sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(1/2), 283-287

doi.org/10.36900/suburban.v11i1/2.887

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Debatte zu: Yannick Ecker, Tatiana López, Nicolas Schlitz: „Wichtiger denn je!“

Kommentare von: Moritz Altenried, Bettina Engels, Stefanie Hürtgen, Karin Schwiter

So wichtig wie immer und überall

Kommentar zu Yannick Ecker, Tatiana López und Nicolas Schlitz „Wichtiger denn je! Ein Plädoyer für eine intensivere Auseinandersetzung mit Arbeit in der kritischen Stadtforschung“

Bettina Engels

Arbeit ist wichtig (so wichtig wie immer) für Stadt, Stadt ist wichtig für Arbeit: Das ist so zutreffend wie allgemein, und dasselbe ließe sich auch für „Land“ behaupten. Trotzdem oder gerade deshalb ist das Anliegen gut und richtig, Arbeiter:innen, Arbeitskämpfe und Arbeiter:innenorganisationen in den Fokus der kritischen Stadtforschung zu rücken – einem Forschungsfeld, in dem soziale Bewegungen wissenschaftlich und politisch eine zentrale Rolle einnehmen, Gewerkschaften und andere Arbeiter:innenorganisationen bislang aber weniger.

In diesem Kommentar zum Debattenaufschlag von Yannick Ecker, Tatiana López und Nicolas Schlitz möchte ich Skepsis an der von den Autor:innen diagnostizierten „zunehmenden Verbindung von betrieblichen und städtischen Konflikten“ (2023: 267) äußern und daran anschließend den Vorschlag machen, in der geforderten „Auseinandersetzung mit Arbeit in der kritischen Stadtforschung“ (auch) eine globale Perspektive einzunehmen. Für mich stellt sich zunächst die Frage, woran die „zunehmende Verbindung von betrieblichen und städtischen Konflikten“ festgemacht wird. Die erfolgreiche Mobilisierung und der Arbeitskampf bei Vivantes und der Charité in Berlin haben wichtige Verbesserungen in den Arbeitsbedingungen und insbesondere der Entlohnung der dortigen Tarifbeschäftigten erreicht. Aber was ist das Städtische oder Stadtpolitische an diesen Arbeitskämpfen? Aus meiner Sicht stellen sie eher Beispiele für die Erneuerung der Gewerkschaften dar, wie sie in den Labour Revitalization Studies seit den 2000er-Jahren diskutiert wird (z. B. Brinkmann et al. 2008). In der Streikbewegung des Lieferdienstes Gorillas 2021 in Berlin hat sich ver.di wenig kämpferisch gezeigt und sich gegen den „wilden“ Streik positioniert; unterstützend aktiv war in diesem Fall hingegen die FAU (Kühn 2021; Scholz 2021). In diesem Licht scheinen die „Beweglichkeit und Kampfbereitschaft etablierter [DGB-]Gewerkschaften“ (Ecker/López/Schlitz 2023: 275) hierzulande doch eher langsam zu wachsen.

Defizite in der öffentlichen Daseinsvorsorge, prekäre Beschäftigungs­verhältnisse und Verdrängungsprozesse sind zentrale Probleme, die aktuell praktisch weltweit zu beobachten sind – nicht nur in den Städten, aber vielleicht besonders dort. Aber treffen sie deshalb „im urbanen Raum […] aufeinander“ (ebd.: 265) oder verlaufen sie dort parallel? Sind die Akteure bei den Protesten gegen Verdrängung dieselben, die maßgeblich von prekärer Arbeit und defizitärer öffentlicher Daseinsvorsorge betroffen sind? Das rote Wien ist das historische Paradebeispiel für sozialdemokratische Kommunal- und insbesondere Wohnungsbaupolitik. Gegenwärtig allerdings werden städtische Projekte und Politiken gegen Gentrifizierung und für eine stärker kommunitäre statt kommerzielle Nutzung von Orten, Gebäuden und Infrastrukturen eher von Bündnissen aus Basisinitiativen, sozialen Bewegungen und NGOs, Studierenden, Links-Alternativen, Künstler:innen, Queer- und Klimaaktivist:innen erstritten als von Arbeiter:innen und ihren Organisationen. Letztere scheinen mir in den entsprechenden stadtpolitischen Bündnissen in Städten wie Berlin und Barcelona eher unterrepräsentiert zu sein, und städtische sowie Arbeitskonflikte gerade nicht miteinander verknüpft. In medial sichtbaren und vergleichsweise erfolgreichen Initiativen wie „100% Tempelhofer Feld“, „Mediaspree versenken“, dem „Volksentscheid Berlin autofrei“ und „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ erscheinen Arbeiter:innen und Arbeitskämpfe eher unterrepräsentiert (wobei mir allerdings keine systematischen Studien zur sozialen bzw. Klassenzusammensetzung dieser Initiativen bekannt sind). Auch in der Hypothese, dass in „links-grüne[n] Koalitionen“ und „Parteiprojekte[n]“ „eine erneuerte organisierte Arbeiter_innenklasse“ (ebd.: 272) aufgeht, ist vielleicht etwas Wunschdenken enthalten.

In der Beobachtung der „zunehmenden Verbindung von betrieblichen und städtischen Konflikten“ (ebd.: 267) drückt sich zudem aus, dass der Arbeitsbegriff letztlich doch auf formalisierte Lohnarbeit zugespitzt wird – denn zumindest in den Kontexten, auf die sich die Autor:innen implizit beziehen, nämlich Städte in Europa und Nordamerika, findet in Betrieben ganz überwiegend formalisierte Lohnarbeit (was nicht notwendigerweise gesicherte und dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse meint) statt. Lohnarbeit stellt jedoch auch im Kapitalismus nur eine von vielen Formen von Arbeit dar, und die Analyse von Arbeit, Arbeiter:innen und Arbeitskämpfen auf sie zu konzentrieren, spiegelt eine euro- und androzentrische Schieflage wider, die das Konzept formalisierter Lohnarbeit aus dem Kontext des industriell geprägten Kapitalismus in Europa und den USA implizit universalisiert (Komlosy 2016: 56 f.). Dabei ist formalisierte Lohnarbeit historisch und geographisch eher die Ausnahme (Breman/van der Linden 2014), und der Kapitalismus hat längst nicht überall den „doppelt freien Arbeiter“ geschaffen. In vielen Kontexten weltweit, und insbesondere im „Globalen Süden“, stellen Lohnarbeiter:innen eine Minderheit gegenüber informellen Arbeiter:innen, Kleinbäuer:innen und Tierhalter:innen dar. Informelle Arbeiter:innen sind aus einer Vielzahl von Gründen (Bonner/Spooner 2011; Eaton/Schurman/Chen 2017; Lindell 2010) kaum in Gewerkschaften organisiert – auch nicht in Kontexten, in denen Gewerkschaften radikaler, flexibler und kämpferischer sind als im Sektor gewerkschaftlichen deutschen Korporatismus.

Trotzdem sind informelle Arbeiter:innen organisiert – weniger in Gewerkschaften, sondern eher in Kooperativen, Arbeiter:innen­organisationen, Netzwerken und anderen Verbünden – und kämpfen auf unterschiedliche Weise für eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen. Das zeigt eine Vielzahl von Beispielen überwiegend aus dem „Süden“ und tatsächlich häufig aus städtischen Kontexten: Fahrer:innen von Lieferdiensten in Buenos Aires (Atzeni 2016) und Johannesburg (Webster et al. 2021), von Minibussen in Daressalam (Rizzo/Atzeni 2020) und Moped-Taxis in Kampala (Webster et al. 2021), Hafenarbeiter:innen, Straßen- und Marktverkäufer:innen (Lindell 2010), Sexarbeiter:innen in Mombasa (Česnulytė 2019) oder Müllsammler:innen in Bogotá (Parra 2020). In einigen Fällen haben diese Kämpfe informeller Arbeiter:innen tatsächlich einen städtischen Bezug – Müllsammler:innen beispielsweise, deren zentrale Adressatin für ihre Forderung die Stadt(-verwaltung) ist und die auch mit anderen Bewegungen kooperieren, wie in Südafrika etwa die South African Waste Pickers Association (https://wastepickers.org.za/) mit Abahlali baseMjondolo, der Bewegung der shack dwellers. Die offensichtlicheren Beispiele für eine mögliche Verschränkung von Arbeits- und städtischen (was immer wir darunter verstehen) Konflikten finden sich vielleicht eher in Johannesburg, Kalkutta und Bogotá als in Berlin.

Auch die räumliche Verteilung von Ungleichheiten – lange Arbeitswege, die den doppelten Arbeitstag (formelle Lohnarbeit und informelle Arbeit einerseits, unbezahlte Reproduktions- und Sorgearbeit andererseits) von insbesondere armen Frauen faktisch verdreifachen – ist in Kalkutta, Lima, Bogotá, Johannesburg und Nairobi noch stärker ausgeprägt als in Berlin, Amsterdam oder Toronto. Die Auseinandersetzung mit Stadt und Arbeit kann von einer global differenzierten Perspektive in unterschiedlicher Hinsicht gewinnen. Die Berliner Krankenhausbewegung und die Mobilisierung der Lieferdienst-Fahrer:innen lassen sich besser aus einer Perspektive der Global Labour Studies (die der Labour Geography nahesteht, aber weiter ist, weil sie nicht auf räumliche Kategorien fokussiert) verstehen als aus einer klassischen Perspektive der Gewerkschaftsforschung oder der Industriellen Beziehungen (vgl. Nowak 2021).

Kritische Stadtforschung sollte sich mit Arbeit, Arbeiter:innen und ihren Kämpfen beschäftigen – weil sie kritisch ist. Aus meiner Sicht liegen nicht unbedingt stadtspezifische Gründe für die „intensivere Auseinandersetzung mit Arbeit“ vor. Die kritische Entwicklungsforschung oder die Critical Agrarian Studies beispielsweise sollen sich genauso mit Arbeit beschäftigen. Dass Letztere Arbeit und Arbeiter:innenkämpfe stärker im Blick haben, liegt in der dezidiert marxistischen Grundierung dieses Forschungsfelds begründet, aufgrund derer Produktions- und Klassenverhältnisse eine zentrale Rolle in den Analysen spielen – was nicht heißt, dass Arbeiter:innen und ihre Kämpfe deshalb notwendigerweise im Mittelpunkt stehen. Andere kritische Forschungsfelder – wie die kritische Stadtforschung – umfassen hingegen auch Perspektiven, die nicht unbedingt dezidiert marxistisch-politökonomisch und deshalb oft auch weniger strukturorientiert sind. Um jedoch Arbeit, Arbeiter:innen und ihre Kämpfe zu verstehen, ist eine Analyse der Produktions- und Klassenverhältnisse wenn nicht Voraussetzung, dann aber zumindest theoretisch und empirisch zentraler Bestandteil.