sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(1/2), 311-317

doi.org/10.36900/suburban.v11i1/2.883

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CC BY-SA 4.0

Debatte zu: Yannick Ecker, Tatiana López, Nicolas Schlitz: „Wichtiger denn je!“

Kommentare von: Moritz Altenried, Bettina Engels, Stefanie Hürtgen, Karin Schwiter

Labour Geographies im Dialog mit kritischer Stadtforschung

Kommentar zu Yannick Ecker, Tatiana López und Nicolas Schlitz „Wichtiger denn je! Ein Plädoyer für eine intensivere Auseinandersetzung mit Arbeit in der kritischen Stadtforschung“

Karin Schwiter

Veränderungen von Arbeitsorten, Arbeitsinhalten, Arbeitsweisen und der sozialen Reproduktion von Arbeitskräften bildeten schon immer zentrale Interessen der Stadtforschung. Yannick Ecker, Tatiana López und Nicolas Schlitz (2023) schlagen vor, die kritische Stadtgeographie noch enger mit Ansätzen der Labour Geographies zusammenzuführen und in Dialog zu bringen. Sie plädieren dabei für eine verstärkt Herod’sche Perspektive auf Arbeit in der kritischen Stadtgeographie. Im Gegensatz zu polit-ökonomisch orientierten Analysen der geographies of labour, die sich primär dafür interessieren wie Kapital und staatliches Handeln Arbeit strukturieren, rücken die Labour Geographies nach Andrew Herod (1997) das Handeln der Arbeiter_innen ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Diese Arbeiter_innengeographien, so die deutsche Bezeichnung von Ecker/López/Schlitz (2023), heben Arbeitende als treibende Kräfte der Produktion und Transformation (städtischer) Räume sowie (stadt- und) gesellschaftspolitischer Kämpfe hervor.

Das Plädoyer von Ecker/López/Schlitz (2023) zeigt überzeugend und inspirierend vielfältige Fragen, neue Blickwinkel und zusätzliche Erkenntnisse auf, die eine kritische Stadtforschung durch den expliziteren Einbezug einer Labour-Geographies-Perspektive gewinnen kann. Ein solcher Dialog zwischen Subdisziplinen ist dann besonders wertvoll, wenn er beiden Seiten neue Denkanstöße liefern kann. Deshalb möchte ich aufbauend auf den Überlegungen von Ecker/López/Schlitz (2023) und ergänzend zu deren Debattenbeitrag reflektieren, was die Labour Geographies in umgekehrter Richtung von einem vertieften Dialog mit der kritischen Stadtforschung gewinnen können.

Dabei vertiefe ich Eckers, López’ und Schlitz’ Fo rderung nach einem erweiterten Blick auf Arbeitskräfte, der über deren Handlungen in Arbeitskontexten hinausgeht. Ich argumentiere, dass Eckers, López’ und Schlitz’ Diagnose einer zunehmenden Verschränkung von arbeits- und stadtpolitischen Protesten auch den Blick der Labour Geographies für Proteste jenseits von Arbeitskämpfen im engsten Sinne und für sich verändernde urbane Raumaneignungen als Ermöglichungsräume für Mobilisierungen schärfen kann. Der Schweizer Frauen*Streik dient mir als Beispiel einer solchen Verschränkung. Er illustriert, wie stadt- und arbeitspolitische sowie feministische Mobilisierungen miteinander verschmelzen und darin Arbeitskämpfe ausgetragen werden.

1. Arbeiter_innen ganzheitlich als Menschen betrachten

Herods Forderung, die Handlungen von Arbeiter_innen ins Zentrum zu stellen, hat der Forschung zu Arbeit wertvolle neue Perspektiven eröffnet (Peck 2018). Sie löste eine intensive und andauernde Debatte darüber aus, wie die Agency von Arbeiter_innen theoretisch konzeptualisiert und praktisch wirkmächtig werden kann (Strauss 2018). Insbesondere feministische Geograph_innen üben dabei immer wieder auch Kritik an einem vergleichsweise engen Blick von Teilen der Labour Geographies auf das Handeln von Arbeitenden in deren Arbeitskontexten. Sie problematisieren die konzeptionelle Trennung zwischen sogenannten produktiven und sogenannten reproduktiven Tätigkeiten und zeigen auf, inwiefern diese immer schon miteinander verschränkt waren (Schilliger 2022). Zudem fordern sie Perspektiven auf Arbeit, die nicht vor den Fabriktoren und Bürotüren halt machen, sondern Arbeiter_innen ganzheitlich als Menschen verstehen, die in vielfältige Netzwerke, Abhängigkeiten und Verantwortlichkeiten eingebunden sind, die weit über den Kontext von Lohnarbeit hinausgehen (Fraeser/Schuster/Vogelpohl 2021). Die Forderung nach einem breiteren Verständnis von Arbeiter_innen und ihrem Handeln ist in den Labour Geographies verbreitet (Castree 2007; Coe/Jordhus-Lier 2011; Buckley 2018; Raj-Reichert 2022). In einem Rückblick auf die „missing links in Labour Geographies“ resümiert Herod (2016: 24) selbst: „aspects of workers’ lives other than their worklife tend to have been neglected. Thus, how do workers, as workers, shape not only the spaces within which they work […] but, also, the non-work spaces which facilitate their own self-reproduction?”

Genau an diesem Punkt scheinen mir die Perspektiven der kritischen Stadtgeographie für die Labour Geographies besonders fruchtbar zu sein. Wie auch Ecker/López/Schlitz (2023) hervorheben, müssen für ein Verständnis von Prekarisierungs- und Organisierungsprozessen stets die Lebenszusammenhänge der beteiligten Personen in den Blick genommen werden. So bestimmen unter anderem prekäre Wohnsituationen und stadträumliche Verdrängungs- oder auch Vernetzungs- und Mobilisierungsprozesse das Handlungsvermögen von Menschen in Bezug auf die Bedingungen ihrer Lohnarbeit mit.

2. Die Stadt als Ermöglichungsraum für Mobilisierungen von Arbeiter_innen

Ein bedeutsamer Treiber für aktuelle Veränderungen ist hierbei die Digitalisierung. Mit der Verbreitung digitaler Technologien steigt der Anteil an Arbeiter_innen, deren Alltag nicht mehr durch eine regelmässige Kopräsenz mit denselben Arbeitskolleg_innen am selben Arbeitsort geprägt ist. Selbstverständlich war diese Kopräsenz nie für alle Arbeitenden Realität (Islam 2022). Was beispielsweise für Care-Arbeiter_innen in Privathaushalten schon immer der Fall war (Nakano Glenn 2010), trifft nun jedoch auch auf eine wachsende Zahl von Crowdarbeitenden (Wallis 2021) sowie auf viele weitere Arbeitende im Dienstleistungssektor zu (Richardson 2022).

In den Labour Geographies wird diese Vereinzelung primär als eine zusätzliche Herausforderung für die Organisierung diskutiert (u. a. Tassinari/Maccarrone 2020). Aus der Perspektive der Stadtforschung gerät die Bedeutung öffentlicher urbaner Räume als Interaktionsorten von Arbeiter_innen verstärkt in den Blick. Parkbänke und Straßencafés sind die neuen Arbeitsplätze der Laptop-Nomad_innen. Ghost kitchens und dark stores fungieren als Treffpunkte wartender Lieferdienstfahrer_innen (Ecker/Strüver 2023). Und nach einem Tag im Homeoffice steigt bei vielen Arbeitenden das Bedürfnis, die eigene Wohnung zu verlassen. Das durch diese neuen Arbeits- und Erholungspraktiken veränderte Erleben der Stadt kann einerseits dazu beitragen, dass Arbeiter_innen vermehrt stadtpolitische Veränderungen einfordern. Andererseits bietet es neue Möglichkeiten für Interaktionen und Mobilisierungen jenseits der Fabrik oder des Büros (ebd.).

Ein gutes Beispiel hierfür ist Sarah Schilligers (2022) Analyse des „Aufstands aus der Küche”, in dem Aktivist_innen während der Coronapandemie angesichts geschlossener Kitas die Unvereinbarkeit ihrer Erwerbsarbeit im Homeoffice mit gleichzeitiger Kinderbetreuung anprangerten. Sie forderten eine „caring city”, also eine „Ausgestaltung städtischer Räume, Politiken und Institutionen, die sich sorgen” und damit sowohl Care- als auch Erwerbsarbeit ermöglichen (ebd.: 175). Der öffentliche Stadtraum ist dabei gleichzeitig ein Ermöglichungsraum für Mobilisierungen und wird selbst transformiert. So beispielweise, wenn auf Kinderspielplätzen aufgrund nicht verfügbarer öffentlich finanzierter Infrastrukturen selbstorganisierte Kinderbetreuungsgruppen entstehen oder wenn eine Suppenküche auf einem öffentlichen Platz Mahlzeiten ausgibt. Neben solcher Ad-hoc-„Infrastruktur von unten” (ebd.: 176), die Arbeiter_innen erst ermöglicht, ihrer Lohnarbeit nachzugehen, dienen auch symbolische Raumaneignungen, etwa in Form von Aufklebern an Laternenpfählen und Buswartehäuschen, als Visualisierungen von Protest (Awcock 2021). So unterstützten Balkonfahnen und -plakate mit dem Slogan „Klatschen reicht nicht” im Nachgang der Pandemie die Forderungen von Pflegearbeiter_innen nach besseren Arbeitsbedingungen.

3. Verschränkung von Stadt- und Arbeitsprotesten

All diese Beispiele sollen den Mehrwert verdeutlichen, den ein vertiefter Dialog zwischen Labour Geographies und kritischer Stadtforschung aus meiner Sicht generieren kann: Er macht die enge Verzahnung von Forderungen nach verbesserten Arbeitsbedingungen in der Lohnarbeit mit Forderungen nach Verbesserungen der städtischen Infrastruktur sichtbar. Ecker/López/Schlitz (2023) argumentieren, dass sich diese Allianzbildungen zwischen stadtpolitischen Kämpfen und Arbeitskämpfen verstärken. Mir scheint dies nicht zuletzt am Beispiel jüngster feministischer Streiks deutlich zu werden.

In der Schweiz – einem Land mit knapp 9 Millionen Einwohnenden – gingen beim Frauen*streik vom 14. Juni 2019 eine halbe Million Menschen in Schweizer Städten auf die Straße. Es handelte sich damit um den größten Streik in der jüngeren schweizerischen Geschichte nach dem Landesstreik von 1918 (SRF 2019). Zu den Hauptforderungen der Streikenden zählten die Lohngleichheit und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (ebd.). Besonders bedeutsam scheint mir hierbei die gelungene Bildung einer Allianz zwischen Müttern auf der einen Seite sowie Kita-Mitarbeiterinnen und Kindergartenlehrerinnen auf der anderen Seite. So vereinte beispielsweise die Berner Kinderwagendemo – bei der als Teil des Frauen*streiks über 5.000 Frauen mit Kinderwägen durch die Berner Altstadt zogen – die Forderung nach öffentlich finanzierter Kinderbetreuung mit der Forderung nach höheren Löhnen für Kita-Mitarbeitende (EKdM 2020). Die Demo forderte folglich als Stadtprotest bessere städtische Infrastrukturen und als Arbeitsprotest bessere Bedingungen in den feminisierten Care-Berufen.

Der Streik hat in vielen Politikfeldern Reformen angestoßen oder beschleunigt. Im Bereich der Kinderbetreuung rief beispielsweise die Stadt Zürich einen „Kita-Dialog“ mit Gewerkschaften und Kitabetreibenden ins Leben. Als Folge dieses Dialogs beschloss sie, höhere Subventionen für Kitaplätze mit Lohnerhöhungen für Kitamitarbeitende zu verknüpfen (Stadt Zürich 2022).

4. Fazit: Perspektiven für die Labour Geographies

Bereits 2011 diagnostizieren Neil Coe und David Jordhus-Lier: „If there is one thing that the embryonic fourth stage of labour geography has revealed, it is the porous boundaries between unionism and community politics, between struggles in and beyond the workplace.” (ebd.: 24; Hervorhebung im Original). Wie viele andere Stimmen in den Labour Geographies plädiert auch Michelle Buckley (2018) dafür, die Einschränkungen einer engen Perspektive auf Arbeit zu überwinden und den Verschränkungen „between different livelihood and survival struggles in cities” mehr Beachtung zu schenken. Insofern kann ein engerer Dialog mit der kritischen Stadtforschung Proteste jenseits von Fabriktoren und Bürogebäuden in den Blick bringen. Sie standen bisher weniger im Fokus der Labour Geographies, können jedoch treibende Kräfte für Veränderungen von Arbeitsverhältnissen sein. Beide Subdisziplinen vereint das Ziel, die Ermöglichungsbedingungen solcher Allianzen, Koalitionen oder Bündnisse besser zu verstehen (Lier 2007; Mayer 2013; Vollmer 2013). Aus Sicht der Labour Geographies rückt der Dialog Bewegungen in den Blick, in denen Arbeitskämpfe nicht zwingend an vorderster Front stehen und die auch nicht ausschließlich von betroffenen Arbeitskräften getragen werden, in denen sich aber breitere Allianzen von Arbeiter_innen und urbane Bewegungen solidarisieren.