sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 105-143

doi.org/10.36900/suburban.v11i3/4.881

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0

Ersteinreichung: 15. Januar 2023

Veröffentlichung online: 3. November 2023

Im Zwang der Nation?

Landenteignung unter Indiens neoliberalem autoritärem Urbanismus

Michael Schwind

Mit der Wahl der Bharatiya Janata Party (BJP) vollzog sich in Indien eine Abkehr vom inklusiven Neoliberalismus hin zu einer Vertiefung des neoliberalen Projekts durch Sozialabbau und der Verbreitung einer hindunationalistischen Ideologie. Dieser Aufsatz entwickelt zunächst das Konzept des neoliberalen autoritären Urbanismus, der eine spezifische Phase kapitalistischer Raumproduktion bezeichnet, welche kapitalistische Verhältnisse über autoritäre, nationalistische und antidemokratische Elemente ausweitet. Anschließend wird der Frage nachgegangen, inwieweit sich Indiens autoritär-populistischer Wandel in seiner Enteignungspolitik und der Hinwendung zu marktbasierten Enteignungsinstrumenten niederschlägt und diese prägt. Am Beispiel der Wiederentdeckung von Land Pooling Schemes (LPS) werden drei Befunde diskutiert: (1) Die Abkehr von materiellen und rechtlichen Zugeständnissen für die Agrarbevölkerung. (2) Die Verschleierung der gewaltvollen Dimension der Urbanisierung über die Ausweitung ökonomischer Zwänge. (3) Die Ausweitung einer diskursiven Inklusion der enteigneten Landeigentümer_innen, welche widerstreitende Interessen zwischen Agrar- und urbanen Kapitalfraktionen zugunsten einer nationalen Einheit teilweise einzufangen sucht. Insgesamt zeigt sich, wie die indische Enteignungspolitik mit LPS eine potenziell hegemoniefördernde Funktion einnimmt, indem sie durch die Ausweitung und gleichzeitige Verschleierung von Zwang die landbesitzende Agrarbevölkerung nicht nur zum Verkauf ihres Landes und zur Teilnahme an städtischen Verwertungsprozessen aufruft, sondern sie gleichermaßen ideologisch und materiell untrennbar an das Schicksal der urbanen Nation zu binden sucht.

An English abstract can be found at the end of the document.

1. Einleitung

Seit Beginn der 2000er-Jahre werden „Land Pooling Schemes“ (LPS) (Lakhia 2019; Nair 2021) zunehmend in Ländern des sogenannten Globalen Südens implementiert. LPS sind Teil eines weltweiten Exports markt- und elitenfreundlicher bodenpolitischer Instrumente, wie sie während des europäischen Städtewachstums zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits entstanden sind. Internationale Finanzinstitutionen, allen voran die Weltbank, sowie Regierungen in aller Welt feiern dieses Landerwerbsverfahren als vielversprechende Alternative zu Landenteignungsgesetzen. Ziel der LPS ist es, Landeigentümer_innen auf angeblich freiwilliger Basis zur Umwidmung und zum Verkauf ihrer landwirtschaftlichen Flächen für eine städtische Nutzung zu bewegen. In Indien erlangte dieses Verfahren spätestens mit der Wahl der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) nationale und internationale Aufmerksamkeit. Auch andere Parteien begrüßten diesen Vorstoß, besonders auf bundes­staatlicher Ebene. Der Widerstand von Landeigentümer_innen gegen die bisherige Enteignungspolitik, so ein verbreiteter Diskurs, müsse nicht länger mit geringen Kompensationszahlungen abgefangen werden. Stattdessen würden LPS die Interessengegensätze zwischen Staat, Agrar- und Kapitalgruppen überwinden, Landbesitzer_innen in Stadtentwicklungsprojekte einbinden und schließlich die nächste Phase des indischen Wirtschaftswachstums ermöglichen.

Der Aufsatz[1] leistet einen Beitrag zur Debatte um Indiens hindunationalistischen und anti-demokratischen Wandel und zu der Frage, wie landbesitzende Agrargruppen in den Enteignungsprozess im Zuge der Urbanisierung inkorporiert werden und inwiefern eine Abkehr von rechtlichen und sozialen Zugeständnissen in der Bodenpolitik zu beobachten ist.[2] Drei Befunde ergeben sich aus einer Analyse der Genese, Wirkungsweise und Legitimation von marktbasierten Enteignungsinstrumenten im Kontext autoritärer und populistischer Politik in Indien: Erstens deuten Land Pooling Schemes auf eine Abkehr von materiellen Zugeständnissen der Enteignungspolitik hin. Zweitens findet eine Verschiebung von extraökonomischer Gewalt zu ökonomischen Zwängen statt, in dessen Folge die Gewalt der Enteignung unkenntlich wird. Drittens begleiten LPS einen Diskurs der Partnerschaft, welche landbesitzende Bevölkerungsteile als ökonomische Partner_innen subjektiviert und auffordert, sich im Namen des Wohlstands und der nationalen Entwicklung freiwillig über Landverkäufe daran zu beteiligen. Marktbasierte Enteignungsinstrumente konstruieren damit eine vermeintlich widerspruchsfreie Einheit zwischen Agrar- und urbanen Kapitalinteressen. Inwiefern sich in der aktuellen Bodenpolitik Indiens tatsächlich auch ein autoritär-populistischer Wandel weiter reproduziert und ablesen lässt, soll in diesem Aufsatz diskutiert werden.

Indiens Aufstieg zur viel beschworenen Wirtschaftsmacht begann mit der wirtschaftlichen Liberalisierung und der von globalen Finanzinstitutionen und nationalen Interessengruppen verordneten Privatisierung, Deregulierung und Öffnung der Märkte für ausländische Investitionen seit den frühen 1990er-Jahren. Grund und Boden wurde infolge zu einem begehrten Anlage- und Spekulationsobjekt. Die Enteignung von Agrarboden für Townships, Sonderwirtschaftszonen oder Gated Communities bedroht zunehmend die Lebensgrundlage der Agrarbevölkerung und führt regelmäßig zu massiven Protesten, die teils gewaltvoll unterdrückt werden (Bunnell/Parthasarathy/Thompson 2013). Konkret zeichne ich in diesem Zusammenhang die Gründe für eine Abkehr vom Landenteignungsgesetz und die Hinwendung zu marktbasierten Landerwerbsinstrumenten von Agrarboden seit 2014 nach – dem Jahr, in dem die politische Rechte in Indien mit der Bharatiya Janata Party (BJP) Regierungsmacht errang. Unter der BJP, die mit der Wiederwahl des Premierministers Narendra Modi fünf Jahre später ihre Position zementierte, vollzog sich ein radikaler politischer Bruch mit der Vorgänger-Mitte-links-Koalition, die zwischen den Jahren 2004 und 2014 regiert hatte. Bereits in den ersten Monaten ihrer Regierungszeit wendete sich die BJP vom sogenannten inklusiven Neoliberalismus ab (Ruparelia 2013). Diesem war seit der Liberalisierung 1992 mehr oder weniger kontinuierlich gefolgt worden, wobei er die Rechte von Minderheiten schützen und so die schlimmsten sozialen Folgen der neoliberalen Reformen abfedern sollte. Seit 2014 vertieft sich nun das neoliberale Projekt durch Sozialabbau und die Verbreitung einer hindunationalistischen Ideologie, die sich maßgeblich über den Ausschluss muslimischer Bürger_innen manifestiert (Nielsen/Nilsen 2021; Ruparelia 2013).

Vor diesem Hintergrund widmet sich der Aufsatz den Wechsel­beziehungen zwischen Indiens „Autoritärem Populismus“ und der Neu­ordnung seiner Enteignungspolitik. Das übergreifende Erkenntnisinteresse liegt in der Frage, inwiefern die gegenwärtige Enteignungspolitik eine spezifische urbane Praxis zur Konsensbildung darstellt, mittels derer subalterne Agrargruppen für das Urbanisierungsprojekt gewonnen werden sollen. Dieser Frage nach dem hegemonialen Charakter und Potenzial der Enteignungspolitik gehe ich in drei Unterfragen nach:

  1. Wie und vor dem Hintergrund welcher politischen und ökonomischen Rationalitäten kam es seit der Wahl der BJP zu einer Neuausrichtung der Enteignungspolitik und einer Hinwendung zu marktbasierten Enteignungsinstrumenten?
  2. Welche Formen nehmen außerökonomische und ökonomische Zwänge in der aktuellen Enteignungspolitik an und mit welchen Auswirkungen auf die Agrarbevölkerung?
  3. Welche Erzählungen und neuen agrarischen Subjektivitäten entstehen und legitimieren den Wandel in der Enteignungspolitik?

Methodisch gehe ich folgendermaßen vor: Zunächst zeichne ich die Entstehung marktbasierter Enteignungsinstrumente anhand bestehender empirischer Studien, Zeitungsartikel und Policy-Dokumente nach. Die zweite und dritte Teilfrage baut auf zwei kleinen empirischen Fallstudien auf, welche den Implementierungsprozess von LPS für Stadtentwicklungsprojekte näher beleuchten. Für die erste Fallstudie im südindischen Bundesstaat Karnataka greife ich auf eigene empirische Erhebungen in der Metropole Bengaluru zurück. Dort habe ich zwischen 2017 und 2019 im Rahmen meiner Promotion qualitative Interviews mit Landeigentümer_innen geführt, die in Erwartung ihrer Enteignung für die dort geplante Bidadi Smart City leben. Für die Analyse des Fallbeispiels in Andra Pradesh stütze ich mich auf vorhandene empirische Studien und Zeitungsartikel.

Zunächst wird eine eigene Lesart des Konzepts des „neoliberalen autoritären Urbanismus“ (Can/Fanton 2022; Gurol et al. 2023) entwickelt, um die Neuordnung der Enteignungspolitik unter Modis BJP zu fassen. Neoliberalen autoritären Urbanismus konzeptualisiere ich über Stuart Halls Autoritären Populismus (1985) und die materialistische Raumtheorie als eine Form der kapitalistischen Raumproduktion zur Bewältigung neoliberaler Krisen. Dessen spezifische Gestaltung, Regulation und diskursive Konstruktion von Räumen inkorporiert subalterne Gruppen nicht länger über Zugeständnisse, sondern nationale Erzählungen, eine Ausweitung von Zwang und Repressionen oder moralische „Paniken“. Damit weitet der neoliberale autoritäre Urbanismus marktbasierte Entwicklung auf Kosten demokratischer Verfahren und sozialer Rechte aus. Betrachtet man die Bodenpolitik und ihre Enteignungsinstrumente, so handelt es sich einerseits um ein Steuerungsfeld kapitalistischer Urbanisierung, das die Voraussetzungen für die Aneignung und Verwertung von Boden im sekundären Kapitalkreislauf schafft (Harvey 2018). Andererseits ist die Bodenpolitik ein Feld, in dem um die Deutungshoheit über die räumliche Entwicklung und Nutzung von Boden gerungen wird. Bodenpolitik ist somit potenziell ein Faktor für die Herausbildung politischer Hegemonie.

Mit diesem Fokus baue ich auf einem wachsenden Forschungsfeld auf, das die räumliche Dimension des „autoritären Neoliberalismus“ sowie autoritärer Regime in den Mittelpunkt stellt (Croese/Pitcher 2019). Nach Cemal Tansel (2017: 3) wird der „normal“ operierende kapitalistische Staat um eine „illiberale“ Dimension erweitert, wodurch Konsensbildung zunehmend auf Zwang, aber auch auf rechtlichen oder gänzlich extralegalen Instrumenten basiert. Vielfach wird daher auf die Verschränkung neoliberaler Reformen mit autoritärer Staatlichkeit verwiesen (Bruff/Tansel 2019; Scoones et al. 2018). Zentral für diesen Aufsatz ist die Feststellung, dass im autoritären Neoliberalismus herrschende Gruppen Widerstand, Konflikt oder Widerspruch nicht mehr durch Zugeständnisse oder Kompromisse austragen, sondern durch „explizite Exklusion und Marginalisierung untergeordneter sozialer Gruppen durch die verfassungsmäßig und gesetzlich verankerte Selbstentmachtung von nominell demokratischen Institutionen, Regierungen und Parlamente“ (Bruff 2014: 116; Übers. d. A.). Die Ausweitung von Zwang münde dann in einer Umstrukturierung städtischer und ländlicher Räume und schwäche zunehmend marginalisierte Gruppen (Can/Fanton 2022: 78). Tendenziell lässt sich also eine Zunahme extraökonomischer Zwänge bei gleichzeitiger Abnahme ökonomischer Zwänge im Kontext autoritärer neoliberaler Raumproduktion feststellen (vgl. ebd.).

Meine Analyse eines neuen Enteignungsinstruments geht von der Beobachtung aus, dass sich die neoliberale Krise im ländlichen Raum in Indien verschärft hat und unter der BJP durch eine Neuordnung der Bodenpolitik nun bearbeitet werden soll. Die neoliberale Krise manifestiert sich unter anderem in der anhaltenden Landenteignung und der fehlenden Absorption der ländlichen Bevölkerung in formelle Lohnarbeit.Michael Levien (2018) nennt dieses Phänomen Dispossession without development – Enteignung ohne Entwicklung. Die Restrukturierung der indischen Wirtschaft ist demzufolge nicht länger auf die Lohnarbeit der Landbevölkerung angewiesen. Proteste, Widerstand und eine sinkende Legitimation sind die Folge. Da Kapital und Arbeit nicht länger ineinander aufgehen, bildet sich ein wachsender informeller Sektor, in dem sich die enteignete Bevölkerung als Tagelöhner_innen verdingen muss. Während das Land der Menschen genommen wird, so Tania M. Li (2011), wird ihre Arbeit nicht gebraucht. Die Folge ist eine Landflucht in die Städte und die Entstehung einer neuen Form von Wanderarbeit, die Jan Breman (1996) als Footloose labour, also ungebundene Arbeit, beschreibt. Enteignung stellt für Levien in diesem Sinne keine Bearbeitung der Überakkumulationskrise dar, wie etwa David Harvey (2005, 2006) in seinen Ausführungen zur „Akkumulation durch Enteignung“ argumentiert, sondern eine durch staatliche Mittel erst ermöglichte Überwindung von Akkumulationshindernissen. Charakteristisch für den südlichen Urbanismus sind die hohen Investitionen in die gebaute Umwelt, die keine Arbeitsplätze hervorbringen oder die Überschussbevölkerung absorbieren würde (Schindler 2015). So stehen einer wachsenden informellen Beschäftigung in den Städten unproduktive Investitionen in Land, Infrastruktur und Immobilien gegenüber. Diese Investitionen setzen auf die Extraktion von Renten anstatt auf die Produktion von Gütern und Kapital in produktiven Sektoren wie zum Beispiel der Industrie (vgl. Harvey 2018: 366). Vor dem Hintergrund dieses Spannungsfeldes geht der Aufsatz davon aus, dass planerische Interventionen und Regulierungen zum Erwerb und zur Umverteilung von Boden auf gesellschaftliche Akzeptanz und Legitimation angewiesen sind und gesellschaftliche Krisen mitbearbeiten können. Bodenpolitiken und -gesetze lassen sich entsprechend vorläufig als potenzielle Strategien und staatliche Instrumentarien zur Einhegung subalterner Agrargruppen und Einverleibung ihrer Interessen, Forderungen und Wünsche im Kontext anhaltender Enteignung der Agrarbevölkerung von ihren Produktions- und Existenzmitteln verstehen.

2. Urbanisierung und die Bodenfrage in Indien

Im folgenden Abschnitt werde ich zunächst den Zusammenhang von Enteignungspolitik und Indiens gegenwärtiger Urbanisierung darstellen. Die Enteignung von Agrarland in ländlichen Räumen wird oftmals mit den Voraussetzungen und Folgen der globalen Ressourcenextraktion, der Bodenspekulation oder der industriellen Produktion von Nahrungsmitteln oder Treibstoffen in Verbindung gebracht. Dabei ist die Enteignung von Agrarland Ausdruck eines zunehmenden globalen Landerwerbs durch staatliche oder private (trans-)nationale Investoren und wird sowohl gesellschaftlich als auch wissenschaftlich häufig unter dem Begriff „Land Grabbing“ oder „Landnahme“ thematisiert (Hall 2013) und in den Kontext der historischen Enteignung und Durchsetzung privater Eigentumsregime während des europäischen Kolonialismus und der imperialen Expansion Europas gestellt (Greer 2018). Unter der britischen Herrschaft wurde Land in Indien zunächst überwiegend für Infrastrukturprojekte enteignet (Levien 2018). Und auch nach seiner Unabhängigkeit waren es zunächst überwiegend Industrieprojekte wie Minen, Staudämme oder Industrieanlagen, für die das Landenteignungsgesetz zum Einsatz kam. Die Hinwendung zu städtischen Agglomerationen seit der ökonomischen Liberalisierung übt inzwischen, gerade in periurbanen Räumen, einen gänzlich neuen Verwertungsdruck auf den Boden und die Agrarbevölkerung aus. Smart Cities, Sonderwirtschaftszonen, riesige Verkehrskorridore, Bürokomplexe, private Townships oder Gated Communities setzen nicht nur eine Enteignung von landwirtschaftlichen Flächen voraus und wandeln diese in städtische Nutzungen um, sondern stehen insgesamt für die Zunahme an globalen Investitionen, Spekulation und Finanzialisierung von Boden (Bunnell/Parthasarathy/Thompson 2013; Chatterjee 2017; Levien 2012; Raman 2016; Searle 2016; Shatkin 2016).

Enteignung ist jedoch nicht der einzige Modus Operandi für die Transformation von Agrarboden in städtische Anlageobjekte. Aus dem sich formierenden Forschungsfeld des Agrarian Urbanism – agrarischen Urbanismus –, welches von postkolonialen wie auch materialistischen Ansätzen der Stadttheorie mitgeprägt ist, werden mindestens zwei erkenntnistheoretische Leerstellen in der aktuellen Enteignungsdebatte in Indien moniert (Balakrishnan/Gururani 2021; Gururani/Dasgupta 2018; Gururani/Kennedy 2021): zum einen die als übermäßig empfundene wissenschaftliche Fokussierung auf die Enteignung von Agrarland durch globale Investor_innen und zum anderen die Vernachlässigung von nicht enteignungsbasierten Praktiken der Landtransformation in Form von alltäglichen Verkäufen, Aneignungen oder Besetzungen von Land innerhalb der nach Klassen, Kasten und Religionen differenzierten landbesitzenden Agrarbevölkerung (Cowan 2018; Upadhya/Rathod 2021; Maringanti 2013). Indem die Kategorie des Agrarischen nicht auf eine rein passive Größe reduziert, sondern ihre Wirkmächtigkeit in der Gestaltung kapitalistischer Urbanisierungsprozesse betont wird, wendet sich das Forschungsfeld in Teilen gegen sogenannte planetarische Theorien des Urbanen, wie sie beispielsweise von Neil Brenner (2015) vorgeschlagen (für Indien siehe Gururani/Kennedy 2021) und auch in dieser Zeitschrift schon unterschiedlich debattiert wurden (siehe Debattenbeiträge Lanz 2015; Keil 2022). Der Fokus auf Aushandlungsprozesse, Brüche oder Verschränkungen zwischen dem Urbanen und Agrarischen sowie auf agrarstrukturelle Besonderheiten, Kastenzugehörigkeiten oder Besitzverhältnisse ermöglicht zudem eine weniger monokausale und ökonomistische Analyse kapitalistischer Entwicklungs- und Transformationsprozesse (Chari 2004; Hart 1998; Li 2014).

Dabei geht es um die graduellen, alltäglichen und vielleicht auch stillen Formen der Aneignung, Enteignung und Kommodifizierung von Agrarland einer heterogenen Agrarbevölkerung, die entlang von Kaste, Klasse, Religion, aber auch historisch gewachsener regionaler Dominanz aktiv am Urbanisierungsprozess teilnimmt. Daher verweisen Autor_innen darauf, dass die ländliche Bevölkerung den Transformationsprozessen nicht per se passiv oder widerständig gegenübersteht, sondern ihn ebenso vielfältig akzeptiert oder sogar mitgestaltet (Cross 2014; De Neve 2015; Maringanti 2013). Thomas Cowan zeigt beispielsweise, wie sich große landbesitzende Klassen in elitäre Rentiers verwandeln, die ihr Einkommen aus reinvestierten Mieten in städtischen und industriellen Immobilien beziehen (Cowan 2018). Besonders dominante agrarische Gruppen, häufig solche mit hohem Kastenstatus und vergleichsweise großem Landbesitz und politischem Einfluss, nehmen aktiv an der Initiierung und Etablierung städtischer Bodenmärkte teil. Neha Sami (2013) beschreibt beispielsweise, wie Landeigentümer_innen während des Landerwerbsprozesses für eine Sonderwirtschaftszone in Pune, Maharashtra, die drohende Enteignung abwenden konnten, indem sie Ad-hoc-Koalitionen bildeten, um als urban developer tätig zu werden (siehe auch Balakrishnan 2013). Diese Beteiligung an der Inwertsetzung, Spekulation und Privatisierung von Land kann nur verstanden werden vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden Agrarkrise mit sinkenden Einkommensmöglichkeiten und steigenden Produktionskosten, aber auch mit klimawandelbedingten Ernteausfällen und lediglich prekären außerlandwirtschaftlichen Beschäftigungsmöglichkeiten für die bäuerliche Bevölkerung sowie rasant steigenden Bodenpreisen in periurbanen Räumen. Der Niedergang der Landwirtschaft im Umland der südindischen Metropole Bangalore macht Landverkäufe und Kompensationszahlungen für die wirtschaftlich stark geschwächte Agrarbevölkerung beispielsweise immer attraktiver. Die Electronic City im Süden oder der Flughafen im Norden Bangalores werden daher auch als Phänomene eines spekulativen und enteignenden Urbanismus beschrieben, der einerseits von einem zunehmend finanzialisierten Bodenmarkt und globalen Verflechtungen zwischen westlichen Investoren, internationalen Finanzinstitutionen und regionalen parastaatlichen Akteuren profitiert, andererseits die Armut der peripherisierten Bevölkerung nur in geringem Maße reduziert (Benjamin 2000; Goldman 2020). Viele enteignete Landbesitzer_innen leben deshalb auch von der Vermietung von Mehrfamilienhäusern, die oft informell gebaut und durch Landverkauf und/oder Enteignung finanziert wurden.

LPS können im Spannungsfeld dieser beiden Debatten, das heißt einerseits der Enteignung und andererseits der als freiwillig erscheinenden Beteiligung und unterschiedlichen Aushandlungsmodi von urbanen Landtransformationsprozessen innerhalb der Agrarbevölkerung, angesiedelt werden. Die Tatsache, dass Enteignung für die urbane Raumproduktion in der Literatur vor allem im Kontext des „südlichen Urbanismus“ diskutiert zu werden scheint, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade mit und nach der globalen Finanzkrise 2008/09 auch in den Städten des globalen Nordens die ärmeren Teile der Stadtbevölkerung durch Zwangsversteigerungen, Veräußerungen und Aneignungen anhaltend enteignet werden (España/Toscano 2019).

3. Autoritärer Populismus und neoliberaler autoritärer Urbanismus

Nach Stuart Hall (1985) verweist der Begriff des „Autoritären Populismus“ (AP) auf eine spezifische Form der Herrschaft, die sich in der Frage der Konsensformierung von der kapitalistisch-liberalen Demokratie unterscheidet. Im Rekurs auf die Herrschaftstheorie von Antonio Gramsci (2012: GH 13, §17) wird festgestellt, wie beziehungsweise dass die bürgerlich kapitalistische Hegemonie ihre politischen und sozialen Kräfteverhältnisse sowohl über Momente des Zwangs als auch des Konsens stabilisiert. Diese Form der Führung sichert die Zustimmung der beherrschten Gruppen mittels Zugeständnissen und der Universalisierung dominanter Weltanschauungen, wodurch die Interessen und Gedanken der herrschenden Gruppen zu jenen der Beherrschten werden. Zwang flankiert den Konsens zur bürgerlichen Führung und wendet interne und externe Gefahren gegen die bestehende Ordnung ab. Der AP beschreibt nun eine Abkehr von diesem Mechanismus der Herrschaftsstabilisierung. Vielmehr herrscht der AP über Zwang und verzichtet auf Zugeständnisse. Dabei belässt er die demokratische Klassenherrschaft intakt (Demirović 2018). Am wichtigsten aber setzt der AP auf eine populistische Rhetorik des nationalen Stolzes und der Einheit, welche sich über den Ausschluss marginalisierter Gruppen konstituiert. Dabei setzen die herrschenden Klassen auf eine Kombination aus Elitenkritik („die da oben“) und der Verbreitung „moralischer Paniken“, welche beispielweise eine Bedrohung der Sicherheit und Ordnung durch Einwanderung heraufbeschwören (ebd.: 29). Diese Moralpaniken schüren „Ressentiments, rassistische Praktiken, Kälte und Entsolidarisierung“ gegenüber Minderheiten bei den Subalternen (ebd.: 32). Die Zustimmung in der Bevölkerung bleibt passiv, gerade weil auf materielle Zugeständnisse gänzlich verzichtet wird.

Der AP ist keine externe oder äußerliche Bedrohung der liberalen Demokratie, sondern Ergebnis und formende Kraft eines transformierenden und krisenhaften neoliberalen Kapitalismus (Demirović 2018). Entsprechend kann der AP in Indien, aber auch in anderen Ländern wie Brasilien, Ungarn oder den USA als Ausdruck einer spezifischen Phase des Neoliberalismus verstanden werden, anstatt ihn auf eine Reaktion auf den Neoliberalismus zu reduzieren (Fraser 2017). Die neoliberale Ideologie postuliert, dass die volle Entfaltungskraft ökonomischer Entwicklung erst durch einen minimalen Staat und wenige Regulierungen ermöglicht wird (Harvey 2007). Marktorientierte Lösungen zur staatlichen Bereitstellung von Gütern, Dienstleistungen und gesellschaftlicher Grundversorgung werden damit bevorzugt, während beständig an der Erschließung und Ausweitung neuer Märkte gearbeitet wird (Mullis 2011; Peck/Tickell 2002: 381). In der Praxis, so Neil Brenner und Nik Theodore (2002), handelt es sich beim Neoliberalismus jedoch um einen Umbau staatlichen Handelns, welcher in nationale und lokale Kontexte eingebettet ist. Gerade Städte sind dabei wichtige Arenen für die institutionelle, rechtliche und politische Restrukturierung fordistischer Wohlfahrtsregime (ebd.: 350 f.). Laut Jamie Peck und Adam Tickell (2002) setzte im westlichen Kontext (Nordamerika und Europa) nach dem Proto-Neoliberalismus der 1920er- und 1930er-Jahre mit seiner Kritik am Keynesianismus und an der Staatsverschuldung die erste Phase der Neoliberalisierung ein. Dieser sogenannte „Roll-back-Neoliberalismus“ bezeichnet laut Peck und Tickell den ökonomischen und gesamtgesellschaftlichen Paradigmenwechsel der 1970er-Jahre, der auf die Überproduktion und das Absinken der Produktionsrate nach dem Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit reagiert: Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung bei gleichzeitiger Schwächung der Gewerkschaften und Kürzung staatlicher Leistungen wurde zur vermeintlich alternativlosen Krisenbewältigungsstrategie, welche auch das Ende des Wohlfahrtsstaates einläutete. Der „Roll-out-Neoliberalismus“ ab den 1990er-Jahren begegnete den wachsenden sozialen Verwerfungen der vorangegangenen zwei Dekaden mittels einer Stärkung staatlicher Regulierungen und Einbettung des neoliberalen Kapitalismus in demokratische Strukturen in Form von sozialen Ausgleichsmaßnahmen. Gleichzeitig nahmen repressive, aktivierende und erziehende staatliche Maßnahmen zu und verbanden sich mit Appellen an die Eigeninitiative des_der Einzelnen und zivilgesellschaftlicher Akteure. Vielfach wird darauf verwiesen, dass der neoliberale Kapitalismus mit einer Restrukturierung des Staates von der nationalen auf die regionale und lokale Ebene einhergeht und sich trotz seines universalisierenden Charakters aufgrund historisch-geographischer Besonderheiten zwischen und innerhalb des sogenannten globalen Nordens und Südens unterschiedlich entwickelt hat.

Alex Demirović (2018) argumentiert nun, dass die globale Finanzkrise (2008/09) den Roll-out-Neoliberalismus in eine Legitimationskrise brachte, auf die der AP über eine Neuordnung des Verhältnisses zwischen subalternen Klassen und dem Bürgertum reagiert. Der AP griff die wachsende Unzufriedenheit der subalternen Bevölkerung auf und verbündet sich mit ihnen gemeinsam im Kampf gegen die „liberalen Eliten“ und die herrschende Politik. Anders als in den Phasen davor verzichtet der AP dabei gänzlich auf Konzessionen, weshalb Demirović von einer „autoritär-plebiszitären Führung ohne Konzessionen“ spricht, in dessen Folge beschleunigte und intransparente Entscheidungsprozesse ohne demokratische Prinzipien der Willensbildung entstehen (2018: 32).

Halls herrschaftstheoretische Auslegung der politischen und ideologischen Veränderungen zu Zeiten des sogenannten Thatcherismus in Großbritannien verliert im Zuge Indiens antidemokratischen und nationalistischen Kurses nicht minder an Deutungskraft. Auch in Indien lässt sich ein Antielitismus und ein konstruierter Widerspruch zwischen den „einfachen Leuten“ und der vermeintlichen Elite – sowie der Betonung eines individuellen Unternehmertums bei gleichzeitiger Schwächung sozialer Rechte und einem Abbau demokratischer Verfahren – ausmachen (Nielsen/Nilsen 2021; Vanaik 2017). Die Schuld für Indiens ökonomische und soziale Probleme seit der ökonomischen Liberalisierung wird den „linksliberalen Eliten“ mit ihrem „korrupten“ und „interventionistischen“ Staat gegeben (Chacko 2018: 18). Als übergreifende Ideologie gilt die Hindutva, welche eine Einheit der Hindus und „echte Inder_innen“ beschwört, die gegen Muslime und „antinationale Feinde“ mittels repressiver, diskriminierender und gewaltvoller Handlungen, Gesetze und Politiken verteidigt werden müssen (Müller 2017, Übers. d. A.). Das Volk, also die (hinduistische) arme und sich bildende urbane Mittelklasse, müsse wiederum vor der antinationalen Bedrohung geschützt werden (Chacko 2018: 17).

Laut Achin Vanaik (2017: 343 ff.) beruht der Erfolg der BJP auf erheblichen ökonomischen und ideologischen Veränderungen und der Neujustierung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse bereits in den 1980er-Jahren. Damals vollzog die regierende Kongresspartei eine Hinwendung zur neoliberalen Wirtschaftspolitik. Der finale Bruch mit dem Sozialismus Nehru’scher Prägung fand später mit den 1990er-Reformen statt, welche zu erheblichen Ungleichheiten und Unzufriedenheiten führte (Chacko 2018; Vanaik 2017). Gleichzeitig konsolidierte sich in den 1980er-Jahren ein Hindutva-geprägter Alltagsverstand, der sich mit seinem Nationalismus und seiner Vorstellung einer starken indischen Hindu-Einheit politisch und sozial mit der Ideologie des Neoliberalismus verbinden ließ (Vanaik 2017: 346 ff.).

Doch was bedeutet Subalternität und wer gehört im Kontext enteignender Urbanisierungsprozesse zu den subalternen Gruppen? Subalternität verstehe ich in Anlehnung an Antonio Gramsci und die Subaltern Studies als Erweiterung des Klassenbegriffs, um heterogene Ausbeutungs- und Unterdrückungserfahrungen sowie die damit verbundenen Einhegungs- und Mobilisierungsversuche in den Blick zu nehmen (Green 2011). In meinem Kontext geht es insbesondere um die Erfahrung der Urbanisierung und der Transformation des Ländlichen mit der Enteignung und Inwert­setzung von Land für die Agrarbevölkerung. Diese wird in der Literatur als ambivalent beschrieben, da Erfahrungen von Verlust, Gewalt und Zwang mit Versprechungen neuer materieller Möglichkeiten eng verwoben sind. Die indische Agrarbevölkerung ist stark nach Klasse, Kaste, Religion, Geschlecht und Landbesitz differenziert, wobei zwischen diesen Dimensionen nach wie vor starke Konvergenzen zu beobachten sind. Dies führt zu einer ausgeprägten sozialen und räumlichen Spaltung und Ungleichheit im ländlichen Indien. Für meine Analyse potenziell hegemoniefördernder Enteignungspolitiken muss daher zwischen politisch einflussreichen, materiell gut ausgestatteten und in der Kastenhierarchie weit oben stehenden Großgrundbesitzer_innen einerseits und der landlosen Agrarbevölkerung sowie Bäuer_innen mit kleinem (1 bis 2 Hektar) und mittlerem (2 bis 4 Hektar) Landbesitz andererseits unterschieden werden. Letztere Gruppe steht entweder ganz außerhalb der Kastenhierarchie (Dalits) oder gehört zu den sogenannten scheduled castes, scheduled tribes oder other backward classes. Gerade für diese Gruppen bedeutet die Urbanisierung einerseits einen möglichen Ausweg aus historisch gewachsenen ländlichen Abhängigkeiten und den Folgen der Agrarkrise. Andererseits entstehen mit den überwiegend informellen Beschäftigungsverhältnissen in der städtischen Ökonomie neue Formen der Ausbeutung und Entfremdung. Dass Kastenzugehörigkeit und Landbesitz sowie die damit verbundenen Urbanisierungserfahrungen nicht a priori bestimmbar sind und auch untere soziale Gruppen in städtischen Transformationsprozessen zu politischer Dominanz und materiellem Wohlstand gelangen können, wird später näher ausgeführt (siehe auch D’Costa/Chakraborty 2017).

Um die spezifische Form der Raumproduktion im AP zu fassen, schlage ich ein relationales Raumverständnis vor. Raum ist dann kein passiver, materieller Container, sondern ein soziales gesellschaftliches Produkt, das gesellschaftliche Verhältnisse ebenso widerspiegelt wie auch reproduziert (Lefebvre 1991). Ein materialistisches Raumverständnis fasst die kapitalistische Raumproduktion einerseits als Strategie zur Verbesserung und Erschließung neuer kapitalistischer Produktions- und Akkumulationsweisen, zum Beispiel über die Bereitstellung von Flächen für private Stadtentwicklungsprojekte. Andererseits sind räumliche Aktivitäten auch Strategien der sozialen Reproduktion, beispielsweise zum Erhalt individueller Subjekte, der Klassenstruktur mit ihren Hierarchien und ideologischen Legitimierungsweisen (Sevilla-Buitrago 2022: 13 f.; vgl. Belina 2013; Castells 1977). Sie dienen also der Sicherstellung einer „kohärenten sozialen Basis“ innerhalb einer kapitalistischen Ordnung, die inhärent destabilisierend und krisenhaft ist (Sevilla-Buitrago 2022: 3, Übers. d. A.). Wie Wendy Brown (2009: 40) schreibt, sichern ökonomische Politiken erst in ihrer Kombination mit Ideologien, Werten und Rationalitäten den Erhalt des neoliberalen Kapitalismus. Urbanisierung ist in diesem Zusammenhang nicht nur ein empirischer Befund. Das Urbane insgesamt dient als analytische Heuristik, um die räumlich vermittelten und lokalisierbaren Aushandlungsprozesse zwischen global-abstrakten Prozessen einerseits und der Alltagswelt andererseits sichtbar zu machen (Lefebvre 2003).

Infolge dieser Überlegungen stellen Landenteignungsgesetze und -politiken keine neutralen oder technischen Instrumente dar. Eingebettet in kapitalistische Verhältnisse, kommen Landenteignungsgesetzen und -politiken mindestens zwei Funktionen zu: erstens die Ermöglichung und Sicherstellung kapitalistischer Produktion und Akkumulation und zweitens die Reproduktion kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse. Die Organisation, Ordnung und Enteignung von Boden kann also nicht unabhängig von Klasseninteressen und Einhegungsversuchen von subalternen Gruppen gedacht werden (vgl. Chatterjee 2008; Sanyal 2014) und ist damit immer Ergebnis historisch-spezifischer Kräfteverhältnisse. So schreibt Stefan Kipfer (2008: 200 ff.) beispielsweise, dass die kapitalistische Raumproduktion zur Konsolidierung staatlicher Macht und kapitalistischer Ausbeutungs- und Verwertungsweisen stets auch subalterne Forderungen und Interessen inkorporiert. Vor diesem Hintergrund verstehe ich den neoliberalen autoritären Urbanismus als eine spezifische Phase kapitalistischer Raumproduktion, die sich von der bürgerlich-demokratischen Form der Konsensherstellung tendenziell durch ihre autoritäre, nationalistische und antidemokratische Ausrichtung unterscheidet. Der neoliberale autoritäre Urbanismus bezeichnet vorläufig eine bestimmte Form der Regulierung, des Designs und der diskursiven Konstruktion von Räumen, welche auf die Durchsetzung, Festigung und Bearbeitung des neoliberalen Projekts jenseits subalterner Zugeständnisse über ein Bündel repressiver, autoritärer und marktbasierter Strategien abzielen sowie mittels nationaler Erzählungen operiert.

Boden- und Enteignungspolitik sind Teil und Voraussetzung des indischen Urbanismus. In meinem Beispiel ordnen LPS den Raum und bereiten ihn für urbane Nutzungen im Kontext von Stadterweiterungsprojekten vor. Enteignung verstehe ich deshalb als eine spezifische urbane Praxis, die nicht nur abstrakte urbane Räume und deren Inwertsetzung überhaupt erst ermöglicht, sondern zugleich die Widersprüche kapitalistischer Raumproduktion mit ihren unterschiedlichen Ansprüchen und Interessen navigiert und dabei eine potenziell regimestabilisierende Funktion einnehmen kann. Enteignung ist entsprechend nicht nur ein politischer Prozess, der Klassenverhältnisse verhandelt, sondern hat eine zutiefst räumliche Dimension (vgl. Sevilla-Buitrago 2015). Innerhalb dieses theoretischen Rahmens analysiere ich im Folgenden den Aufstieg marktbasierter Enteignungsinstrumente unter der BJP.

4. Die Abkehr vom inklusiven Neoliberalismus

Für ein Verständnis der Enteignungspolitik in Indien kommt der Genese und Transformation des Landerwerbsgesetzes eine zentrale Rolle zu. Bis 2014 wurde privater Boden über den sogenannten Land Acquisition Act, 1894 (LAA 1894) enteignet. Das während der Kolonialzeit durch die britische Besatzungsmacht verabschiedete Gesetz schuf die Grundlage für den Bau des Eisenbahnsystems und die Entwicklung militärischer und administrativer Gebiete. Nach Indiens Unabhängigkeit blieb das Landerwerbsgesetz noch bis 2013 unverändert bestehen. Im Folgenden skizziere ich zunächst die Gründe für die Abkehr vom LAA 1894 und die Verabschiedung des Right to Fair Compensation and Transparency in Land Acquisition, Rehabilitation and Resettlement Act, 2013 (LARR Act 2013). Anschließend zeichne ich nach, wie die BJP-geführte Regierung das zweite Landerwerbsgesetz zu kippen versuchte, und infolgedessen marktbasierte Landerwerbsinstrumente eine Stärkung erfuhren.

Unter dem ersten Premierminister Jawaharlal Nehru, nach der Unabhängigkeit 1947, ermöglichte beziehungsweise vereinfachte der LAA 1894 den Bau öffentlicher Dämme und Industriegebiete sowie die Realisierung von Bergbauanlagen für die Kohle- und Stahlförderung. Unter den einst herrschenden planwirtschaftlichen Bedingungen verblieb das enteignete Land in staatlichen Händen (Levien 2018: 33 ff.). Der LAA 1894 war für Nehrus angepriesene industrielle Revolution samt seinem Versprechen, Millionen von Bäuer_innen von den Feldern in die Fabriken zu bringen, unerlässlich. Obwohl Nehru um den hohen Preis seiner Vision wusste, würde der kommende Wohlstand, so die verbreitete Erzählung, den potenziellen Schmerz der Landbevölkerung langfristig rechtfertigen (Sanyal 2014: 152).

Ab den 1980er-Jahren geriet das volkswirtschaftliche Wachstum nicht nur in Indien ins Stocken. Mit der Abkehr des Washington-Konsensus und den vereinten Bestrebungen internationaler Finanzinstitutionen und nationaler Kapitalfraktionen begann der lange Weg der wirtschaftlichen Liberalisierung und marktwirtschaftlichen Öffnung des Landes. Die staatliche Planungshoheit mit ihren inländischen Großbetrieben, Fünfjahresplänen und stark eingegrenzten ausländischen Investitionen wurde zwischen den 1980er- und 2000er-Jahren deutlich verringert und Indiens Wirtschaft wurde entsprechend einer privatkapitalistischen beziehungsweise neoliberalen Wirtschaftsweise umstrukturiert. In dessen Folge erlebten große Teile Indiens eine Öffnung der Märkte, die Deregulierung von ausländischen Direktinvestitionen und eine Aufweichung von Zöllen und anderen Handelsbarrieren sowie die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, Dienstleistungen und Versorgungseinrichtungen. Während einige Städte zu ökonomischen Motoren im globalen neoliberalen Wettlauf um Kapital wurden, sorgte der LAA 1894 zu diesem Zeitpunkt für ausreichend Nachschub an Boden, für Investitionen und Kapitalakkumulation, die sich nunmehr weniger in Industrieprojekten, sondern privaten Stadtentwicklungs- und Infrastrukturprojekten materialisierten. Anders als in den Jahrzehnten davor verblieb das Land nicht beim Staat, sondern wurde an Unternehmen und internationale Investoren weitergereicht. Kurzum, der Staat enteignete im Namen des Kapitals (Levien 2018: 43 ff.).

Unter dem beschönigenden Begriff des „Gemeinwohls“ ließ sich die Landbevölkerung gegen eine geringe monetäre Entschädigung und ohne Maßnahmen zu ihrer Rehabilitierung und Umsiedlung mühelos enteignen, galten zu dieser Zeit doch auch private Entwicklungsprojekte mehrheitlich als im allgemeinen Interesse stehend. Als Überbleibsel kolonialer Herrschaft war der LAA 1894 nicht minder provokant und tatsächlich schon seit Längerem Gegenstand des Unmuts. Proteste von sozialen Bewegungen und Teilen der Agrarbevölkerung und die wachsende Unzufriedenheit mit den Folgen der Neoliberalisierung (bei fehlenden Beschäftigungsmöglichkeiten, sinkenden Einkommen und steigenden Produktionskosten sowie knapperen staatlichen Zuwendungen) seit den 2000er-Jahren mündeten schließlich in einer Gesetzesänderung durch die unter Führung der Kongresspartei regierende United Progressive Alliance (UPA, 2004 bis 2014) (Banerjee 2017; Bhagat-Ganguly 2020). Nach zähen Verhandlungen präsentierte die Mitte-links-Koalition den Right to Fair Compensation and Transparency in Land Acquisition, Rehabilitation and Resettlement Act, 2013 (LARR Act 2013) (D’Costa/Chakraborty 2017; Sampat 2013). Das Gesetz sollte mit seiner Umwelt- und Sozialverträglichkeitsprüfung, Konsensklausel und höheren materiellen Entschädigungszahlungen als Zugeständnis an die Agrarbevölkerung dienen.

Der LARR Act 2013 verkörpert die widersprüchliche Rolle des indischen Staates infolge der ökonomischen Liberalisierung: indem er einerseits seiner liberal-demokratischen Verantwortung als gebender Staat und andererseits den Forderungen der herrschenden Klasse nach einer Vertiefung der kapitalistischen Entwicklung durch marktorientierte Reformen gerecht werden wollte (D’Costa/Chakraborty 2017: 18; Nielsen/Nilsen 2017: 133). Auch mit anderen Sozialgesetzgebungen im Bereich der Arbeitslosen- und Rentenversorgung tat sich die Regierung hervor, ohne jedoch vom vorherrschenden Neoliberalisierungskurs abzukommen. Diese „neue Rechteagenda“ (Ruparelia 2013) richtete sich an jene sozialen Gruppen, die am stärksten unter der neoliberalen Umgarnung des Landes zu leiden hatten. Zeitgleich schloss die Regierung neue Allianzen mit subalternen Gruppen und ihren zentralen Vertreter_innen aus Zivilgesellschaft und Aktivismus, beispielsweise indem sie in den legislativen Prozess einbezogen wurden (Nilsen 2018: 654).

Wenngleich dieser inklusive Neoliberalismus Indiens Wachstum ein menschliches Antlitz („human face“) geben sollte (Das 2013), geriet er mit der Wahl der BJP rasch ins Wanken. Zumindest im Bereich der Bodenpolitik zeigt sich, dass die Regierung Modi von der Politik der materiellen Zugeständnisse und der partiellen Inkorporierung subalterner Forderungen nach Umverteilung und Anerkennung deutlich Abstand nahm (Nielsen/Nilsen 2017). An die Stelle wohlfahrtsstaatlicher Gesetze trat eine autoritäre Politik, welche über die Anrufung subalterner Aspirationen, eine Sprache des Unternehmertums und privatwirtschaftlichen Fortschritts sowie einer hindunationalistischen Rhetorik und Gewalt vor allem gegen die muslimische Bevölkerung und politisch Andersdenkende operiert (ebd.).

Der Ablösung der United Progressive Alliance durch die BJP folgte die Abkehr vom inklusiven Neoliberalismus, welcher Konsens zum neoliberalen Projekt über Sozialreformen und Gesetze für stark marginalisierte Gruppen herstellte und sozioökonomische Ansprüche rechtlich einklagbar machte (Ruckert 2006). Der unter der UPA mühselig ausgehandelte LARR Act 2013 wurde als eine der ersten Maßnahmen noch im Dezember 2014 über eine Verfügung Modis torpediert. Der BJP und den Kapitalfraktionen war besonders die Sozialverträglichkeitsprüfung und Zustimmungsklausel ein Dorn im Auge. Sie mache das neue Gesetz ineffizient (Ramesh/Khan 2015: 128). Die mit Anführer_innen der Bäuer_innenbewegungen ausgehandelten Entschädigungs- und Rehabilisierungsmaßnahmen galten, in anderen Worten, als zu teuer für den Staat und zu langwierig für private Entwickler. Mit der versuchten Rücknahme des Gesetzes nahm die BJP sogar den Widerstand der in der Breite mobilisierten Bevölkerung in Kauf (Jenkins 2017: 322). Der Oberste Gerichtshof verhinderte kurzerhand die angestrebte Gesetzesänderung und erklärte Modis Verfügung für ungültig. Medial wurden Modis Bemühungen zur „größten Peinlichkeit“ seines ersten Regierungsjahrs auserkoren (Mukhopadhyay 2015).

Obwohl Modi den LARR Act 2013 nicht kippen konnte, veränderte sich Indiens Landerwerbspolitik in den Folgejahren drastisch. Modi appellierte an die Bundesstaaten, ihre eigenen rechtlichen Grundlagen zum Landerwerb zu schaffen. Auf keinen Fall dürfte das Gesetz in seiner ursprünglichen Form umgesetzt werden. Der Aufforderung an die Bundesstaaten folgten teilweise bedeutsame Eingriffe in die Grundarchitektur des LARR Act 2013. Beispielsweise strich der BJP-geführte Bundesstaat Gujarat im Jahr 2016 durch seine eigene Gesetzgebung zum Landerwerb die soziale Folgenabschätzung und Zustimmungsklausel. Das ebenfalls BJP-geführte Karnataka präsentierte im Jahr 2019 sein Right to Fair Compensation and Transparency in Land Acquisition, Rehabilitation and Resettlement Karnataka Amendment Bill. Enteignungsmaßnahmen für Militär, Infrastruktur oder Bewässerung bedürfen in diesem Bundesstaat seither ebenfalls keiner sozialen Folgenabschätzung und Zustimmungsklausel mehr (Srivastava/Sethi 2019). Modis Übertragung der Entscheidung über Landerwerb an die Bundesstaaten nennt Rob Jenkins einen strategischen Föderalxismus, der es Bundesstaaten erlaube, unter einem gemeinsamen nationalen Ziel zu handeln und sich gleichzeitig Autonomie im Bereich ihrer Bodenerwerbspolitik zu verschaffen (Jenkins 2018).

Die Auseinandersetzungen um den LARR Act 2013 bringen das Ringen gesellschaftlicher Kräfte um die zukünftige Form neoliberaler Politik in Indien zum Ausdruck. Mit der BJP setzte sich schlussendlich eine „Wachstumskoalition“ durch, unter der sich von rechtlich verbrieften und materiellen Zugeständnissen an die Agrarbevölkerung zugunsten einer Liberalisierung und Dezentralisierung der Bodenpolitik verabschiedet wurde.

5. Die Wiederentdeckung marktbasierter Enteignungsinstrumente

In den Folgejahren kam es zu einer Hinwendung zu sogenannten marktbasierten Landerwerbsinstrumenten auf Landes- und Bundesebene. Mit ihnen entstand eine Alternative zum, wie es von der BJP formuliert wurde, „drakonischen“ LARR Act 2013 (Business Standard 2015). Land und Landenteignung, so auch das internationale Signal der BJP beim Weltwirtschaftsforum in Davos, solle unter keinen Umständen ein Hindernis für Investitionen sein.

Schon viel früher empfahlen internationale Finanzinstitutionen Indien eine Stärkung sogenannter „Town Planning Schemes“ als unabdingliche Alternative zum Landerwerbsgesetz (Jain 2019). Diese wurden unter britischer Herrschaft zur Steuerung der Stadterweiterung implementiert, verloren nach der Unabhängigkeit aber wieder an Bedeutung (Spodek 2013). Town Planning Schemes, auch bekannt als Land Readjustment oder Land Pooling, funktionieren weltweit nach einer ähnlichen Logik (Hong/Needham 2007; Sampat/Sunny 2016): Sie berechtigen Kommunen zum Erwerb von Eigentumsrechten ohne den Gebrauch von unpopulären Enteignungsgesetzen. Anstatt einer finanziellen Entschädigung übertragen die Landbesitzer_innen nur vorübergehend ihre Eigentumsrechte an den Staat. Der Staat verwendet einen Teil des Landes anschließend, um öffentliche Infrastruktur wie Straßen und Freiflächen zu realisieren, und gibt den anderen Teil des Landes – oder ein vergleichbares Stück Land – als bewirtschaftete und umgewandelte Fläche zurück an die ursprünglichen Eigentümer_innen. Diese können dann wählen, ob sie ihr umgewandeltes Land behalten oder es zu einem voraussichtlich höheren Marktwert auf dem freien Markt verkaufen wollen. Das Land hat durch den Nutzungswandel einen Wertzuwachs erfahren, der im Fall eines Verkaufs, so das Versprechen, höher liegt als der reguläre Marktpreis für Agrarland und die üblicherweise gezahlten Entschädigungen.

Obwohl die Teilnahme an LPS freiwillig geschehen soll, sehen Ausnahme­klauseln vor, Landbesitzer_innen bei Nichtteilnahme zu enteignen. Die in der indischen Hauptstadt Delhi im Jahr 2022 verhandelte Land Pooling Policy sieht weiterhin vor, dass bis zu 30 Prozent der Eigentümer_innen innerhalb eines bestimmten Gebiets zur Zusammenlegung ihres Landes rechtlich verpflichtet werden, sobald sich mindestens 70 Prozent der Eigentümer_innen freiwillig an der Maßnahme beteiligen. In Ausnahmefällen wäre auch eine „obligatorische Zusammenlegung von Grundstücken“ ohne Erreichen der Mindestbeteiligungsschwelle möglich (The Indian Express 2022). Land Pooling ist für den Staat günstiger, da er sich die Kompensationszahlungen spart, welche über den spekulativen Marktpreis an die Landeigentümer_innen ausgezahlt wird (vgl. Levien 2011). Bereits 2007 empfahl die Weltbank dem indischen Staat grundlegende Reformen seiner unterentwickelten und verzerrten Landmärkte (Fafchamps et al. 2007), um die anhaltende Abhängigkeit von der Enteignung als vorherrschendes Mittel zum Landerwerb zu überwinden. Ziel war es, „die nächste Phase des indischen Wirtschaftswachstums einzuleiten“ (Bhatia 2021: 3).

Land Pooling Schemes (LPS) reduzieren die Abhängigkeit von Investoren und Entwicklern vom staatlichen LARR Act 2013. Diese Abhängigkeit bestehe, da die Bodenmärkte in Indien aus kapitalistischer Sicht unterentwickelt seien und nicht reibungslos funktionierten (Levien 2018: 49-51). Kopfschmerzen bereiteten Investor_innen und Entwickler_innen die unklaren und unvollständigen Eigentumsverhältnisse und der Mangel an Landtiteln, die regelmäßig zu Konflikten zwischen Investor_innen und Landbesitzer_innen führten. Nicht selten sorgten Landverkäufe zudem für Zerwürfnisse innerhalb der Familien und den Dorfgemeinschaften. Eine gemeinsame Entscheidung zum Landverkauf kann in anderen Fällen wegen unterschiedlicher Interessen der einzelnen Familienmitglieder nicht getroffen werden. Diese und weitere Konflikte gestalten Landkäufe potenziell zu langatmigen Angelegenheiten. Vermeintlich schnelle Investitionen werden für Investor_innen zur Geduldsprobe. Michael Levien (2015: 149) schreibt, dass der „imperfekte“ Bodenmarkt eine Akkumulationshürde für das Kapital darstellt, die vom staatlichen Gewaltmonopol mittels Enteignung aufgefangen wird. Obwohl der Staat die neoliberalen Investitionen in die gebaute Umwelt erst ermöglicht, liegt die Enteignung selbst wegen der Gefahr bäuerlichen Protests und Widerstands sowie finanziellen Unsicherheiten nicht im Interesse des Kapitals.

Das Aufkommen marktbasierter Landerwerbsinstrumente wie die LPS in Indien kann folglich als eine Reaktion auf die sinkende gesellschaftliche Akzeptanz der Landenteignung und die für Kapitalfraktionen prekären Bodentransaktionsbedingungen unter Modi zurückgeführt werden. Es ist keineswegs so, dass LPS aber ausschließlich ein Instrument der BJP-Regierung sind, das sonst nie das Licht der Enteignungswelt erblickt hätte. Gerade auf der Ebene der Bundesstaaten, also der Ebene, auf der Enteignung umgesetzt wird, begrüßten Parteien aus dem gesamten politischen Spektrum die Hinwendung zu LPS. Bisher habe ich den gesellschaftspolitischen Kontext nachgezeichnet, der die wachsende Beliebtheit alternativer Instrumente zur Enteignung von Boden mit begünstigte. In den folgenden zwei Abschnitten werde ich die Logik von LPS und ihre Funktion für Indiens neoliberalen autoritären Urbanismus am Beispiel der Bidadi Smart City in der Metropolregion Bangalore im südindischen Karnataka erläutern und vertiefen. Dieses Fallbeispiel ergänze ich durch kursorische Verweise auf empirische Untersuchungen zu Amaravati, einer geplanten neuen Hauptstadt für den an Karnataka angrenzenden Bundesstaat Andhra Pradesh.

6. Eine Smart City für Bangalore

Im Zuge des massiven Wachstums der Hauptstadt Bangalore im Bundesstaat Karnataka wurden 2006 Pläne für fünf sogenannte „Integrated Townships“ vorgestellt. Die Vision für diese neuen Planstädte entstand unter Premierminister H. D. Kumaraswamy von der Partei Janata Dal (Secular) – einer vor allem in Karnataka aktiven Partei, die aus einer Abspaltung der Janata Party hervorgegangen ist und ihre politische Basis in der Landwirt_innenkaste der Vokkaliga hat, eine in Karnataka dominante Kaste von Landeigentümer_innen. Die fünf Planstädte sollten ein Gegengewicht zu Bangalore bilden, um die wachsende Metropole, die unter großen Verkehrsproblemen leidet, zu entlasten und frisches Kapital in den ländlichen Raum zu bringen. Die Township nahe der südlich von Bangalore gelegenen Stadt Bidadi sollte ursprünglich ein Wissens- und Technologiezentrum werden. N. Sriraman, Commissioner der Bengaluru Metropolitan Region Development Authority (BMRDA), versprach: „Die [Bidadi Township] wurde von Vorhaben in Ländern wie China, Singapur und den USA inspiriert. Von der Größe her ist sie eines der größten Township-Projekte in Indien.“ (Johnson 2006; Übers. d. A.) 29.000 Menschen, vor allem Kleinbäuer_innen, so die anfängliche Schätzung, würden von dieser Entwicklung auf der grünen Wiese betroffen sein und rund 9.179 Hektar Agrarland erworben werden müssen. Die Idee, fünf sektorspezifische Townships zu errichten, wurde jedoch rasch wieder wegen der monosektoralen Ausrichtung verworfen – jene einer Township in Bidadi jedoch nicht: Die BMRDA beschloss, die bisherige Township-Planung zu modifizieren und mittels einer öffentlich-privaten Partnerschaft mit dem Entwickler Delhi Land & Finance (DLF) in eine Smart City umzuwandeln. Mit der nationalen „Smart City Mission“ in Indien, so Christian Eichenmüller, Max Münßinger und Georg Glasze (2021), zielen Smart-City-Projekte auf eine technologische und von den Ideen der Kybernetik inspirierte Moderne (ebd.: 52), deren neue Kommando- und Kontrollzentren nicht nur die Probleme der alten Stadt zu lösen versprechen, sondern neue Akkumulationsmöglichkeiten eröffnen. Die globale Finanzkrise 2008/09 brachte jedoch auch dieses Projekt zum Erliegen, da der Entwickler kurzerhand aus dem Projekt ausstieg. Auch die Ankündigung der auf nationaler Ebene regierenden Kongresspartei im Jahr 2011, das koloniale Landerwerbsgesetz grundlegend zu überarbeiten, ließ die Realisierung der Bidadi Smart City immer unwahrscheinlicher werden. Zu teuer, so die Befürchtung, würde die Landenteignung werden. Für die zu diesem Zeitpunkt in Karnataka regierende BJP war dies ein weiterer Grund, die von der Vorgängerregierung übernommenen Planungen noch zögerlicher voranzutreiben.

Unter Karnatakas Premierminister Siddaramaiah von der Kongress­partei kam es 2015 zu einer grundlegenden Wende: Das Land für die Smart City Bidadi, so der neue Vorschlag, sollte über ein LPS erworben werden. Gleich mehrere Herausforderungen versprach es zu lösen: Erstens versuchte der Bundesstaat Karnataka, wie andere Bundesstaaten auch, mit LPS das neue nationale Landerwerbsgesetz zu umgehen. Zweitens erhofften sich Politik und Planung, die zunehmende Mobilisierung der Agrarbevölkerung in Bidadi gegen die Landerwerbspläne und die geringen Entschädigungszahlungen einzudämmen. Denn obwohl die Entschädigungszahlungen im Rahmen des LARR Act 2013 steigen sollten, entsprachen sie immer noch nicht den Erwartungen und Forderungen der lokalen Landeigentümer_innen in Bidadi, die sich in einer Sangha – einer Selbsthilfegruppe der Agrarbevölkerung – organisiert hatten. Das LPS war für sie wesentlich attraktiver, denn es versprach eine Beteiligung an den massiven Bodenpreissteigerungen in Bangalores Peripherie.

Bisher lässt sich festhalten, dass LPS unabhängig von Partei und politischem Spektrum auf Bundesebene zu einer attraktiven Alternative zum konventionellen Landerwerb geworden sind und dazu dienen, ländliche Mobilisierung gegen Enteignung zu adressieren. Auf das hegemoniefördernde Potenzial von LPS werde ich in den folgenden Abschnitten näher eingehen: Einerseits diskutiere ich, wie LPS die Agrarbevölkerung individualisieren und Gewalt verschleiernt; andererseits, wie LPS von einem Narrativ begleitet werden, das auf eine diskursive Versöhnung von städtischen Kapitalfraktionen und der landbesitzenden Agrarbevölkerung abzielt – die aber aufgrund der starken Differenzierung der Agrarbevölkerung letztlich kaum gelingt beziehungsweise bestehende Polarisierungstendenzen weiter verstärkt.

7. Die Verschleierung gewaltvoller Enteignung durch freiwillige ökonomische Markttransaktionen

Politik, Planung, Wirtschaft, aber auch Nichtregierungsorganisationen und agrarische Lobbygruppen stellten große Erwartungen an LPS. Dazu gehörte die Überzeugung, dass LPS einen effizienten, gerechten und „mehr oder weniger reibungslosen Erwerb“ von Land erlauben würden (Sasi/Iyer 2015; Übers. d. A.). Im Folgenden beschreibe ich, wie LPS das Verhältnis zwischen staatlicher extraökonomischer und ökonomischer Gewalt in der Landenteignung grundlegend neu justieren. Mit Karl Marx ließe sich sagen, dass mit marktbasierten Landerwerbsinstrumenten der „stumme Zwang ökonomischer Verhältnisse“ (für eine Diskussion, siehe Mau 2021) in die Enteignungspolitik Einzug erhält. Anstelle eines regulierenden Staates, der Akkumulationshürden mittels staatlicher Gewalt, ideologischer Rechtfertigungsmuster und monetärer Kompensationszahlungen überwindet und Land von Agrar- an Kapitalgruppen überträgt (vgl. Levien 2018), treten fortan ökonomische Mechanismen in den Vordergrund, mittels derer Agrargruppen selbst für die Enteignung ihres Landes in Verantwortung stehen (sollen).

Deutlich werden die Konsequenzen dieser Neuausrichtung in der Enteignungspolitik über eine begriffliche Annäherung: Enteignung bestimmt allgemein die Trennung von Land oder anderen Formen des Privateigentums von einer Person, ungeachtet deren Willen. Innerhalb kapitalistischer Verhältnisse wandeln sich Funktion und Form der Enteignung beständig: Karl Marx argumentierte, dass die gewaltvolle private Aneignung des Gemeindelandes für industrielle Zwecke ein vorübergehendes Phänomen sei, welches im entwickelten Kapitalismus von der nominalen Freiheit abgelöst würde und schließlich über den „stummen Zwang ökonomischer Verhältnisse“ operiere (Nichols 2021: 250 f.). Diesen Gedanken der sogenannten ursprünglichen Akkumulation konterte David Harvey mit dem Verweis auf die anhaltende Enteignung im neoliberalisierten Kapitalismus als eine Krisenbewältigungsstrategie gegen periodische Überakkumulationskrisen. Noch heute, so Harvey, inkorporiere der Kapitalismus vormals nicht kommodifizierte gesellschaftliche Späher für die Erschließung neuer Märkte, ob mittels Gewalt, Betrug und Raub oder ökonomisch-persuasiver Mittel (Harvey 2005: 139-147). Anders als Marx oder Harvey wendet Michael Levien (2018) Enteignung politisch als ein soziales Verhältnis gewaltvoller Umverteilung zwischen Klassen, welche durch den Staat durchgeführt und ideologisch über das „Gemeinwohl“ oder „Entwicklung“ legitimiert wird.

Folgt man diesen Konzeptionen der Enteignung im Kontext von LPS, benötigt es jedoch eine etwas schärfere Unterscheidung zwischen der ökonomischen und extraökonomischen Sphäre. Marx, Harvey und Levien definieren Enteignung überwiegend über extraökonomische Mittel, auch wenn für sie außer Frage steht, dass auch marktgesteuerte Grundstückstransaktionen auf Gewalt und Zwang beruhen können (vgl. Levien 2018: 241, Fußnote 10). LPS enteignen über die Markttransaktionen als Modus Operandi und verschleiern damit tendenziell Elemente des Zwangs und der Gewalt. LPS setzen sogar gezielt auf die aktive Beteiligung der Landeigentümer_innen, die sogar über soziale und familiäre Netzwerke andere Menschen von einer Teilnahme überzeugen (Upadhya 2020). Mit Hall ließe sich argumentieren, dass die Verschleierung der gewaltvollen Seite von LPS auf einen hegemonialen Alltagsverstand zurückgeht, der Markttransaktionen als „gewöhnliche“, „wirtschaftliche“ Käufe, Pachtverträge oder Verträge deutet. Die politische, rechtliche und zwanghafte Macht, welche die Landbesitzer_innen in diesen Transaktionen durchdringt, bleibe deshalb unbestimmt (Hall 2013: 1594). Michael Webber geht sogar noch weiter: Die Bereitschaft der Landbevölkerung, ihr Land zu verkaufen, kann unter den herrschenden Machtverhältnissen, die zu Armut und Ungleichheit in ländlichen Räumen führen, kaum freiwillig sein (Webber 2008: 396). Landverkäufe sind für die Agrarbevölkerung besonders in periurbanen Kontexten nicht nur eine proaktive Maßnahme, sondern auch Ergebnis steigender Bodenpreise und rückläufiger Einkommen aus der Landwirtschaft (Raman 2016). Die Konsequenzen dieser Hinwendung zu ökonomischen Mitteln verbirgt die Gewalt von Land Pooling. Da auch die reine Androhung von zwanghafter Enteignung als Gewalt gesehen werden kann, muss die Öffnungsklausel in LPS als extraökonomisches Element eingeordnet werden.

Nach der Teilübertragung des zusammengelegten Landes an die Landeigentümer_innen können diese das Land entweder behalten oder an Investoren oder Entwickler zum Marktpreis veräußern. Land Pooling beruht auf der Prämisse, dass dieser Marktpreis für den zurückgegebenen Teil des Landes höher liegt als die Kompensationszahlung einer Enteignungsmaßnahme. Zu welchen Einhegungsformen führt nun dieser Mechanismus und mit welchen Folgen für die Agrarbevölkerung?

Kurz nachdem die ersten Pläne für eine neue Planstadt in Bidadi im Jahr 2006 bekannt wurden, organisierten sich 700 bis 800 Landeigentümer_innen, um gegen den Landerwerb zu mobilisieren. Zu diesem Zeitpunkt galt noch der bereits erwähnte Land Acquisition Act von 1894 mit seinen minimalen Entschädigungszahlungen. Die Selbsthilfegruppe („Sangha“) war insofern besonders, als dass sie Landeigentümer_innen aus unterschiedlichen Kasten (von Brahmanen bis zu den Vokkaligas) zusammenbrachte. Ihr Erfolg bei der Verhinderung von Landerwerb in der frühen Planungsphase beruhte auch auf einer detaillierten Karte des gesamten Planungsgebietes, in der alle Häuser, Felder, Tiere, Pflanzen und Bäume verzeichnet waren. Der hohe Detaillierungsgrad dieser Aufzeichnung wurde durch einen Hubschrauberflug und Filmaufnahmen erreicht. Vor dem Bundesgericht argumentierte der Anwalt der Gruppe erfolgreich, dass die Planung die ökologischen Grundlagen für Viehzucht und Landwirtschaft und damit die Lebensgrundlage der Landeigentümer_innen dauerhaft zerstören würde.

Während in dieser ersten Phase alle Landbesitzer_innen ein geteiltes Interesse hatten, nämlich die Enteignung und den möglichen Verlust des Landes zu verhindern beziehungsweise eine vielversprechende Investition zu tätigen, zerbrach die von einigen Landeigentümer_innen empfundene „Einheit“ wieder. Die Desintegration der bäuerlichen Bevölkerung begann mit der Verkündung des LPS für Bidadi. Land wurde somit zum Versprechen auf städtischen Landbesitz. Je nach Kasten- und Klassenzugehörigkeit sowie Landbesitz änderte sich die Einstellung zur nun geplanten Smart City. Besonders jene Gruppen mit viel Land wurden zu führenden Unterstützer_innen und distanzierten sich von ihrer ursprünglichen Opposition (Balakrishnan 2013). Mit der Aussicht auf LPS standen die Landeigentümer_innen somit nicht mehr vor der Wahl, für oder gegen Enteignungen zu sein. Nach der erfolgreichen Mobilisierung der Sangha änderte sich lediglich die Form der Enteignung. Die Reaktion in Bidadi zeigt somit das teilweise Scheitern der Integrationsversuche durch die LPS und die Herausbildung einer weiteren Polarisierung entlang von Kaste und Landbesitz.

Während der Agrarboden in Bangalore einem Verkaufsstopp unterzogen wurde und die landbesitzende Bevölkerung nun seit einer Dekade auf die tatsächliche Realisierung der Smart City warten muss, lässt sich am Beispiel der Planstadt Amaravati weiterhin verdeutlichen, wie Land Pooling die Agrarbevölkerung an das freie Spiel kapitalistischer Kräfte übergibt und damit die Gewalt der Enteignung über Eigenverantwortung und Entscheidungskraft gänzlich verschleiert. Mit Blick auf den Bundesstaat Andhra Pradesh möchte ich daher vertiefend auf die Entstehung neuer materieller Abhängigkeiten und Verantwortlichkeiten eingehen, die nicht wie in Bangalore vor, sondern nach der Realisierung von LPS entstehen können. Andhra Pradesh war einer der ersten Staaten, der ein Land Pooling Scheme in der jüngeren Vergangenheit implementierte. Nach der Teilung des Bundesstaates im Jahr 2014 wurde in den Folgejahren auf einer Fläche von rund 38.000 Acre (rund 154 km2) Agrarland die neue Landeshauptstadt und bald „größte Stadt Indiens“ Amaravati geplant. Die Weltbank und die Asian Infrastructure Investment Bank präsentierten sich als wichtige Kreditgeber für das auf geschätzt 6 bis 7 Milliarden Dollar teure Projekt. Das Marketing versprach, Amaravati werde vergleichbar mit Singapur und anderen World-Class Cities sein. Doch als sich abzeichnete, dass die Agrarbevölkerung mehrheitlich gegen das Projekt stimmen würde, stieß die Planung rasch an ihre Grenzen. Im Rahmen des LARR Act 2013 hätten 75 Prozent der 100.000 Betroffenen in 25 Dörfern (Zahl aus dem Jahr 2011), beziehungsweise ihrer Vertreter_innen durch die gram sabhas (Dorfräte), für das Projekt respektive den Verkauf ihres fruchtbaren Bodens stimmen müssen. 90 Prozent der Landwirt_innen besaßen zudem nur kleine Parzellen Land, was die Wahrscheinlichkeit noch geringer machte, dass dies geschehen würde.

Um der absehbaren Ablehnung zuvorzukommen, implementierte die Regierung von Andhra Pradesh mit der Capital Region Development Authority (CRDA) ein Land Pooling Scheme. Den Landwirt_innen wurde anschließend versprochen, dass die umgelegten Grundstücke ihnen große Summen einbringen würden, sobald die neue Hauptstadt Gestalt annehme: Sobald private Investoren in Amaravati investierten, würden die erzielten Bodenpreise weitaus höher sein als jegliche monetären Entschädigungen unter dem LARR Act 2013. Im Jahr 2019 allerdings erlitt die Planung eine für die Landeigentümer_innen tragische Wendung. Nachdem bereits die Mehrheit von ihnen ihr Land an die Regierung übertragen hatte und sich baldige Profite versprachen, verlor der ehemalige Chief Minister, Chandrababu Naidu von der Telugu Desam Party, die Wahl gegen Jagan Mohan Reddy von der YSR Kongresspartei. Die neu gewählte Regierungspartei überprüfte die Pläne und beschloss eine radikale Abkehr von allen bisherigen Entwicklungsplänen zur neuen Hauptstadt. Für die Menschen wurde das umgewidmete Land wertlos, da die versprochenen Entwickler_innen nun kein Interesse mehr an einer Investition in Amaravati hatten.

An diesem Beispiel der Planstadt Amaravati lässt sich erkennen, dass LPS Eigentümer_innen zu alleinigen Verantwortlichen ihrer Enteignung machen. Bei Nichteinlösen des spekulativen Versprechens eines prosperierenden Boden- und Real-Estate-Marktes bleibt die Agrarbevölkerung buchstäblich auf ihrem Boden sitzen. Carol Upadhya schreibt diesbezüglich, dass Landbesitzer_innen daher einem stetigen Zocken ausgesetzt sind, „da sie nicht sicher sein können, dass der Markt in der Zukunft die erwarteten Werte erbringen wird“ (2020: 153, Übers. d. A.).

Mit der Ausweitung von Markttransaktionen nimmt die alte Form von Zwang und Gewalt, die normalerweise durch Behörden oder die Polizei repräsentiert wird, eine neue, abstrakte Gestalt an. Die „stummen Zwänge“ erscheinen dann als unpersönlich und weniger greifbar, die Abhängigkeit von ihnen wird individualisiert und im schlimmsten Fall als Schicksal abgetan.

Und so wird die unsichtbare Gewalt nationaler Stadtentwicklungspolitik zum Versprechen städtischen Eigentums und der Teilhabe am neuen urbanen Wohlstand.

8. Eine neue Versöhnungserzählung und die Konstruktion von Bäuer_innen als Partner_innen privater Stadtentwicklung

Land Pooling wandelt Agrarboden in ein spekulatives Investment und Landeigentümer_innen in „Stakeholder“ und „Investoren“ (siehe auch Upadhya 2020). Der folgende Abschnitt argumentiert, dass sich die Anrufung der Landbevölkerung als „Partner_innen“ im Entwicklungsprozess als anschlussfähig für hindunationalistische Imperative des individuellen Einsatzes für und im Namen der Nation erwiesen hat.

Gemeinsam verbreiten Teile der Politik, Zivilgesellschaft und Wissen­schaft die Idee, dass LPS strukturelle Widersprüche und Interessengegensätze zwischen Landeigentümer_innen, dem Staat und Staatentwicklern auflösen können. In Indien geschieht dies beispielsweise durch das US-amerikanische World Resources Institute (WRI), einem wichtigen privaten Think Tank, der die Implementierung von Land Pooling Schemes innerhalb von Kommunen forciert (Mathews et al. 2018). Das WRI ist ein von der Industrie finanziertes Forschungsinstitut, das vom selbsternannten Philanthropen Stephen M. Ross geleitet wird. Kooperierende unternehmensnahe Stiftungen stellen dafür erhebliche Mittel zur Verfügung, darunter Bloomberg Philanthropies, die Caterpillar Foundation, die Children’s Investment Fund Foundation (CIFF), die Citi Foundation, FedEx, Johnson Controls, die Oak Foundation oder die Shell Foundation. Mit Bezug auf Indien argumentieren WRI und andere zivilgesellschaftliche Akteure, dass der LARR Act 2013 einen paternalistischen Staat verkörpere, welcher strukturell gegen die Interessen der Landwirt_innen und der Industrie handele. Aus dieser neoliberalen Staatskritik heraus wird für LPS argumentiert: Denn sie würden es Landeigentümer_innen erlauben, ihre individuellen Preisvorstellungen für ihr Land über Markttransaktionen zu erhalten (ebd.). Diese Argumentationsfigur lässt jedoch außer Acht, dass Landverkäufe nicht ausschließlich ökonomischen Überlegungen folgen, sondern ihnen auch soziale, kulturelle und symbolische Faktoren zugrunde liegend.

LPS werden also mit einem Diskurs verknüpft, der Landbesitzer_innen zu „Partnern am ‚kapitalistischen Wachstum‘“ macht und einen neuen Bund zwischen Bäuer_innen und dem Staat einfordert (Sathe 2016: 54, Übers. d. A.). Ähnlich wird auch im Sammelband von Sanjoy Chakravorty und Amitendu Palit argumentiert: Ein Kompromiss zwischen Landwirt_innen und dem Markt könne nur über marktorientierten Landerwerb erreicht werden. Dieser Kompromiss sei jedoch vielversprechend, da Landeigentümer_innen ihr Land behalten und es in ein geregeltes Einkommen verwandeln könnten. Als „Stakeholder oder Partner_innen“ werden also keine „Landverlierer_innen“ geschaffen – weil schließlich keine Eigentumsverhältnisse geändert würden (Chakravorty/Palit 2019: xxxi). Dieses Argument trifft allerdings nicht auf die Agrarbevölkerung zu, die so zwar kein Eigentum verliert, jedoch ihren Agrarboden und damit auch ihre landwirtschaftliche Lebensgrundlage. Das Centre for Public Policy Research betont ebenfalls, dass der Staat Landbesitzer_innen stärker ermutigen solle, zu „Akteuren des Entwicklungsprojekts zu werden“ – auch um „den Druck in Bezug auf [sie] abzubauen“ und die mit der Landenteignung entstehenden „Konflikte zu befrieden“ (Chiaravalli 2012: 8). In der Tat sind LPS besonders dann attraktiv, wenn Protest und Widerstand gegen die Landenteignung über den LARR Act 2013 gebrochen werden soll.

Die Erzählung von Partnerschaft und Kompromissen im Land­enteignungsprozess fügt sich ein in einen größeren diskursiven Wandel unter der BJP. Im Jahr 2018 verkündete Modi beim World Economic Forum in Davos, dass es „eine Frage des Stolzes sei, dass die größte Demokratie auf Erden auch die am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft“ sei (Business Standard 2019, Übers. d. A.). Modi, der sich in Indien als vikas purush, als Mann der Entwicklung, verkauft, warb gleichermaßen für das neue Motto des Landes: Galt noch unter dem ersten Premierminister Jawaharlal Nehru „unity in diversity“ (Einhalt in Vielfalt) als ideologischer Anker für das nationale Staatenbildungsprojekt, gilt fortan „sabka sath, sabka vikas, sabka vishwas“ (gemeinsam mit allen, Entwicklung für alle, das Vertrauen aller) (Business Standard 2019, Übers. d. A.). Dieses neue Mantra stellt die Entwicklung des Landes und die Stärke des Kollektivs nun in Abhängigkeit vom Streben jedes Einzelnen.

Im Jahr 2016 hielt Modi im Rahmen eines neuen Förderprogramms zur wirtschaftlichen und infrastrukturellen Entwicklung von Dörfern eine Begrüßungsrede. Die sogenannte Shyama Prasad Mukherji Rurban Mission (SPMRM), so versprach Modi, soll „das Wesen des ländlichen Gemeinschaftslebens bewahren und pflegen, wobei der Schwerpunkt auf Gleichberechtigung und Integration liegt“ (Ministry of Rural Development o. J., Übers. d. A.). Die „Rurban Mission“, so ließe sich Modis Anspruch deuten, möchte Stadt und Dorf respektive städtische Verwertungsinteressen und ländliche Abhängigkeiten von Agrarland miteinander versöhnen — eine Voraussetzung für Indiens zukünftige ökonomische Entwicklung. Galt Modi noch als „Antifarmer“ während seiner Agrar- und Bodenreformversuche, beschwört er zunehmend eine nationale Einheit über eine Anrufung der Agrarbevölkerung. Das Ländliche soll darin nicht länger als rückständig überwunden, sondern als eigenständiger Bestandteil des urbanen Kapitalismus inkorporiert werden: So sagte Modi beispielsweise weiter, die nationale ökonomische Entwicklung solle dergleichen aussehen, dass „ihre Seele in den Dörfern und die Städte ihr Körper“ sei (The Open Magazine 2016, Übers. d. A.). Unter der BJP werden weder Stadt-Dorf-Gegensätze überwunden noch Differenzen markiert – anders als in der Diskussion um die Position der Stadt und des Dorfes im modernen Indien während des Staatenbildungsprozesses (vgl. Jodhka 2002). Vor diesem Hintergrund deute ich LPS auch als einen Versuch der BJP, strukturelle Widersprüche zwischen städtischen Kapitalfraktionen und der Agrarbevölkerung über ein Versöhnungsnarrativ aufzufangen und unkenntlich zu machen. Aus einer hegemonietheoretischen Perspektive verschleiert die Legitimierung von Land Pooling als ein „win-win-outcome“ (Chiaravalli 2012: 8) jene kapitalistischen Machverhältnisse, die überhaupt erst zur Enteignung von Agrarboden in ländlichen Räumen führen. Ebenso suggeriert sie eine Ebenbürtigkeit zwischen Landeigentümer_innen und Kapitalfraktionen. Obwohl die Idee der Partnerschaft zwischen Bäuer_innen, Investoren und dem Staat eher klassischen neoliberalen Erzählungen gleicht, entwickelt sie sich unter autoritären Vorzeichen tendenziell zu einem (partnerschaftlichen) Einstehen für die Nation, das zur individuellen und kollektiven Pflicht wird. Nicht „die Wirtschaft“ oder „das Allgemeinwohl“ sind hier die Orientierungspunkte, sondern „die Nation“.

Diese Partnerschaftserzählung muss, wie die empirischen Beispiele aufzeigen, letztendlich scheitern und bewirkt potenziell das genaue Gegenteil. Während die Anwendung des Landenteignungsgesetzes in Bangalore zunächst die unterschiedlichen Interessen der Landeigentümer_innen kanalisierte und die Artikulation von Protest über Kasten- und Klassenzugehörigkeit und Landbesitz hinaus begünstigte, wirkten LPS schlussendlich individualisierend und warfen Landeigentümer_innen auf ihre materielle gesellschaftliche Stellung zurück. Es bleiben also die materiellen Zwänge oder die Aussichten auf materiellen Gewinn, welche über eine Liaison zwischen Landeigentümer_innen und städtischen Kapitalgruppen entscheiden. Somit entfaltet die Partnerschaftserzählung letztlich nur eine potenziell diskursive Wirkmächtigkeit. Im Fall der neuen Hauptstadt Amaravati zeigte sich außerdem, dass die Erzählung spätestens dann zu bröckeln beginnt, sobald der Markt seiner zugewiesenen Aufgabe – den vorausgesagten Bodenpreis zu zahlen – nicht nachkommt und das Partnerschaftsversprechen einseitig aufkündigt. Insgesamt aber ist die Partnerschaftserklärung überhaupt zum Scheitern verurteilt, da LPS unter gegenwärtigen Bedingungen zu keiner „echten“ und damit einer langfristig materiellen Inkorporierung und Verbesserung der Lebensverhältnisse der Landbevölkerung führen können.

9. Fazit: die passive Inkorporierung der ländlichen Bevölkerung

Dieser Artikel analysierte die zunehmende Implementierung sogenannter Land Pooling Schemes in Indien. Als gesellschaftliches Produkt stellte ich LPS in den Kontext ihrer historischen Genese, hegemoniefördernden Funktion und ideologischen Legitimation. Im Zuge globaler Neoliberalisierung wuchs die Popularität marktbasierter Enteignungsinstrumente als Alternative zu Landerwerbsgesetzen. Im indischen Kontext fusionierte Land Pooling mit einem autoritär-populistischen und hindunationalistischen Projekt, durch das es ideologisch und politisch angereichert wurde.

Ich argumentiere, dass Land Pooling Schemes Bestandteil eines sich herausbildenden neoliberalen autoritären Urbanismus sind: Landenteignungen basieren im neoliberalen autoritären Urbanismus nicht mehr auf Konzessionen oder extraökonomischen Mitteln: Es ist gerade die Abkehr von Zugeständnissen und die Verschleierung der Enteignung über ökonomische Mittel, welche LPS anschlussfähig und zum prädestinierten Instrument eines neoliberalen autoritären Urbanismus macht. Hinsichtlich der Bodenpolitik zeichnet sich also eine Abkehr von materiellen und rechtlichen Zugeständnissen sowie demokratischen Verfahrensweisen zugunsten einer Verlagerung der Enteignung auf ökonomische Zwänge und Legitimation über versöhnliche Erzählungen von Partnerschaft. Konsensbildung durch LPS, so das zentrale Argument, funktioniert über die Ausweitung von Zwang, der einerseits aus der Vertiefung ökonomischer Verhältnisse und andererseits aus einer nicht einlösbaren Partnerschaftserzählung besteht.

Was sich als höchst anschlussfähig für einen neoliberalen autoritären Urbanismus erweist, ist also die besondere Form der Inkorporierung subalterner Agrargruppen zur Ausweitung und Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse: Diese besteht nicht länger aus Konzessionen wie grundlegender sozialer Rechte für enteignete Landeigentümer*innen, sondern aus einer versöhnlichen Anrufung der Agrarbevölkerung als Unterstützung für die nationale Entwicklung. Anders als Aysegul Can und Hugo Fanton (2022: 78) verwies ich auf die Zunahme – und nicht die Ablösung – ökonomischen Zwangs im neoliberalen autoritären Urbanismus zur Vertiefung von Marktinteressen und Schwächung demokratischer Mechanismen. LPS sind keine Erfindung der BJP, sondern werden auch von anderen Parteien befürwortet. Insbesondere die Bundesstaaten begrüßen LPS, da sie es sind, die das neu formulierte und wesentlich zeit- und kostenintensivere Landerwerbsgesetz der Vorgängerregierung umsetzen müssen. LPS wurden somit zu einem nützlichen Instrument, um Modis Abbau sozialer Rechte beim Landerwerb und die Ausweitung von Marktmechanismen für die Agrarbevölkerung schmackhaft zu machen.

Besonders hinsichtlich ihrer Form der Konsensformierung stehen LPS im starken Kontrast zu Landenteignungsgesetzen, da Letztere eine temporäre Zustimmung der Agrarbevölkerung im Moment ihrer Enteignung beabsichtigen. Wird diese Zustimmung abgelehnt, setzt der Staat extraökonomische Mittel ein. LPS hingegen zielen auf einen dauerhaften gesellschaftlichen Konsens, indem die Agrarbevölkerung an die kapitalistische Spekulations- und Verwertungsweise des Bodens materiell gebunden wird. Über LPS entwickelt die Agrarbevölkerung damit echte materielle Interessen an der kapitalistischen Stadtentwicklung. Auf ideologischer Ebene wird die Agrarbevölkerung über eine Anrufung als Partnerin der urbanen Kapitalfraktionen versöhnt. Aus diesem Grund haben LPS tendenziell eine hegemoniereproduzierende Funktion.

Was sind die möglichen Konsequenzen dieser politischen Neu­ausrichtung der Bodenpolitik für die Agrarbevölkerung? Die Agrar­bevölkerung wird als „Marktteilnehmende“ individualisiert und den Launen des spekulativen kapitalistischen Bodenmarktes sowie auch politischen Wandlungen (siehe den Fall Amaravati) ausgesetzt. Als „Partner_innen“ und „Investor_innen“ im Verwertungsprozess sind Landeigentümer_innern ferner nicht länger Betroffene mit einklagbaren Rechten. Die Verschiebung der Landenteignung vom staatlichen hin zum ökonomischen Zwang lässt die Enteignung nicht nur weniger bedrohlich, sondern im Zweifelsfall auch gerecht und fair erscheinen. Landenteignung, in anderen Worten, kleidet sich im Gewand einer alltäglichen Transaktion zwischen gleichen Marktteilnehmenden. Zuletzt sind LPS höchst selektiv, da sie ausschließlich landbesitzende Agrarbevölkerungsteile adressiert. Zusammengenommen könnte mit der Hinwendung zu marktbasierten Enteignungsmechanismen zukünftige Mobilisierung erschwert und die ohnehin heterogene Agrarbevölkerung weiter gespalten werden. Die Anrufung der Landeigentümer_innen als Partner_innen, und nicht länger Entschädigte, sowie ihre materielle Einbindung und Abhängigkeit vom spekulativen Bodenmarkt kann mit Henri Lefebvre abschließend als Strategie der „Integration mit Desintegration“ beschrieben werden, welche die Agrarbevölkerung als soziale Gruppe auflöst und gleichsam in die urbanen kapitalistischen Verhältnisse einbezieht (Lefebvre 1972: 112). Der autoritäre Gehalt der in diesem Aufsatz analysierten bodenpolitischen Wende liegt nicht in der Vertiefung der normalen Funktionsweise marktbasierter Stadtentwicklungspolitik. Erst vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Agrarkrise, Zerstörung von Existenzgrundlagen und fehlenden nicht landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeiten wird deutlich, dass LPS zwar Teile der Agrarbevölkerung von den Bodenwertsteigerungen profitieren lassen und in ein städtisches Regime integrieren, letztlich aber die Gewalt und die neuen Abhängigkeiten, die dieses voraussetzt und erschafft, ausblendet. LPS lassen sich damit als autoritäre Antwort auf neoliberale Krisenphänomene beschreiben, in denen ökonomische Zugeständnisse und die Vertiefung von Marktlogiken nun noch vehementer mit ökonomischem Zwang gepanzert werden.

Die Bodenpolitik in Indien ist untrennbar mit der Agrarpolitik verbunden und hat ebenso großen Einfluss auf das Leben der ländlichen Bevölkerung. Die in diesem Artikel diskutierte Enteignungspolitik muss daher auch vor dem Hintergrund des gescheiterten Versuchs der Modi-Regierung im Jahr 2020 – dem Beginn der Covid-19-Pandemie mit seinen dramatischen sozialen und ökonomischen Folgen – ein Bündel an Agrargesetzen zu verabschieden, betrachtet werden. Die sonst garantierten Festpreise für Agrarprodukte in den staatlich regulierten und selbstverwalteten Märkten (mandis) sollten, so Modis Vorhaben, durch eine marktbasierte Preisbildung ersetzt werden. Gegen diese Deregulierung, die die Landwirt_innen den globalen Marktgesetzen und der freien Preisbildung auszuliefern drohte, mobilisierte eine breite Allianz trotz brutaler Repression und Anfeindungen erfolgreich. Modi sah sich schließlich gezwungen, das Vorhaben zurückzunehmen, nicht ohne jedoch darauf hinzuweisen, dass die Bäuer_innen die mit der Reform verbundenen Chancen auf höhere Einkommen nicht erkannt hätten und eigentlich eine „antinationale“ Agenda verfolgten (Philipose 2020). Der Protest mehrerer Hunderttausend Landwirt_innen und ihr Marsch in die Hauptstadt Delhi schlugen zu Beginn der Covid-19-Pandemie nicht nur weltweit hohe Wellen, sondern wurden auch als erstes Anzeichen für eine Schwächung des autoritären und neoliberalen Kurses Modis gewertet (Eschmann 2020). Während die Agrargesetze scheiterten, weil sie für alle Landwirt_innen gleichermaßen zur Gefahr wurden, und dafür sogar bestehende Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse innerhalb der Agrarbevölkerung entlang von Klasse, Kaste, Ethnie und Geschlecht für ein gemeinsames Ziel kurzzeitig in den Hintergrund traten (Lerche 2021), scheint die Enteignungspolitik, wie sie dieser Artikel analysierte, seinen Weg durch die politische Hintertür in den ländlichen Raum zu nehmen. Wenn jährlich zunehmend mehr Bundesstaaten und Stadtverwaltungen LPS verabschieden, wie jüngst die Hauptstadt Delhi, wird Enteignungspolitik immer mehr zu lokalen Aushandlungsprozessen zwischen Staat, Kapital und den heterogenen Interessen der Landbesitzer_innen. Die äußere Form der Landenteignungspolitik darf jedoch nicht über die gewaltsame Art und Weise hinwegtäuschen, mit der Menschen nicht nur ihrer Lebensgrundlagen und Produktionsmittel beraubt, sondern auch unfreiwillig an eine wenig erfolgversprechende Entwicklungsagenda gebunden werden sollen.