sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(1/2), 319-335

doi.org/10.36900/suburban.v11i1/2.880

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Debatte zu: Benedikt Korfs „Schwierigkeiten mit der kritischen Geographie“

Kritische Geographie in Schwierigkeiten?

Reflexionen im Anschluss an Benedikt Korfs „Schwierigkeiten mit der kritischen Geographie“

Matthias Naumann

Die Kritische Geographie steckt in Schwierigkeiten. Das ist allerdings nichts Neues: Die Ansprüche kritischer geographischer Forschung und Lehre, gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur zu verstehen, sondern auch zu deren Veränderung beizutragen, machtsensibel in der eigenen Praxis zu agieren und dabei internationalen Exzellenzstandards genügen zu müssen, werfen zwangsläufig Fragen, Widersprüche und Schwierigkeiten auf. Für die einen mag die Kritische Geographie daher „zu theoretisch“ und „abgehoben“, für die anderen „zu politisch“, „zu aktivistisch“ oder eben auch „zu unkritisch“ sein. So wird um das, was an Kritischer Geographie denn nun „kritisch“ sei, kontinuierlich gerungen (siehe beispielhaft für die kritische Stadtforschung Roskamm/Vollmer 2022 und die anschließende Debatte in dieser Zeitschrift oder für die geographische Entwicklungsforschung Schlottmann 2018). Und auch wenn in der Kritischen Geographie ein Konsens dahingehend besteht, dass die derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse überwunden werden müssen, so hört dieser spätestens bei der Frage, wie dies erfolgen solle, auch wieder auf.

Angesichts aktueller sozialer Auseinandersetzungen, etwa entlang des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine oder der Krise der Energieversorgung, aber auch angesichts der zunehmenden Fragmentierung und Marginalisierung der Linken, stellen sich die Fragen nach herrschaftskritischer Wissenschaft und ganz allgemein nach dem „What’s left?“ (Amin/Thrift 2005) in neuer Dringlichkeit. Vor diesem Hintergrund kommt Benedikt Korfs (2022) Anregung zur Schaffung eines „Raums für Nachdenklichkeit“ (ebd.: 22), um die Kritische Geographie (und damit auch die kritische Stadtforschung), deren Begriffe von Kritik und deren konzeptionelle Grundlagen zu hinterfragen, genau zur richtigen Zeit. Sein Buch bietet eine Gelegenheit zu reflektieren, worin die aktuellen Schwierigkeiten der Kritischen Geographie bestehen und was mögliche Auswege daraus wären.

Im Folgenden diskutiere ich Schwierigkeiten der Kritischen Geographie, die gleich auf mehreren Ebenen bestehen: Erstens stellt sich die Frage, ob die konzeptionellen Ansätze der Kritischen Geographie in der Lage sind, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse angemessen zu erfassen. Zweitens erfordern die methodischen Zugänge der Kritischen Geographie, gerade angesichts unübersichtlicher werdender Verhältnisse, eine kontinuierliche Reflexion, Neuausrichtung und Erweiterung. Mit den zuvor angesprochenen aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen ergeben sich drittens für die Kritische Geographie auch neue empirische Gegenstände. Schließlich verändern sich viertens die strukturellen Rahmenbedingungen für kritische Forschung und Lehre, nicht nur in der Geographie. Die Gliederung des Beitrags orientiert sich an diesen Schwierigkeiten mit den beiden Einschränkungen, dass erstens jedes Kapitel nur wenige Beispiele anführen und eine intensive Auseinandersetzung mit den angesprochenen Aspekten nicht ersetzen kann. Ziel der Kapitel ist es daher nicht, den kompletten Umfang und die Komplexität kritisch-geographischer Forschung differenziert abzubilden. Stattdessen illustrieren die folgenden Ausführungen mit zahlreichen Verweisen die Breite, aber auch exemplarische Leerstellen der deutschsprachigen Kritischen Geographie, um vertiefende Debatten anzuregen. Zweitens steht in diesem Text – wie auch im Band von Benedikt Korf – die deutschsprachige Debatte im Vordergrund, mit dem Wissen, dass die vormalige Trennung zwischen deutsch- und vor allem englischsprachiger Geographie zunehmend brüchiger wird. Darüber hinaus sind die Fragen nach einer sich kritisch verstehenden und agierenden Wissenschaft selbstverständlich nicht nur an die Geographie gerichtet, sondern Teil einer inter- und transdisziplinär zu führenden Diskussion. Zu den vier Schwierigkeiten wirft dieser Beitrag erste Thesen auf und führt skizzenhaft die Angewandte Kritische Geographie als ein Feld an, in dem eine praktische Reflexion bisheriger Ansätze, Methoden, Themen und Interventionen erfolgen kann.

Der von Benedikt Korf zu Beginn seines Buches angemahnte „skeptische Vorbehalt“ (2022: 10) führt zu Störungen in „liebgewonnenen Denkmustern“ und in Konsequenz zu Schwierigkeiten mit Ansätzen der Kritischen Geographie. Diese Schwierigkeiten produktiv zu wenden, stellt ein lohnendes Unterfangen dar. Hierfür ist es allerdings notwendig, anstelle der von Korf kritisierten „Denk-Stimmungen“ (ebd.: 20) oder „Schwingungen des Tons“ (ebd.: 204) bisherige Arbeiten der Kritischen Geographie tatsächlich gründlich „zu sezieren“ (ebd.: 21) sowie „explizit zum Objekt der Kritik“ (ebd.: 37) zu machen, um zu deren Weiterentwicklung beizutragen. Dieser Beitrag greift daher auf eine grobe, zuweilen willkürliche Sichtung von Veröffentlichungen der deutschsprachigen Kritischen Geographie in dieser Zeitschrift, humangeographischen Fachzeitschriften und Buchreihen kritischer geographischer Forschung zurück. Die Verweise auf zahlreiche – bei Weitem nicht alle – Publikationen soll zum einen illustrieren, wie sich die Kritische Geographie im deutschsprachigen Raum mittlerweile ausdifferenziert hat. Wie in kaum einem anderen Bereich der Humangeographie entstanden in den letzten beiden Jahrzehnten, oft außerhalb etablierter Institutionen der Disziplin, eine Vielzahl an Debatten, Veranstaltungen, Publikationen und weiteren Initiativen. Diese konzeptionelle, methodische und empirische Vielfalt zeigt zum anderen aber auch die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Reflexion hinsichtlich des kritischen Gehalts der eigenen Ansprüche und Praxis. So kann es, wie die Jubiläumsausgabe dieser Zeitschrift eindrücklich dokumentiert, für die Frage nach der Kritik in kritischer Forschung eben keine allgemeingültige Antwort geben, sondern immer nur neue Fragen, Versuche und vorläufige Thesen.

1. Pluralisierung und Spezialisierung – konzeptionelle Ansätze der Kritischen Geographie

Die konzeptionellen Ansätze der Kritischen Geographie haben sich in den letzten Jahren erheblich erweitert und ausdifferenziert. Diese stetige Ausdifferenzierung ist als Ausdruck einer Skepsis beziehungsweise des Zweifelns der Kritischen Geographie an sich selbst, das heißt ihrem wissenschaftlichen wie auch politischen Erklärungsgehalt, zu verstehen. Für die größer werdende Vielfalt stehen exemplarisch Einführungen in kritische Ansätze der Stadt- und Raumforschung (Vogelpohl/Oßenbrügge 2018; Vogelpohl et al. 2021), Überblickswerke zu Feministischen Geographien (Autor*innenkollektiv Geographie und Geschlecht 2021), zu postkolonialen Ansätzen (Bauriedl/Carstensen-Egwuom 2022) oder zur Politischen Ökologie (Gottschlich et al. 2022). Darüber hinaus liegen vertiefende Auseinandersetzungen unter anderem mit anarchistischen (spoerri/­Stenglein 2021) oder psychoanalytisch inspirierten Ansätzen (Pohl 2019) sowie Geographien im Anschluss an Karl Marx (Belina 2017), Michel Foucault (Füller/Michel 2012) und Theodor W. Adorno (Belina/Reuber 2021) vor. Wie oben bereits angedeutet, ist diese Aufzählung bereits für die deutschsprachige Kritische Geographie unvollständig, ganz zu schweigen von der konzeptionellen Vielfalt der internationalen Debatte. Jedoch zeigen schon diese wenigen Beispiele, dass die aktuelle Kritische Geographie mittlerweile eine konzeptionelle Bandbreite auszeichnet, die es schwer macht, „in Dogmatismen zu erstarren und sich in Selbstgefälligkeit einzurichten“ (Korf 2022: 17). Anstelle von „intellektuellen Abkürzungen“ (ebd.: 9) könnten wir hier auch von einem Labyrinth sich immer weiter verzweigender konzeptioneller Möglichkeiten sprechen. Oder, um es polemisch zu überspitzen: Wer hier einen einheitlichen „diskursiven Klingelton“ (ebd.: 17) der Kritischen Geographie hört, sollte vielleicht einen Hörtest machen. Die konzeptionelle Vielfalt der Kritischen Geographie trug maßgeblich dazu bei, dass die deutschsprachige Humangeographie stärker als bisher an die kritischen Sozialwissenschaften anschlussfähig wurde. Geographische Veröffentlichungen, Veranstaltungen und Stellenangebote haben damit auch für Vertreter*innen anderer wissenschaftlicher Disziplinen deutlich an Attraktivität gewonnen.

Die Erweiterung und Ausdifferenzierung konzeptioneller Ansätze ist aber durchaus mit Schwierigkeiten verbunden. Erstens könnte die zunehmende Spezialisierung von Expert*innen bestimmter Theorien dazu führen, dass ein Dialog immer voraussetzungsvoller wird. Beispielsweise sind für die Geographien im Anschluss an Slavoj Žižek auch Kenntnisse der Arbeiten von Jacques Lacan und Georg Wilhelm Friedrich Hegel zumindest sehr hilfreich. In seinem Buch zeigt Benedikt Korf die Bedeutung der politischen Theologie als Voraussetzung für ein besseres Verständnis der Kritischen Theorie auf (2022: 62 ff.). So verdienstvoll diese konzeptionellen „Tiefenbohrungen“ sind, bringen sie aber auch die Herausforderung mit sich, wie ein produktiver Austausch zwischen den einzelnen Spezialist*innen und der Bezug auf aktuelle raumbezogene empirische Fragestellungen gelingen können. Eine Möglichkeit für den Umgang mit diesen Schwierigkeiten könnte in einer Angewandten Kritischen Geographie liegen. Der Anspruch, konkrete gesellschaftliche Probleme gemeinsam mit Akteur*innen jenseits des akademischen Betriebs zu bearbeiten, macht eine empirische Operationalisierbarkeit, aber auch eine pragmatische Vermittlung von konzeptionellen Ansätzen erforderlich. Zweifellos sind mit diesem „Praxistest“, dem sich wissenschaftliche und politische Arbeiten unterziehen, verschiedene Herausforderungen verbunden. Dennoch könnte ein immer wieder neu zu bestimmender Anwendungsbezug neue Dialoge innerhalb und außerhalb der Wissenschaft ermöglichen.

Eine weitere, bereits seit Längerem identifizierte Herausforderung hinsichtlich der Weiterentwicklung konzeptioneller Ansätze besteht darin, den bisherigen Kanon von Theoretiker*innen um Stimmen aus dem Globalen Süden zu erweitern. Hier gilt es, neben alten weißen Männern der deutschen und englischen Sprache auch weitere Perspektiven zu berücksichtigen. Dazu kann die postcolonial urban theory wertvolle Anregungen liefern (für einen Überblick siehe Lanz 2015), die weit über die Stadtforschung hinaus relevant sind. Korf selbst schlägt etwa Ansätze postkolonialer Autor*innen wie Partha Chatterjee für die Untersuchung aktueller Entwicklungen des Populismus vor (2022: 177 f.). Die Provinzialisierung geographischer Forschung und Lehre bleibt daher ein zentrales Anliegen einer Kritischen Geographie.

Die Vielfalt konzeptioneller Ansätze in der Kritischen Geographie befindet sich in permanenter Erweiterung, wird intensiv diskutiert und stellt ganz sicher eine ihrer Stärken dar (siehe beispielsweise Vogelpohl et al. 2021). Die Pluralität von Theorien basiert auf der Erkenntnis, „dass sich die gegenwärtige Situation nicht auf eine Generalformel bringen lässt“ (Vogl in Korf 2022: 170) und eine kritische Gesellschaftsanalyse daher auf verschiedene konzeptionelle Zugänge angewiesen ist. Wenn diesen verschiedenen Ansätzen vielleicht doch eines gemeinsam ist, dann der Anspruch, theoretisch begründete Vorschläge für eine Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse zu liefern. In diesem Verständnis sind Krisen ein strukturelles Merkmal kapitalistischer Verhältnisse, die daher überwunden werden müssen. Indem kritische Forschung diese normativen Ausgangspunkte transparent macht, hebt sie sich deutlich von nur scheinbar „neutraler Wissenschaft“ ab, deren politische Agenda eben nicht klar kommuniziert wird. Die Formulierung von durch diverse konzeptionelle Zugänge inspirierte Gesellschaftskritik vermeidet damit die Moralisierung und Personalisierung von Kritik, die – wie später skizziert wird – zu populistischen und gefährlichen Kurzschlüssen führen kann. Die Ausdifferenzierung konzeptioneller Ansätze spiegelt sich auch in der Methodik der Kritischen Geographie wider.

2. Digital, partizipativ und in Bewegung – Anforderungen an Methoden der Kritischen Geographie

Auch wenn sich die Geographie, und ebenso die Kritische Geographie, als eine empirische Wissenschaft versteht, lieferte sie bisher nur begrenzt methodische Anregungen. Mit Ausnahme von Kartierungen sind zahlreiche Forschungsmethoden, die Geograph*innen verwenden, in anderen wissenschaftlichen Disziplinen entwickelt worden. Was sind dann also methodische Ansätze einer Kritischen Geographie für die Analyse und Kritik von Gesellschaft? Was können diese Ansätze zu einer sozialwissenschaftlichen Methodendiskussion beitragen?

Die methodischen Herausforderungen, die aus der Digitalisierung sowie der zunehmenden Mobilität in Gesellschaften resultieren, betreffen auch die empirische Forschung kritischer Geograph*innen und Stadtforscher*innen. Für die Methoden einer Kritischen Geographie ist darüber hinaus auch ein partizipativer Anspruch leitend. Die eigene gesellschaftliche Position soll in Forschungsvorhaben transparent gemacht und reflektiert werden, das Informations- und Machtgefälle zwischen Forschenden und Beforschten offengelegt und vermindert werden (siehe für das Beispiel kritischer Stadtexkursionen Grube/Thiele 2020). In der aktivistischen Stadtforschung ist die gemeinsame Intervention in stadtpolitische Auseinandersetzungen elementarer Bestandteil der Forschungsmethode (Füllner 2018). Der Anspruch, gesellschaftliche Verhältnisse zu analysieren und zu verändern, wird damit zu einer zentralen methodischen Herausforderung.

Ausgehend von diesen partizipativen Ansprüchen an methodische Zugänge ist in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Methodenbeiträgen aus der Kritischen Geographie entstanden. Die eingangs erwähnte Ausdifferenzierung kritisch-geographischer Forschung zeigt sich auch in methodischer Hinsicht. Als Beispiele seien hier genannt die konzeptionelle Entwicklung und praktische Umsetzung des kritischen (Dammann/Michel 2022) beziehungsweise kollektiven Kartierens (Halder 2018; kollektiv orangotango+ 2019), die Berücksichtigung visueller Methoden (Schlottmann/Miggelbrink 2015), die Nutzung von GIS-Daten (Michel/Gryl 2021) sowie von Daten aus sozialen Medien (Wiertz/Schopper 2019), die Erweiterung mobiler Interviews durch gemeinsame Aktivitäten mit Interviewpartner*innen wie beispielsweise „Bike-Alongs“ (Strüver 2015), eine materialistische (Belina/Dzudzek 2021) beziehungsweise poststrukturalistische (Glasze/Mattissek 2021) Reflexion der Diskursanalyse oder auch Überlegungen zu einer geographisch-künstlerischen Forschungspraxis (Bauer/Nöthen 2021). Monika Streule (2018) schlägt eine Ethnographie des Urbanen vor und Benedikt Korf (2022: 96 f.) sieht in ethnographischen Zugängen eine Möglichkeit, um sich „Geographien des Kleinen“ zu nähern. Seine Frage danach, wie partizipativ neuere Beteiligungsformen der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit sind (2022: 122), sollte auch an Forschungsmethoden der Kritischen Geographie immer wieder selbstkritisch gerichtet werden. Methodische Zugänge, die iterativ angelegt sind, bewusst „Umwege“ einkalkulieren, ein Scheitern auch als Lernprozess begreifen und das eigene Vorgehen immer wieder hinterfragen, sind elementar für eine Kritische Geographie. Eine zentrale Herausforderung besteht darin, im Sinne der Intersektionalität verschiedene Formen von Macht und Benachteiligung methodisch zu erfassen.

Der partizipative wie auch reflexive Charakter einer kritisch-geographischen Methodik, deren Möglichkeiten und Grenzen zeigen sich ebenso in einer Angewandten Kritischen Geographie. So schlagen Kuge et al. (2020: 223) eine sich als dialogisch verstehende Wissensproduktion vor, bei der „die außerakademischen Akteure als Kooperationspartner*innen in die verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses integriert [werden], deren eigenständige (Forschungs-)Praxis ernst genommen und für wechselseitige Lernprozesse erschlossen [wird]“. So werden aus den lediglich Beforschten eigenständige Subjekte im Forschungsprozess und Koproduzent*innen akademischen Wissens. Aus diesem ambitionierten Anspruch ergeben sich zahlreiche weitere forschungspraktische sowie -ethische Fragen der gemeinsamen Erhebung, aber auch der Auswertung und Sicherung von Daten.

Mit dieser methodischen Vielfalt sowie mit der Auseinandersetzung der mit der eigenen Positionalität verbundenen Schwierigkeiten und Widersprüche könnte die Kritische Geographie dem Vorwurf entgegentreten, dass sie sich die „mühselige Arbeit der Begründung von Aussagen“ (Korf 2022: 21) erspare und „eine kritische Hinterfragung ihrer eigenen theoretischen Position“ (ebd.: 22) umgehe. Darüber hinaus könnte eine weiter auszubauende kritische Methodendiskussion die Sichtbarkeit der Geographie beziehungsweise räumlicher Fragestellungen insgesamt in methodologischen Debatten erhöhen. Wie lohnenswert es ist, sich über das „Wie“ kritisch-geographischer Forschung Gedanken zu machen, zeigt die wachsende Breite empirischer Themen in der Kritischen Geographie.

3. Alles nur Gentrifizierung? Empirische Schwerpunkte und Leerstellen in der Kritischen Geographie

Die bisherigen Publikationen der Kritischen Geographie legen eine gewisse Fokussierung hinsichtlich von Fragen der Stadtgeographie, der (Neuen) Kulturgeographie oder auch der Politischen Geographie nahe. Die breite Debatte um die Gentrifizierung innerstädtischer Stadtteile ist ein Beispiel dafür, wie eine kritische Stadtforschung Eingang auch in mediale und stadtpolitische Diskurse gefunden hat. Demgegenüber ist in den letzten Jahren die Bandbreite empirischer Themen der Kritischen Geographie jedoch beständig weitergewachsen. Zu aktuellen Krisen wie der Covid-19-Pandemie (Mullis 2021) oder rechten Mobilisierungen (Mullis/Miggelbrink 2022) legten kritische Geograph*innen frühzeitig empirische Forschungsarbeiten vor. Für eine kleine Auswahl neuerer empirischer Gegenstände seien hier beispielhaft Lohnarbeit (Hürtgen 2021), Gesundheit (Füller 2022), die Digitalisierung von Städten (Bauriedl/Strüver 2018), Geographien von Recht und Justiz (Klosterkamp 2021), die Durchsetzung von Austerität (Petzold 2018), die Entwicklung ländlicher Räume (Mießner/Naumann 2019), räumliche Planung (Dudek 2021) sowie Emotionen und Affekte (Hutta et al. 2021) genannt. Die Kritische Geographie folgt in ihrer Wahl empirischer Gegenstände unweigerlich auch allgemeinen gesellschaftlichen „Megatrends“, die bei der finanziellen Förderung von beantragten Forschungsvorhaben eine wichtige Rolle spielen. Dennoch liegt die bisherige Stärke einer Empirischen Kritischen Geographie gerade darin, sich Themen anzunehmen, die im Mainstream als vermeintlich „irrelevant“ abgetan oder früher von etablierten Vertreter*innen der Disziplin als „zu wenig geographisch“ bezeichnet worden wären.

Demgegenüber gibt es aber auch Kritik an den bisherigen empirischen Schwerpunkten. So verweist Hanna Hilbrandt in ihrer Rezension der dritten Auflage vom „Handbuch Kritische Stadtgeographie“ (Belina/Naumann/Strüver 2018) darauf:

„Es bleibt jedoch der Eindruck, dass die Vorstellung von emanzipatorischen Veränderungen, die vor allem den letzten Buchteil trägt, sich auf ein paar wenige, kostbare und vornehmlich aktivistische Handlungen und deren favorisierte Orte fokussiert und damit beispielsweise stille Unterwanderungspraxen, routinierte Aushandlungen und Alltäglichkeit als Schauplatz progressiver Kritik außer Acht lässt.“

(Hilbrandt 2019: 267)

Eine Kritische Geographie sollte daher auch die blinden Flecke jenseits der eigenen empirischen Schwerpunkte und Lebensmittelpunkte in den Blick nehmen. So stehen eine kritische Klein- und Mittelstadtforschung (Bürk 2012), die Vermittlung der Kritischen Geographie in der Geographiedidaktik (Naumann/Raschke 2022) oder eine kritische Verkehrsgeographie (Hebsaker 2020) noch relativ am Anfang. Auch eine deutschsprachige Einführung in die Wirtschaftsgeographie aus kritischer Perspektive, wie es im englischsprachigen Raum bereits mehrere gibt (z. B. MacKinnon/Cumbers 2018), fehlt bislang.

Wie die Kritische Geographie durchaus auch die eigenen Schwächen und Widersprüche in der empirischen Forschung thematisiert, zeigt die beginnende Debatte um eine Angewandte Kritische Geographie. Diese greift die Kritik aus der angloamerikanischen Debatte auf, dass mit der zunehmenden Professionalisierung der Kritischen Geographie dieser ihre gesellschaftliche Relevanz verloren ging. Demgegenüber postulieren Kuge et al.: „Die zentrale Idee einer AKG [Angewandte Kritische Geographie] besteht darin, Probleme aus der Praxis zivilgesellschaftlicher Initiativen aufzugreifen, in denen sich die Interessen und die Lebenswirklichkeit marginalisierter bzw. subalterner Gruppen widerspiegeln.“ (Ebd. 2020: 223) Damit sind auch neue empirische Gegenstände kritisch-geographischer Forschung verbunden. Demgegenüber warnen Iris Dzudzek und Henning Füller:

„Eine diesem Diktum folgende Angewandte Kritische Stadtgeographie, die Kritik als Kampf gegen Machtverhältnisse begreift, kann sich aber leicht als Sackgasse herausstellen. Eine Kritik, die sich außerhalb solcher Verhältnisse imaginiert und kritisch-emanzipatorische Praxis als Befreiung von diesen versteht, bleibt verkürzt immanent.“

(ebd. 2022: 151)

Sie mahnen als entscheidende Aufgabe von Kritik an, eigene Ver­wicklungen zu erkennen, zu reflektieren und auch die eigene Praxis der Kritik zu problematisieren (ebd.). Die Frage nach der – zu kleinen oder zu großen – Distanz zum eigenen Aktivismus rückt hier ins Zentrum. Doch kritische Reflexion und Anwendungsbezug müssen sich nicht ausschließen:

„Für die Entwicklung einer Angewandten Kritischen Geographie ist es wichtig, diese Frage konsequent auf die eigene Praxis zu übertragen: Unter welchen Annahmen, Einsätzen, Bedingungen, Machtverhältnissen und Wahrheiten funktioniert die Realisierung und Regierung unserer Projekte? In diesem Zusammenspiel entsteht eine Stadtgeographie, die angewandt und kritisch zugleich ist.“

(Ebd.: 152)

Eine solche Angewandte Kritische Geographie könnte die Vorschläge für eine kritische Entwicklungsgeographie von Benedikt Korf (2022: 88 ff.) aufnehmen, indem sie eine Bescheidenheit praktiziert – hinsichtlich der Vermeidung vorschneller moralischer Urteile, aber auch hinsichtlich realistischer Forderungen und dem eigenen Vermögen, dazu etwas empirisch beizutragen. Diese empirische Arbeit muss dabei Widersprüchlichkeiten aushalten, sollte aber auch ein „Zögern und Zaudern“ in Krisenzeiten (ebd.: 174) vermeiden, das wir uns – auch wenn es moralisierend klingen mag – angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Zustände eben nicht leisten können.

Die methodisch-reflektierte Bearbeitung konkreter empirischer Themen kann ebenfalls verhindern, dass eine Empirische Kritische Geographie vorschnelle Generalisierungen vornimmt und in die Falle einer holzschnittartigen „Hyperkritik“ (Korf 2022: 94) tappt. Theorie- und Begriffsarbeit, die Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsgeschichte bleiben zweifellos wichtig. Gleichzeitig ist die Warnung von Benedikt Korf davor, die Theorie der Ideologiekritik auf Kosten der Empirie zu überhöhen (2022: 87), ernst zu nehmen – gerade vor dem Hintergrund einer immer umfassender und anspruchsvoller werdenden konzeptionellen Debatte. „Fake News“ und wissenschaftsfeindliche Haltungen, wie sie sich zum Beispiel bei den Protesten von Coronaleugner*innen zeigten, machen die Bedeutung einer reflektierten, aber doch auch zügigen Erarbeitung empirischer Ergebnisse sowie deren Vermittlung in der Gesellschaft deutlich. Gleichzeitig stehen diese Herausforderungen auch für die Veränderung wissenschaftspolitischer Rahmenbedingungen für die Kritische Geographie.

4. „Cancel Culture“ in der neoliberalen Hochschule? Gesellschaftliche und wissenschaftspolitische Schwierigkeiten

Die gesellschaftlichen Bedingungen werden für die Kritische Geographie schwieriger und geben vielfach Anlass für eine kritische Überprüfung der eigenen Positionen. Beispielhaft stehen hierfür erstens die immer deutlicher zu erkennenden Fragmentierungen innerhalb der Linken, zweitens ein gesellschaftlicher Diskurs um Political Correctness und eine vermeintliche „Cancel Culture“ (Daub 2022), gerade in Hochschulen, und drittens die weiter voranschreitende Neoliberalisierung des Wissenschaftsbetriebs. Gerade weil eine Kritische Geographie von einem immanent krisenhaften Charakter kapitalistischer Gesellschaften ausgeht, vermeidet sie Haltungen eines „Alarmismus“, vor denen auch Benedikt Korf (2022: 130) eindringlich warnt. Dennoch geben aktuelle Entwicklungen Anlass für Besorgnis und legen eine Dringlichkeit im Handeln nahe.

Aktuelle Krisen führten auch in der Linken und der kritischen Wissenschaft zu neuen Spaltungen beziehungsweise legen bereits länger bestehende Brüche offen. Ein eindrückliches Beispiel führt Benedikt Korf mit den verstörenden Äußerungen von Giorgio Agamben an, der von einer „Erfindung“ des SARS-CoV-2-Virus spricht (2022: 151). Hier lassen sich nahtlos die immer wiederkehrenden Vorstöße der LINKEN-Politikerin Sarah Wagenknecht gegen die Beschlusslage der eigenen Partei ergänzen. Die Positionen von Wagenknecht zu Migration, zu Maßnahmen der Pandemiebekämpfung oder zu den Sanktionen gegen Russland suchen dabei bewusst Anschluss an Debatten der Rechten. In einigen ostdeutschen Städten übernahmen bereits rechtsextreme Strukturen und Coronaleugner*innen bei den Protesten gegen Energiekosten oder den Krieg in der Ukraine das, was Korf als „Zornmanagement“ (ebd.: 186) bezeichnet. Eine undogmatische „Mosaik-Linke“, die in der Lage ist, verschiedene emanzipatorische Perspektiven und gesellschaftliche Kämpfe miteinander zu verbinden, ist derzeit hingegen nicht in Sicht. So bleibt die zu Beginn aufgeworfene Frage nach dem „What’s left?“ und der politischen Umsetzung emanzipatorischer Ansprüche auch für die Kritische Geographie weiter zu diskutieren.

Ob die Kritische Geographie im deutschsprachigen Raum tatsächlich zum „Mainstream“ (Korf 2022: 17) geworden ist, wäre Frage einer weiterführenden Debatte. Unstrittig dürfte sein, dass kritische Ansätze erst mit einigen Jahrzehnten Verzögerung in der deutschsprachigen Humangeographie aufgegriffen wurden und dabei erhebliche Widerstände zu überwinden hatten (Belina et al. 2021). Aktuelle Debatten um eine vermeintliche „Cancel Culture“ oder eine „Disziplinpolizei“ (Korf 2022: 192), die angeblich vom politisch korrekten Diskurs abweichende Meinungen ausschließt und verbietet, zeigen aber, dass diese Widerstände längst nicht verschwunden sind. So lässt sich das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, das erfreulicherweise nur minimale Unterstützung aus der Geographie erhalten hat, leicht als akademische Variante des „Aber das wird man doch wohl noch sagen dürfen (ohne dafür gleich kritisiert zu werden)“-Stammtischs kritisieren. Dennoch sind für die kritischen Geistes- und Sozialwissenschaften wissenschaftspolitische Konsequenzen zu befürchten. Es besteht die Gefahr, dass vor allem feministische, rassismuskritische oder postkoloniale Ansätze als Teil der akademischen Cancel Culture diffamiert werden und zunehmend unter Druck geraten (für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Cancel Culture“ siehe Daub 2022). Exemplarisch stehen hierfür die Auseinandersetzungen um eine zeitweilig geplante Umwidmung der bisherigen Professur für Geschlechtergeschichte in eine Professur für Digital Humanities an der Universität Jena (MDR Thüringen 2022). Das Beispiel aus Jena zeigt aber auch, wie schwierig es für eine Kritische Geographie werden wird, sich gegenüber Themen zu behaupten, die in der neoliberalen Hochschule für Internationalität und Drittmittelerfolg stehen.

Die Neoliberalisierung von Hochschulen und Forschungseinrichtungen mit ihrer einseitigen Orientierung an stark verkürzten Kriterien von „wissenschaftlicher Exzellenz“ sind seit Längerem Gegenstand von Kritik (Sambale/Eick/Walk 2008). Kürzlich zeigte die Kampagne „#IchBinHanna“ (Bahr/Eichhorn/Kubon 2022), wie schwierig es gerade für Nachwuchswissenschaftler*innen ist, sich angesichts befristeter Verträge ein wissenschaftliches Arbeiten des „Zauderns“ und der „Umwege“ (Korf 2022: 29) leisten zu können. Der von Korf vorgeschlagene Begriff einer „skeptizistischen Geographie“ (ebd.: 57) schließt somit an Peter Weichharts (2012) Forderung nach einer „Slow Science“ an, die er dem aktuellen „Exzellenzstalinismus“ gegenüberstellt. Aus Perspektive der feministischen Geographie fordern Alison Mountz et al. (2015) ebenfalls eine „slow scholarship“, denn der neoliberale Wettbewerbsgedanke betrifft auch kritische Forschung. Doch wie kann gründliches Nachdenken über gesellschaftliche Probleme gelingen angesichts der Dringlichkeit dieser Probleme – und vor allem auch, wenn im sich stetig beschleunigenden neoliberalen Hochschulbetrieb dafür schlicht keine Zeit ist (Schlottmann 2021)? Es ist damit zu rechnen, dass tendenziell sinkende Studierendenzahlen und zu erwartende Post-Corona-Sparrunden öffentlicher Haushalte die Möglichkeiten zum Innehalten und Hinterfragen künftig noch weiter verringern werden. Somit stellt sich die Frage, wie die Skepsis gegenüber einer neoliberalen Wissenschaftspolitik, aber auch der eigenen Forschungspraxis praktisch umgesetzt werden kann.

5. Fazit: Skeptisch oder aktivistisch? Angewandte Kritische Geographien der Zukunft

Der hier erfolgte kursorische Abriss aktueller konzeptioneller Ansätze, methodischer Zugänge, empirischer Gegenstände und wissenschaftspolitischer Positionierungen aus dem Kontext der Kritischen Geographie soll eines ihrer zentralen Merkmale illustrieren: Statt einem „Kreis der Insiderinnen“ (Korf 2022: 17) gibt es eine große Vielfalt, Heterogenität und damit auch Debatten zu kritisch-geographischer Forschung und Lehre. Kritische Geographie ist damit also genuin vom skeptischen Hinterfragen der eigenen Annahmen, Ansprüche und Praktiken geprägt. Schließlich steht die Kritische Geographie nicht außerhalb der von ihr kritisierten gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern ist eng mit ihnen verwoben und damit in permanenter Erschütterung, Veränderung und Neuorientierung begriffen.

Die Frage „Könnte es auch anders sein?“, von Benedikt Korf (2022: 38) in Hinblick auf die Erkenntnistheorie formuliert, stellt die Kritische Geographie für bestehende gesellschaftliche Verhältnisse. Damit sind nicht nur Momente der Nachdenklichkeit und des Zweifelns (auch an sich selbst), sondern zwangsläufig auch Irrtümer und Umwege verbunden. Ein konkretes Feld für eine Angewandte Kritische Geographie ist die Suche nach konkreten Alternativen im Lokalen, wie sie etwa in der Debatte um munizipalistische Bewegungen deutlich wird (Sarnow 2021). Was können soziale Bewegungen und linke Parteien, aber auch kritische Wissenschaftler*innen praktisch umsetzen, welche Auswirkungen hat die Professionalisierung von Aktivist*innen, was bedeutet etwa eine Institutionalisierung für die Forderung nach einem „Recht auf Stadt“? Was sind Wege für eine Dekolonialisierung bisheriger Ansätze, Methoden und Forschungsgegenstände? Dies sind Beispiele für konzeptionelle, methodische, empirische und auch wissenschaftspolitische Fragestellungen nicht nur einer Angewandten Kritischen Geographie, sondern kritischer Sozialwissenschaften insgesamt. Und ganz sicher darf der kritische Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse nicht vor der eigenen wissenschaftlichen und politischen Praxis Halt machen.

Vielleicht ist „die Hoffnung auf eine bessere zukünftige Welt“ moralisierend (Redepenning in Korf 2022: 146), angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse bleibt das Streben danach aber ein wichtiges, da notwendiges Anliegen der Kritischen Geographie. Die Einladung, sich daran zu beteiligen, steht weiterhin allen interessierten Geograph*innen wie auch Nichtgeograph*innen offen. Möglicherweise kann die von Benedikt Korf vorgeschlagene „skeptische Geographie“ (ebd.: 148) zugleich auch kritisch und angewandt sein?

Mit den anfangs erwähnten Ansprüchen der Kritischen Geographie an sich selbst macht sie sich einerseits angreifbar. Die Kritik an bestehenden Verhältnissen führt unweigerlich zu Widerspruch und Widerständen innerhalb wie auch außerhalb des wissenschaftlichen Betriebs. Andererseits versetzt sie sich mit der Verfolgung dieser Ansprüche in die Lage, Grenzen zu überschreiten: zwischen verschiedenen geographischen Sub- und weiteren Disziplinen, zwischen dem Wissenschaftsbetrieb und politischem Aktivismus, zwischen lokaler Verankerung und internationaler Vernetzung. Kritischen Geograph*innen geht es also um wissenschaftliche und politische Relevanz – und nicht um das „Abspielen ‚diskurser Klingeltöne‘“ (Korf 2022: 20).

Danksagung

Für ihre Kommentare zu einer früheren Version dieses Beitrags danke ich Bernd Belina, Felicitas Kübler, Michael Mießner, Anke Strüver sowie zwei Mitgliedern der sub\urban-Redaktion.