sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(1/2), 337-340

doi.org/10.36900/suburban.v11i1/2.878

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CC BY-SA 4.0

Uwe – Felsberg-Melsungen, 2016

Fotospaziergang mit einem Leiharbeiter der Industrielogistik in Kassel

Cécile Cuny

Die Logistikbranche ist in letzter Zeit ins Zentrum vieler politischer sowie wissenschaftlicher Diskussionen gerückt. Diese wirtschaftlichen Aktivitäten, die den Verkehr von Gütern von ihrem Produktionsort zu ihrem Verkaufsort effizient und zu den niedrigstmöglichen Kosten organisieren, werden von Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Interessenverbänden einerseits als eine technologieintensive und zukunftsfähige Branche beschrieben, andererseits als exemplarisch für die dramatische Prekarisierung der europäischen Arbeitswelten[1]. An den Rändern der europäischen Städte drückt sich die Entwicklung der Logistik seit den 1980er-Jahren durch eine zunehmende Konzentration von Lagern aus, in denen Tätigkeiten wie Beförderung, Vorbereitung und Sortierung der Produkte von Arbeiter_innen (sog. Kommissionierer_innen, Staplerfahrer_innen, Lagerhelfer_innen) durchgeführt und nach der just-in-time-Methode organisiert werden. In Deutschland und Frankreich entsprechen die „einfachen“ Tätigkeiten der Mehrheit der Erwerbsarbeit in der Branche (86 % in Deutschland[2], 80 % in Frankreich[3]). Darunter sind männliche Arbeiter in der Logistik überrepräsentiert (72 % in Deutschland[4], 82 % in Frankreich[5]).

Von 2016 bis 2019 habe ich ein kollektives Forschungsprojekt koordiniert, das diese Arbeitswelten sowie die Berufs- und Wohnkarrieren von Arbeiter_innen in Logistikhallen in der Region Paris, im Ballungsraum Frankfurt/Rhein-Main und in Kassel untersucht hat[6]. Das Forschungs­vorhaben begann mit einer fotografischen Dokumentation von drei Logistikgewerbegebieten und einer ersten Interviewkampagne mit den Akteuren der Produktion solcher Gewerbegebiete (Barbier/Cuny/Raimbault 2019). Eine zweite Interviewkampagne wurde dann mit Arbeiter_innen durchgeführt, die in drei Logistikhallen der jeweiligen untersuchten Logistikgewerbegebiete angetroffen wurden (Barbier/Cuny 2020). Eine dritte Phase basierte auf der inszenierten Begegnung zwischen Arbeiter_innen, Fotograf_innen und Soziolog_innen. Sie bestand darin, mit etwa 20 Personen Fotospaziergänge an den Arbeits- und Wohnorten durchzuführen. Die Methode des Fotospaziergangs (in der französischen Literatur als itinéraire bezeichnet) wurde von dem Soziologen Jean-Yves Petiteau im Rahmen mehrerer Kooperationen mit verschiedenen Fotografen 1975 bis 2012 formalisiert. Sie besteht aus einem von der befragten Person inszenierten Spaziergang, der in eine kollaborative Beziehung mit den anwesenden Fotograf_innen und Soziolog_­innen eingebunden ist (Cuny/Färber/Preissing 2010). Jeder Spaziergang verbindet verschiedene Lebenswelten, die innerhalb des Lebenslaufs und der Geschichte der befragten Person von Bedeutung werden: Arbeit, Nachbarschaft, Familie, Freizeit, Freunde, Hobbys. Im Rahmen der Untersuchung habe ich als Soziologin oder Fotografin etwa zehn Fotospaziergänge unternommen. Der hier vorgestellte Fotospaziergang wurde mit meinem Forschungskollegen Clément Barbier und Uwe, 55, seit 2012 Leiharbeiter in der Logistikhalle eines deutschen Herstellers von Energieerzeugungsgeräten in der südlichen Peripherie von Kassel, 2016 durchgeführt.

Fotospaziergang mit Uwe, Felsberg-Melsungen, 2016 (Cécile Cuny / WORKLOG)
(Video auf Vimeo ansehen)

Die Videomontage soll die Zuschauer dazu auffordern, die Bilder mit einem „zivilen Blick“[7] zu betrachten (Azoulay 2012: 48). Hierzu wurde der Fotospaziergang in die Form einer dreiminütigen Diashow übertragen, die aus 32 Fotografien besteht, kombiniert mit kurzen, transkribierten Auszügen aus den Tonaufnahmen während des Spaziergangs. Ein Soundtrack, der aus verschiedenen Aufnahmen besteht, die ich in mehreren besuchten Logistikhallen in Deutschland aufgenommen habe, unterbricht den Ablauf der Diashow mit dem Geräusch von Maschinen, Stimmen oder Fördergeräten, die an Uwes Arbeitswelt erinnern.

Die Videomontage berichtet von einer geographischen Reise, deren Eindrücke durch mehrere Fotografien wiedergegeben werden, die aus dem Auto heraus aufgenommen wurden. Diese Aufnahmeposition wird in den Bildern durch Elemente wie die Pfosten und Rundungen der Fenster oder Windschutzscheiben, die Silhouette des Rückspiegels, der Sitze oder der Passagiere verdeutlicht. Wenn diese Elemente nicht vorhanden sind, tragen andere Besonderheiten der visuellen Wahrnehmung aus einem Auto heraus zur Ästhetik der Bilder bei: Bewegungsunschärfe, überlagerte Bilder aufgrund von Spiegelungen in den Fenstern. Die Ästhetik dieser Fotografien zeichnet sich durch eine Reihe von Codes aus, die die visuelle Wahrnehmung dem Erlebnis im Kino annähert (Stierli 2010; Venturi/Scott Brown/Izenour 1972). Die Ähnlichkeit mit dem Kino wird noch weiter verstärkt durch die Diashow, die Verwendung von schwarzen Streifen mit Untertiteln und den Soundtrack. Werden die Zuschauer_innen auf manche Bilder aufmerksam, dann nehmen sie an dem teil, was Ariella Azoulay als „Bürgerschaft der Fotografie“ bezeichnet (Azoulay 2008): Sie verlängern das „Ereignis“, das den Fotospaziergang darstellt, und bieten Uwe die Gelegenheit, seine Geschichte in einem neuen Raum zu erzählen, der beim Zuschauen des Videos aktiviert wird. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer_innen sowie ihre Fähigkeit, Uwe als Subjekt anzuerkennen, mit dem sie in einer gleichberechtigten Beziehung stehen und einen gemeinsamen Raum teilen, sind aber nicht garantiert. Diese Beteiligungsebene entspricht dem „zivilen Blick“. Wie Jacques Rancière (2000) gezeigt hat, bestimmt die soziale Ordnung, die jedem Menschen einen Platz in Verbindung mit einer sozialen „Identität“ zuweist, zudem auch, wer sehen/nicht sehen, sprechen/nicht sprechen, gehört/nicht gehört werden oder verstanden/nicht verstanden werden kann. In diesem Zusammenhang wird die Veröffentlichung und Verbreitung des Videos auch zu einer demokratischen Probe. Es geht tatsächlich darum, die sozialen und politischen Herausforderungen zu interpretieren, die der Produktion der Bilder und ihrer Verbreitung zugrunde liegen, wie sie in dem besonderen sozialen und politischen Kontext der Rezeption verstanden werden können. Sind wir also bereit, anzunehmen, dass die Geschichte von Uwe auch uns persönlich betrifft, dass seine Situation als Leiharbeiter von unseren Positionen und Taten beziehungsweise unserer Tatenlosigkeit als Zuschauer_innen und Bürger_innen abhängt?