Artikel als eine Variante des autoritären Urbanismus herausgearbeitet.
Um die Koordination der zahlreichen Vorhaben sicherzustellen, die den IVHVB-Status erhielten, schuf die ungarische Regierung neue institutionelle Strukturen mit dem Ziel, die eigentlich städtischen Aufgaben in Budapest an Regierungsinstitutionen auf nationaler Ebene zu übertragen. Die nationalstaatlich getragene Budapester Entwicklungsagentur (Budapest Fejlesztési Központ, BFK) entstand kurz nach dem oppositionellen Sieg bei der Kommunalwahl im Jahr 2019, welche in dieser Form bis 2022 existierte. Diese Entwicklungsagentur war dem Staatssekretär für die Entwicklung von Budapest und Agglomeration untergeordnet und somit direkt an das Büro des Ministerpräsidenten angebunden. Circa 300 Mitarbeiter_innen arbeiteten bei der BFK. Die Agentur umfasste verschiedene Abteilungen, die den Strukturen der städtischen Verwaltung erstaunlich nahekamen. Neben dieser institutionellen Konkurrenz kürzte die nationale Regierung die Finanzierung der städtischen Verwaltung erheblich, womit es der Stadt Budapest seither erschwert wird, ihren kommunalen Aufgaben nachzukommen. Zusätzliche, über diese Basisversorgung hinausgehende Ziele und Projekte sind damit nahezu unmöglich geworden, das betrifft auch kommunale Vorhaben der Stadtentwicklung. Die ungarische Regierung führte diese finanzielle Repression nach der Kommunalwahl 2019 ein, indem sie Steuern und Abgaben senkte, welche zuvor direkt den ungarischen Kommunen zugutekamen. Betroffen sind unter anderem die Gewerbesteuer, Parkgebühren oder Abgaben auf Fahrzeuge. Im Gegenzug stiegen die direkten staatlichen Investitionen, von denen hauptsächlich regierungsnahe Städte und Gemeinden profitieren.
Das für die ungarische Regierung wichtigste Instrument, um die kommunale Planungshoheit zu umgehen, ist, bestimmten Projekten den Status einer Investition von herausgehobener volkswirtschaftlicher Bedeutung (IVHVB) zu verleihen. Die Ausgestaltung eines solchen Vorhabens wird zwischen der Regierung und den Vorhabenträger_innen ausgehandelt, und zwar gegebenenfalls unter Nichteinhaltung und legaler Aussetzung geltender kommunaler Bauvorschriften.[6] Zuständig für die Durchführung der Vorhaben ist ein_e Regierungsbeauftragte_r sowie eine durch die Regierung per Dekret bestimmte Behörde. Die Verleihung eines solchen Status geschieht per Regierungsdekret. Die Dekrete werden ohne vorherige Einbeziehung der städtischen Verwaltung erlassen. So erfährt beispielsweise die Budapester Stadtplanung erst mit der finalen Veröffentlichung im ungarischen Amtsblatt (Magyar Közlöny) von den Vorhaben der Regierung und den damit einhergehenden Eingriffen in die Bauleitplanung.
Mit dem im Jahr 2006 verabschiedeten Paragrafen 11/B des „Gesetzes Nr. LIII/2006 über die Beschleunigung und Vereinfachung der Realisierung von Investitionen von herausgehobener volkswirtschaftlicher Bedeutung“[7] schuf die damals regierende sozialistisch-liberale Koalition aus der Ungarischen Sozialistischen Partei (Magyar Szocialista Párt, MSZP) und dem Bund Freier Demokraten (Szabad Demokraták Szövetsége, SZDSZ) eine Grundlage, um für bestimmte planerische Sonderfälle verfahrenstechnische Ausnahmen zu erwirken. Ursprünglich beabsichtigte diese rechtliche Bestimmung, EU-mitfinanzierte Großprojekte durch eine Verkürzung der Genehmigungsverfahren schneller umzusetzen, und konnte bei öffentlichen Investitionen in Höhe von mindestens 5 Milliarden ungarischer Forint (HUF), damals etwa 18,8 Millionen Euro, und bei der Schaffung von mindestens 1.000 Arbeitsplätzen angewendet werden.[8]
Nachdem Viktor Orbán mit seiner Parteikoalition die Wahlen 2010 mit einer Zweidrittelmehrheit gewann, wurden die Anwendungskriterien gelockert: Die Schwellenwerte für Projekte, die ganz oder teilweise aus dem EU- oder dem nationalen Haushalt finanziert waren, wurden abgeschafft und unterliegen seither einer flexiblen Interpretation. So wurden beispielsweise auf der gesetzlichen Grundlage der IVHVB, um „nationales Kulturerbe […] zu erhalten, renovieren und entwickeln“[9], die kompletten Rekonstruktionen historischer Bebauung ermöglicht: Repräsentative Gebäude, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, konnten mit Regierungsaufträgen seit dem Jahr 2014 auch ohne Zustimmung der Stadtverwaltung wieder im ursprünglichen Aussehen des 19. Jahrhunderts errichtet werden.[10]
Die Praxis der ungarischen Regierung, von der ursprünglich nur für Sonderfälle gedachten Rechtsgrundlage des Paragrafen 11/B des Gesetzes Nr. LIII/2006 intensiv Gebrauch zu machen, untergräbt inzwischen einen Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung (Brenner 2021: 713). Die Umgehung der formalen Planungsgesetze hat einen ökonomischen Hintergrund. Für Teile der eng mit der Regierung verbundenen Elite Ungarns sind Bauaufträge ein wichtiger finanzieller Faktor. Dabei besteht eine hohe Abhängigkeit von der Regierung, die sowohl direkte Investitionen tätigt als auch die Rahmenbedingungen schafft, um die Bauwirtschaft zu unterstützen (Pogátsa 2021: 164).
Seit Beginn der COVID-19-Pandemie hat die ungarische Regierung die Möglichkeit, über Dekrete an der Nationalversammlung vorbeizuregieren. Die Nationalversammlung hatte dies auf Grundlage der pandemischen Ausnahmesituation mit den Stimmen der Regierungskoalition beschlossen. Von dieser Option macht die Regierung rege Gebrauch, auch um Bauvorhaben den Status einer IVHVB zu verleihen. Diese sehr weitreichende Handlungsmacht nutzt die Regierung, um Bauvorschriften auf unterschiedlichen Maßstabsebenen zu verändern, welche bis hinunter auf einen flurstückbezogenen Detaillierungsgrad reichen. Weder erfolgt dabei eine Abstimmung mit der Stadt, den Bezirken oder der dort lebenden Bevölkerung, noch findet eine parlamentarische Kontrolle zu den Eingriffen in die kommunale Planungshoheit statt.[11] Die Invasion Russlands im Nachbarland Ukraine bot den notwendigen Anlass, um auch nach Beendigung der pandemischen Ausnahmesituation weiterhin über Dekrete regieren zu können.
Seit 2010 wurde das Gesetz Nr. LIII/2006 über 40-mal novelliert und erweitert, insbesondere um die reibungslose Durchführung der wachsenden Zahl unterschiedlichster Projekte zu gewährleisten. Investor_innen und staatliche Projektträger_innen können die Genehmigungen im Schnellverfahren erhalten. Die verfahrensrechtlichen Vereinfachungen umfassen beispielsweise Kürzungen von Bearbeitungsfristen: Die Anträge der Projekte, die den Status der IVHVB erhalten, müssen innerhalb von 42 Tagen von den zuständigen Genehmigungs- und Fachbehörden bearbeitet werden, was in komplexeren Fällen bedeutet, dass die für diese Aufgabe zuständigen Behörden die Auswirkungen der Vorhaben nicht vollständig abschätzen können. Darüber hinaus ist es der Regierung möglich, diese Frist noch weiter zu verkürzen, indem sie einzelne projektspezifische Vorschriften erlässt. Anders als bei allgemeinen Verfahren müssen Nichtregierungsorganisationen oder Anwohner_innen nicht per Brief von der Entscheidung der Behörde in Kenntnis gesetzt werden – es reicht aus, sie fünf Tage lang am schwarzen Brett im Rathaus auszuhängen. Das Gesetz enthält außerdem viele weitere Regelungen, um Verfahren zu beschleunigen, diese betreffen formale Änderungen von Bebauungsplänen, Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur sowie die Beschleunigungen von Gerichtsverfahren. Damit verhindern die Ausnahmeregelungen eine angemessene Beteiligung der Öffentlichkeit, machen eine tiefergehende inhaltliche Bearbeitung der Anträge durch die Genehmigungs- und Fachbehörden oft unmöglich und verschaffen regierungsnahen Investor_innen und Anleger_innen einen Vorteil. Die projektspezifischen Konditionen der einzelnen IVHVB werden in Regierungsdekreten festgehalten. Diese Dekrete sind dann die Grundlage, um die kommunale Planungshoheit zu umgehen.[12] Nicht nur in Budapest, sondern auch in ganz Ungarn greift die Regierung vielfach auf das Instrument zurück, was aufgrund des beschleunigenden Aspektes durchaus im Interesse mancher Kommunen sein kann. Allerdings kommt das Instrument der IVHVB auch dann zur Anwendung, wenn die Interessen der kommunalen Selbstverwaltung nicht mit denen der Regierung übereinstimmen.
Die Deklarierung eines Projektes als eine Investition von herausgehobener wirtschaftlicher Bedeutung wirkt heute wie ein Stempel für fast alles, mit dem die Regierung die kommunale Planungseigenständigkeit beschneidet und eine Belangabwägung hinsichtlich der begründeten und berechtigten Interessen von lokalen Gemeinschaften verhindert. So wird dieser Status mittlerweile bei einer Vielzahl von Projekten angewandt: Allein in den letzten vier Jahren, unter der vierten Orbán-Regierung (2018-2022), wurden landesweit mehr als 1.000 Projekte als IVHVB ausgewiesen (Civil Kollégium, K-Monitor 2022). Nach der Lockerung der Anwendungskriterien, die eine IVHVB erfüllen muss, stellt die Art und Größe der mit diesem Status versehenen Projekte kein Kriterium mehr dar. So kann dieses rechtliche Instrument beispielsweise für die historischen Rekonstruktionen im Budapester Burgviertel angewandt werden, genauso wie für die Entwicklungen von Flughäfen, Bergwerksgeländen, innerstädtischen Fußballstadien, aber auch im ländlichen Raum für die Sanierung von Turnhallen.[13]
Der Einfluss der Regierung auf die Budapester Stadtentwicklung wird am Fall der Bauprojekte südlich der Budapester Innenstadt, beidseits der Donau, anschaulich. Die als „goldene Reserve der Stadt“ bezeichneten Flächen sind von ehemaligen Industriegebieten, ruderalen Grünflächen und teilweise von Naturschutzgebieten geprägt.[14] In den vergangenen Jahrzehnten wurden verschiedene Anläufe von staatlicher und privatwirtschaftlicher Seite unternommen, die zentrumsnahen Flächen nutzbar zu machen. Selten verlief dies erfolgreich, wahlweise scheiterten die Planungen an ihrer Finanzierung oder an administrativen Umdisponierungen. So sollten die Flächen als Ausstellungsgelände für die Expo 1995 dienen, welche allerdings nie stattfand, oder anschließend im Zuge von Privatisierungen Bauland für Projektentwickler_innen werden, ehe die Finanzkrise 2008 den Vorhaben ein Ende bereitete.[15] Durch politische Interventionen und die konsequente Anwendung der IVHVB gelang es den Orbán-Regierungen und ihr nahestehender Investor_innen, konkrete Entwicklungsvorhaben umzusetzen. Gerahmt waren diese Bauvorhaben von der Idee, in Budapest die Olympischen Spiele 2024 auszutragen, die der erklärtermaßen sportbegeisterte Ministerpräsident Orbán ins Land holen wollte. Ein Bürgerbegehren 2017 stoppte die Bewerbung, was die Bautätigkeiten allerdings nicht aufhielt, auch wenn dadurch das verbindende Moment zwischen den einzelnen Vorhaben entfiel. Durch eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundstücks- und Immobilienverkäufe in dem entsprechenden Areal wurde insbesondere der von Privatinvestor_innen getragene Wohnungsbau angekurbelt (Csernátony 2022). Gleichzeitig war durch die nationalstaatlich getragene Budapester Entwicklungsagentur (BFK) ein umfangreicher Ausbau der Infrastruktur geplant, welcher unter anderem verschiedene Trambahnlinien und eine neue Donaubrücke umfassen sollte. Davon ist bislang nur das Athletikstadion realisiert, welches ein Herzstück der Masterplanungen für die Olympischen Spiele gewesen war und im Sommer 2023 Austragungsort der Leichtathletik-Weltmeisterschaften wurde.
In diesem Kontext wird gegenwärtig das sogenannte Budapart-Projekt realisiert, welches für diesen Beitrag näher betrachtet werden soll. Dieses befindet sich im XI. Bezirk und umfasst eine Fläche von 217.000 Quadratmeter. Aus stadtplanerischer Perspektive ist das Grundstück durch seine prominente Lage direkt an der Donau und durch seine unmittelbare Nähe zur historischen Innenstadt Budapests bedeutsam.[16] In der Masterplanung für die Olympischen Spiele war das Grundstück als Medienzentrum der Spiele vorgesehen. Aber auch ohne olympische Rückendeckung wurde die Quartiersentwicklung des Budapart-Projekts vorangetrieben: 2015 erwarb der neu gegründete Immobilienentwickler Property Market GmbH, eine Tochterfirma der regierungsnahen Baufirma Market Bau GmbH, das brachliegende Grundstück. Hinter der Market Bau GmbH (Market Építő Zrt.) steht ein enger Freund des Ministerpräsidenten als Mehrheitseigentümer sowie die katarische Constellation Holdings Ltd., welche gemeinsam 65 Milliarden Forint staatlicher Kredite für den Grundstückserwerb von der ungarischen Exim Bank erhielten, um das Budapart-Projekt zu verwirklichen (Herczeg 2016). Damit sollen 3.000 Wohnungen in 15 Wohngebäuden, 250.000 Quadratmeter Bürofläche in 12 Bürogebäuden und 15.000 Quadratmeter Gewerbefläche entstehen und somit in naher Zukunft 25.000-30.000 Menschen Raum zum Wohnen und Arbeiten bieten (Csernátony 2022).
Als größte privat getragene Quartiersentwicklung Ungarns wird das Vorhaben nicht nur durch staatliche Kredite gestützt. Ein Regierungsdekret verlieh dem Budapart-Projekt 2016 den Status einer IVHVB. Den darauffolgenden beschränkten städtebaulichen Wettbewerb gewann das dänische Architekturbüro Adept, welches mit der Erstellung eines Masterplans beauftragt wurde. In diesem Rahmen fand eine Umverteilung der im Bebauungsplan festgelegten Baumassen statt. Ergebnis war eine städtebauliche Akzentuierung in Form eines 120 Meter hohen Bürogebäudes am Nordrand des Areals (Adept 2016). Die Bauleitplanung hätte zu diesem Zeitpunkt eine maximale Höhe von 65 Metern zugelassen, nichtsdestotrotz wurde die Veränderung des bestehenden Siedlungsgestaltungsplans[17] und des Siedlungsentwicklungsplans[18] veranlasst (Budapest Főváros Önkormányzata 2016). In einem beschleunigten Verfahren wurde dem Investor die Überschreitung der maximal zulässigen Bebauungshöhe gewährt. Die Entscheidung fiel unter Ausschluss von lokalen Konsultations- oder Notifizierungsverfahren (Újbuda 2022).[19] Neben der Überschreitung lokaler Bauvorschriften und der Umgehung von Beteiligungsverfahren gefährdet die nun zulässige Bauhöhe von 120 Metern den Status der Budapester Innenstadt als UNESCO-Weltkulturerbe.[20] Bislang hat die UNESCO wegen der Beeinträchtigung durch den Büroturm keine Entscheidung hinsichtlich des Status getroffen, festzuhalten ist jedoch, dass Stellungnahmen seitens der UNESCO im Planungsprozess keine Berücksichtigung fanden. Auch ein Gutachten der hauptstädtischen Budapester Stadtplanung GmbH (Budapest Főváros Városépítési Tervező Kft.) sprach sich gegen die Planungen aus. Die GmbH befindet sich zu 100 Prozent im Besitz der Stadt Budapest und ist unter anderem für die fachliche Ausarbeitung der Budapester Bauleitplanung zuständig. Trotz der fachlichen Einwände gegen das Bauprojekt votierte 2016 der damalige, noch der Orbán Regierung zugeneigte Stadtrat zugunsten des Turmbaus. Das Ende 2022 eröffnete Hochhaus dient inzwischen als die neue Zentrale von MOL (Magyar Olaj Vállalat), dem führenden Mineralölkonzern Ungarns und größten Unternehmen des Landes. Der von Foster and Partners entworfene Turm ist statt der diskutierten 120 Meter nochmals höher geworden – nämlich 143,65 Meter, was sich aus den hohen Glasscheiben der Aussichtsplattform und zwei auf dem Turm befindlichen Maschinenhäusern ergibt. Damit konkurriert das Gebäude mit dem stadtbildprägenden Gellértberg, welcher 139 Meter hoch ist.
Olympische Spiele werden in Budapest bis auf Weiteres nicht stattfinden. Dies ist maßgeblich auf die oppositionelle Partei der Momentum-Bewegung (Momentum Mozgalom) zurückzuführen, der es im Jahr 2017 gelang, genügend Unterschriften für ein städtisches Bürgerbegehren gegen die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2024 zu sammeln. Die Regierung zog daraufhin die Bewerbung zurück und begründete dies mit einem Mangel an „nationaler Einheit“ (Bita/Kovács/Tóth 2017). Nicht nur das Budapart-Projekt, sondern auch weitere Vorhaben, welche im Kontext der Vorplanungen zu Olympia entstanden, wurden trotzdem weiterentwickelt. Das Instrument der IVHVB war damals vorrangig zur Planungsbeschleunigung gedacht und nicht unbedingt, um den Einfluss der Stadtpolitik zu umgehen. Allerdings war die erfolgreiche Unterschriftensammlung Vorbote für den Sieg eines oppositionellen Parteienbündnisses bei den kommunalen Wahlen 2019 in Budapest, welcher die Ablösung des der Orbán-Regierung nahestehenden Oberbürgermeisters und der Fidesz-regierten Bezirksverwaltungen in den von den olympischen Plänen betroffenen Bezirken zur Folge hatte. Seit der Kommunalwahl 2019 ist die Stadt Budapest in ihrem stadtplanerischen Handlungsspielraum eingeschränkt und hat geringe Gestaltungsmöglichkeiten auf die Stadtentwicklung. Durch die zunehmende Zahl der Projekte im Status einer IVHVB wurden städtische Amtsträger_innen von Entscheidungen ausgeschlossen. So setzte die nationale Regierung beispielsweise trotz Absage der Olympischen Bewerbung sowie bestehender Gegenwehr auf Grundlage des Rechtinstruments der IVHVB die Planungen und den Bau des Leichtathletikstadions fort.[21] Die Baumaßnahmen des Stadions und seiner Außenanlagen waren von Eingriffen in den als NATURA-2000 geschützten Bereich der Donau und ihres Seitenarms an der Insel Csepel begleitet. In der zugehörigen Umweltverträglichkeitsprüfung des Stadionbaus wurde festgehalten, dass „mit der geplanten vollständigen Umgestaltung der Donauuferzone und anderen Eingriffen […] die Chancen für die Erhaltung der Lebensräume und Arten, auf denen die Ausweisung beruht, sehr gering“ seien (Sarkadi 2020). Der oppositionelle Budapester Oberbürgermeister und die unabhängige Bezirksbürgermeisterin des IX. Bezirks gaben 2019 dem Projekt ihre verzögerte Zustimmung, nachdem sie in Verhandlungen mit der Regierung den Bau von 4.000 Wohnheimplätzen für Studierende im Umfeld des Stadions und eine Aufstockung der Fördermittel für das Budapester Gesundheitswesen aushandelten (Fehér 2019). Trotz dieser Vereinbarung kündigte die Regierung an, anstatt des Studierendenstadt-Projekts auf den dafür vorgesehenen Flächen möglicherweise einen Campus der chinesischen Fudan-Universität in Budapest anzusiedeln (Keller-Alant/Standish 2022). Im Jahr 2022 wurde der komplette NATURA-2000-Flussraum des Ráckeve-Donauarms, welcher auf Höhe des Athletikstadions in die Donau mündet, als IVHVB deklariert.[22]
Die umfangreichen Wohnungsbauprojekte im Status von IVHVB im Süden Budapests haben große Auswirkungen auf die entsprechenden Bezirke der Stadt. Für die Profitmaximierung regierungsnaher Investor_innen werden lokale Bauregelungen teils drastisch verändert. In der Folge muss den Projekten unter Denkmalschutz stehende historische Bausubstanz weichen, und naturschutzfachlich bedeutsame Flächen werden entwidmet.[23] Mit Projekten wie dem MOL-Turm wird in die unter UNESCO-Weltkulturerbe stehende Budapester Innenstadt eingegriffen und das Erscheinungsbild der Stadt überprägt. Aber noch gravierender ist laut Sándor Bardóczi, dem Budapester Hauptlandschaftsarchitekten, dass „ein Stadtteil mit 20.000 Einwohnern entsteht, in dem es keine Daseinsvorsorge gibt. Das wird das gute Straßenverkehrsnetz, das es in Újbuda [im XI. Bezirk] noch gibt, ruinieren.“ (Bankó 2022) Die Überbebauung und Autoverkehrsüberlastung der betroffenen Bezirke verursachte bereits grundlegende stadtklimatische Herausforderungen durch den Mangel an Windkorridoren und Grünräumen sowie durch eine enorme Luft- und Lärmverschmutzung. Die Kosten der Planung und des Ausbaus der grünen und sozialen Infrastruktur sowie der benötigten Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sollen hauptsächlich die seit 2019 regierenden oppositionellen kommunalen Verwaltungen in den betroffenen Bezirken übernehmen – und dies trotz erheblicher Ressourcenknappheit.
Im Nachgang der Parlamentswahlen im Frühjahr 2022 und des erneuten Sieges der Regierungskoalition mit einer Zweidrittelmehrheit hat die Regierung von Viktor Orbán den formellen Fokus auf die Förderung des ländlichen Raumes gesetzt. Für den neuen Minister für Bau und Investitionen steht seitdem der ländliche Raum „an erster Stelle“ (Magyar Hang 2022). Die Entscheidung scheint vor dem Hintergrund des wiederholt schlechten Wahlergebnisses für die Fidesz Partei in Budapest gefällt worden zu sein und kann als Zeichen gedeutet werden, dass es in Zukunft geringere staatliche Zuwendungen in Budapest geben könnte. Im Nachgang dieser Entscheidung folgte die teilweise Eingliederung der BFK in das Nationale Verkehrszentrum (Nemzeti Közlekedési Központ, NKK), welches seinerseits nur wenige Monate später aufgelöst wurde. Eine Vielzahl der ursprünglich durch die BFK betreuten Projekte übernimmt mittlerweile das Bau- und Verkehrsministerium (Építési és Közlekedési Minisztérium, ÉKM) (Nemzeti Közlekedési Központ 2022).[24] Diese Wandelbarkeit der Zuständigkeiten für die vom Staat übernommene kommunale Planung und für Aufgaben innerhalb des Staatsapparates zeigt auch auf, wie stark kommunale Belange zentralisiert werden.
Seit 2010 wird in Ungarn durch das rechtliche Instrument der IVHVB die kommunale Planungshoheit extensiv untergraben. Ausgehebelt werden damit geordnete Verfahren der Bauleitplanung, die dem Ausgleich gesellschaftlicher Interessen dienen und eine Gleichbehandlung von Vorhabensträger_innen ermöglichen sollen. Dies folgt unter anderem daraus, dass städtische Verwaltungen und Genehmigungsbehörden ihrer Möglichkeit beraubt sind, sorgfältige Abwägungen vorzunehmen. Das bestehende Gesetz lässt einen enormen Spielraum für willkürliche Entscheidungen und ist in seiner Anwendung als aktiv antidemokratisch einzustufen. Nicht nur entfällt in der Herausarbeitung der einzelnen projektspezifischen Konditionen die Pflicht zur Einbindung der Öffentlichkeit, auch ergibt sich daraus eine kurzsichtige Stadtentwicklung, die nur wenige Profiteur_innen kennt.
Für dieses Vorgehen legte das im Jahr 2006 verabschiedete „Gesetz über die Beschleunigung und Vereinfachung der Realisierung von Investitionen von herausgehobener volkswirtschaftlicher Bedeutung“ die Basis, in dem die damalige sozialistisch-liberale Regierung eine rechtliche Grundlage schuf, um für planerische Sonderfälle verfahrenstechnische Ausnahmen für EU-mitfinanzierte Projekte zu erwirken. Die Schaffung von Sonderregelungen und gesetzlichen Ausnahmen zur Umgehung des eigentlichen Planungssystems ist dabei weder ein neues noch ein auf Ungarn beschränktes Phänomen bei Großprojekten (siehe z. B. Swyngedouw/Moulaert/Rodriguez 2002). Diese Form des Regierens ist durch weniger demokratische und stärkere elitenorientierte Prioritäten, Klientelismus und Wettbewerb gekennzeichnet (ebd.). Die Schaffung dieser gesetzlichen Grundlage gliedert sich somit in einen von Erik Swyngedouw, Frank Moulaert und Arantxa Rodriguez (2002) als neoliberal urbanization und new urban policy bezeichneten Prozess ein. Entsprechend ist aus planungstheoretischer Sicht festzuhalten, dass bereits die Schaffung eines solchen Gesetzes von der Vorgängerregierung zur Umgehung der regulären Planung eine Gefahr für ein demokratisch verfasstes Planungssystem darstellt.
Seit 2010 haben die von Viktor Orbán geführten Regierungen dieses Gesetz schrittweise erweitert und zu einem wesentlichen Instrument ihrer Wirtschaftspolitik ausgebaut.
Die Gesetzesgrundlage der IVHVB wird fortschreitend erweitert und extensiv angewendet, was von diversen Akteur_innen[25] hinterfragt wird. Dabei handelt es sich nicht nur um ein Instrument, um gegen den Willen der Kommunen planen zu können. Denn die Nutzung dieses Instruments ist bei einer Vielzahl von Projekten aus planerischer Sicht einem gewissen Pragmatismus geschuldet: Projekte, bei denen die IVHVB angewandt werden, können wesentlich zügiger umgesetzt werden, verglichen mit den eher als langwierig geltenden Verfahrensschritten der Bauleitplanung. Das begründet auch den Einsatz der IVHVB in Fidesz- oder regierungsnah regierten Kommunen, dessen planungsbeschleunigende und zentralisierende Wirkung auch stark mit Korruption von regierungsnahen Investor_innen im Zusammenhang steht. Auch diesbezüglich handelt sich es um kein spezifisch ungarisches Phänomen, denn der Wunsch nach einer zeitlichen Beschleunigung von Planung sowie eine Gefährdung der Demokratie durch autoritäre beziehungsweise neoliberale Entwicklungen und Korruption lassen sich auch in Belgrad (Čamprag/Grubbauer 2019), in Istanbul (Akçalı/Korkut 2015) oder Moskau (Büdenbender/Zupan 2017) beobachten. Die autoritär handelnde Orbán-Regierung demonstriert mit der Anwendung der IVHVB auf Kosten von demokratisch legitimierten Verfahren Entscheidungsstärke. Dies ist somit Ausdruck einer Form des autoritären Urbanismus und ein Beleg dafür, wie weit der von EU-Institutionen angeprangerte Rückgang der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn vorangeschritten ist.