Yannick Ecker, Tatiana López und Nicolas Schlitz werben in ihrem „Plädoyer für eine tiefere Auseinandersetzung mit Arbeit in der kritischen Stadtforschung“ (2023) dafür, sich systematischer mit „Arbeiter*innen, Arbeit, sozialer Reproduktion und organisatorischer Praxis“ (ebd.: Abstract) als Formen städtischer Raumproduktion zu befassen und hierfür an vorangegangene, vor allem auch englischsprachige Literatur anzuschließen. Sie wollen insbesondere zeigen, dass die kritische Stadtforschung eine Labour Geography nötig hat, also eine Perspektive, die über das „Mitdenken“ (ebd.: 268) von Arbeiter*innen hinausgeht. „Mitdenken“ ist als Beschreibung der Problematik eine schöne Formulierung. Denn die Herausforderung besteht in der Tat darin, Arbeiter*innen und Arbeit nicht nur in ein bereits geronnenes Schema (von Statistiken, Strukturlogiken, Institutionen usw.) einzufügen, sondern Arbeiter*innen als gesellschaftliche Subjekte und ihr Arbeitshandeln theoretisch als lebendige gesellschaftliche Praxis in den Blick zu nehmen.
Allerdings ist dieses Anliegen voraussetzungsvoll, das zeigt auch das „Plädoyer“. Zugespitzt gesagt unterläuft den Autor*innen darin genau das, was in der Debatte seit einiger Zeit kritisiert wird: Auf die wichtige und richtige Aufforderung hin, Arbeiter*innen empirisch und theoretisch als aktiv Handelnde und Raumproduzierende wahrzunehmen, folgte ein Boom labourgeographischer Studien. Dieser war allerdings von einem ausgeprägten Empirismus gekennzeichnet und blieb so theoretisch oft weitgehend unverbunden zu übergreifenden Strukturen kapitalistischer (Re-)Produktionsweise (Coe 2013). Die vormals kritisierte Passivierung von labour als Objekt, so die berechtigte Kritik, droht seither umzukippen in eine „agency-centered ontology“ (Peck 2018), das heißt in eine Darstellung von räumlicher Handlung und Handlungsfähigkeit ohne die notwendige Betrachtung von deren neoliberalisiert-kapitalistischen Begrenzungen. Damit aber wird Labour Geography als kritische gesellschaftstheoretische Intervention entschärft. Die konzeptionelle Verbindung zwischen gesellschaftlicher („struktureller“) Emanzipation und (Arbeiter*innen-)Selbstemanzipation wird auseinandergerissen zugunsten von Studien zu Arbeitskämpfen als Raumproduktion.
Dieses Problem zeigt sich auch bei Eckert, López und Schlitz. Denn in ihrem „Plädoyer“ fehlen basale kritische begriffliche Verdichtungen rund um die Problematik von Arbeit und sozialer Herrschaft. Das hat den Effekt, dass die Aufforderung eines stadtgeographischen Labour Turn insgesamt wie eine freudige Entdeckungsreise erscheint, wie ein bunter Stadtspaziergang, dem wir uns alle eigentlich nur anschließen können.
Was aber ist mit der geballten destruktiven Kraft kapitalistischer Strukturlogik, also mit verwertungslogischen, rassistischen und sexistischen sozialen Formen, in die Arbeiter*innen und Gewerkschaften ja bekanntermaßen durchaus eingebunden sind? Wie denken wir das Verhältnis von (Selbst-)Ermächtigung zu (Selbst-)Unterwerfung von Arbeiter*innen? So formuliert wird deutlich, dass Labour Geography nicht einfach eine konsensuale Horizonterweiterung ist, sondern eine auch kontrovers zu führende politische und theoretische Auseinandersetzung darüber, wie wir uns (Selbst-)Emanzipation als multiskalare Raum- und Gesellschaftsveränderung vorstellen.
Im „Plädoyer“ ist davon kaum etwas zu lesen. Das liegt auch daran, dass der Text von einer „Alt vs. Neu“-Rhetorik durchzogen ist, die notwendige begriffliche Klärungen auszuhebeln droht. Das „Neue“ erscheint dabei immer irgendwie richtig: neue („postindustrielle“) Stadt, neue Organizing-Ansätze, neue stadtpolitische Allianzen, neuer social movement unionism, neuer (weiter) Arbeitsbegriff. „Neu“ wird zum Synonym von „besser“.
Die Autor*innen kommen hier einer modernisierungstheoretischen Sprechweise sehr nahe, die Doreen Massey (2004: 233) kritisch und in inhaltlicher Abwandlung eines berühmten Marx’schen Zitats als Umwandlung von Raum in Zeit bezeichnet hat. Massey meint damit die diskurspolitische Verschiebung von im Hier und Heute gesellschaftlich hervorgebrachten sozialräumlichen Ungleichheiten und Widersprüchlichkeiten auf eine Zeitachse, die ihrerseits entlang eines (vermeintlich) traditionell-rückständigen Früher und einem (vermeintlich) modern-fortschrittlichen Heute verläuft. Arbeitslosigkeit, um ein simples Beispiel zu nehmen, ist dann nicht mehr Resultat profitlogischer Produktionsorganisation, sondern Ausdruck rückständiger Arbeitseinstellungen, unzeitgemäßer („mangelnder“) Qualifikationen der Arbeiter*innen etc. Diese Verzeitlichung, so Massey sinngemäß weiter, sei ideologisch, da sie eine gesellschaftstheoretische Bestimmung der Phänomene in ihren je aktuellen Herrschaftszusammenhängen (vermeintlich) obsolet mache. In der Folge trete mutmaßliche Klarheit an die Stelle politischer Auseinandersetzung[1] und begrifflicher Analyse.
Eben dies unterläuft in Teilen auch Eckert, López und Schlitz (selbstredend nicht in modernisierungslogischem, sondern kapitalismuskritischem Anliegen). In ihrem Ansinnen, Labour Geography und Stadt als neues, attraktives Feld zu zeichnen, operieren sie mit einer ganzen Reihe kategorial wie historisch irritierender Selbstverständlichkeiten, die das Projekt Labour Geography von kritischer Gesellschaftstheorie abzukoppeln drohen. Im Folgenden möchte ich diese prinzipielle Kritik in aller Kürze anhand einiger Themenbereiche (Gewerkschaften, Arbeit, Stadt) verdeutlichen und so die Notwendigkeit einer gesellschaftstheoretischen, kritischen Begriffsarbeit aufzeigen.
Die das „Plädoyer“ insgesamt kennzeichnende Rhetorik der Verzeitlichung betrifft in besonderem Maße die Darstellung von Gewerkschaften. Gewerkschaften würden „immer mehr“ auch die Stadt als Ort der Auseinandersetzung entdecken, sie würden dabei „neue Organizing-Ansätze“ entwickeln (Eckert/López/Schlitz 2023: 290), Arbeitskämpfe fänden nicht mehr länger nur vor dem Werktor, sondern auch als Straßenproteste statt, der social movement unionism käme nun langsam auch in Deutschland an, es gebe „eine wachsende Kampfbereitschaft und Beweglichkeit etablierter Gewerkschaften“ und anderes (ebd.: 275).
Dabei fällt auf, dass dem Text ein kritischer Begriff von Gewerkschaften fehlt. Die Autor*innen behandeln Gewerkschaften faktisch als lernende Organisationen (Argyris/Schön 1978), in denen sich das Neue als fortschrittliche Anpassung an veränderte Umweltbedingungen Bahn bricht. Auf diese Weise entkoppeln sie Gewerkschaften nicht nur von kapitalistischen Herrschaftszusammenhängen, sondern auch von Bemühungen basisdemokratischer Selbstorganisation und Netzwerkbildung, die sich aus guten Gründen teilweise explizit gegen etablierte Gewerkschaftsstrukturen richten.
In der kritischen Gewerkschafts- und Bewegungsforschung besteht weitgehend Konsens darüber, dass Gewerkschaften in ihrer heutigen etablierten Form korporatistischer Bestandteil der kapitalistischen Staatsapparate sind. Als solche wirken sie „durch selektive Massenintegration“ (Esser 1982: 269) an der Legitimation der herrschenden Verhältnisse mit. Sie fungieren als Ordnungsfaktor und reproduzieren damit auch die class race gender order in ihrer Gesamtheit: Gewerkschaften beteiligen sich an kapitaldominierten (betrieblichen, lokalen und nationalen) Bündnissen zur sogenannten Standortsicherung (womit sie nicht nur Solidarität auf transnationaler Ebene, sondern aufgrund der immer neuen sozialen „Zugeständnisse“ auch mit prekär Beschäftigten vor Ort unterminieren). Sie kanalisieren oder bekämpfen eigenständige, stärker oppositionelle politische Bewegungen. Sie unterstützen kapitalorientierte Strategien (wie lange Zeit die Bahngewerkschaft Transnet, inzwischen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, EVG,) die angeblich notwendige Privatisierung der Bahn – die Folgen kennen wir). Gewerkschaften beteiligen sich an Wachstumsbündnissen der unternehmerischen Stadt (wie ver.di beim Ausbau des Frankfurter Flughafens), sie sind Bestandteil einer (post-)wohlfahrtsstaatlichen Restrukturierung hin zu workfare (was um die Jahrtausendwende als new labour diskutiert wurde), und sie unterminieren seit Jahrzehnten den sozialökologischen Umbau oder entpolitisieren diesen unter Verweis auf den hochheiligen „Erhalt von Arbeitsplätzen“ (Velicu/Barca 2020). Just während ich diesen Artikel schreibe, während also die soziale Unsicherheit und die direkte Not immer breitere Kreise der Bevölkerung auch in Deutschland umfasst, kritisiert Yasmin Fahimi, die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), unisono mit den Arbeitgeberverbänden, dass Deutschland Industriearbeitsplätze verlieren werde, wenn die Milliarden an Energiekostenzuschüssen nicht auch an diejenigen Unternehmen ausgezahlt würden, die weiter (hohe) Boni und Dividenden an Manager*innen und Aktionär*innen ausschütten. Sie fordert damit noch nicht einmal klassische Umverteilung, sondern stattdessen „wettbewerbsfähige Energiepreise für die Industrie“ – um (mal wieder) den „Standort Deutschland“ zu sichern (tagesschau.de 2022).
Gleichzeitig ist das, was Gewerkschaften sind und was sie sein sollen, stets umkämpft, und zwar innerhalb wie außerhalb der etablierten Strukturen. So findet beispielsweise, während ich an der Überarbeitung dieses Textes sitze, ein historisches Streikereignis in Deutschland statt: der als Mega-Streik bezeichnete gemeinsame eintägige Warnstreik von Eisenbahngewerkschaft EVG und Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der für einen Tag den öffentlichen Verkehr (Busse, Bahnen, Flughäfen, Seewege, Autobahntunnel etc.) lahmlegt und in Ausmaß und Konsequenz an beinahe vergessene Möglichkeiten gewerkschaftlicher Machtpotenziale erinnert und auf weitere Aktionen dieser Art hoffen lässt.
Immer wieder bilden sich auch Basisinitiativen und (teil-)autonome Netzwerke, die nicht nur stärker auf einer Funktion von Gewerkschaften als „Gegenmacht“ beharren, sondern zudem bemüht sind, nationalistische, sexistische und industriell-produktivistische Handlungslogiken von Gewerkschaften zu durchbrechen (Hürtgen 2003). Ein Beispiel für derartige Basisinitiativen ist die „Berliner Krankenhausbewegung“, auf die sich auch Eckert, López und Schlitz beziehen. In Ermangelung eines kritischen Gewerkschaftsbegriffs nehmen sie diese Bewegung allerdings nicht wahr als umkämpfte Verschiebung von Kräfteverhältnissen und Ringen darum, was Gewerkschaft ist und sein sollte: Die Bewegung konstituierte sich wesentlich auf Basis des selbstorganisierten Engagements Hunderter Streik-Teamdelegierter sowie starker autonomer städtischer Unterstützungskomitees, dem sich schließlich auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di als etablierte Institution nicht länger verschließen konnte (Labournet 2022).
Die hier nur angedeuteten, auf Selbstermächtigung der Beteiligten orientierten, (teil-)autonomen Koordinationen sind in anderen Ländern (etwa Frankreich) deutlich stärker ausgeprägt. Sie existierten und existieren aber auch in der Bundesrepublik Deutschland.[2] Das Prekär-Lab in Frankfurt, auf das der Debattenaufschlag verweist, ist in diesem Sinne also alles andere als „neu“. Es ist vielmehr ein weiterer wichtiger Versuch, dem insgesamt unhinterfragten und zutiefst krisenhaften Korporatismus der offiziellen Gewerkschaftspolitik etwas entgegenzusetzen – ein Versuch, von dem zu hoffen bleibt, dass ihm nicht die Puste ausgeht, wie so vielen zuvor, und der vielleicht zu einem Knotenpunkt breiterer gewerkschaftlicher Veränderung werden könnte.
Emanzipative und selbstermächtigende Strukturen zu stärken und zu verstetigen ist aber keine Frage des Wollens oder der Zeit, sondern der politischen und damit auch begrifflich-theoretischen Auseinandersetzung in einem Terrain, das von staatlichen und ökonomischen Machtungleichgewichten durchzogen ist. Labour Geography ist – wie jede wissenschaftliche Praxis – Bestandteil dieser Kämpfe um Hegemonie und (zu verändernde) Kräfteverhältnisse. Labour Geography positioniert sich deshalb teilweise explizit gegen die nach wie vor dominante herrschaftliche Einbindung von Gewerkschaften (Cumbers/Nativel/Routledge 2008).
Ein kritischer Begriff von Gewerkschaften als sowohl herrschaftlichen wie widerständigen Organisationen, das heißt die explizite konzeptionelle Verabschiedung von der Alt-Neu-Rhetorik, macht auch historische Korrekturen in der Darstellung von Eckert, López und Schlitz notwendig. Denn während die Autor*innen eine „neue“ Hinwendung von Gewerkschaften zu städtischen Allianzen konstatieren, verhält es sich historisch genau umgekehrt: Gewerkschaften entstanden als lokale (Solidar-)Organisationen und die Durchsetzung der heutzutage bekannten Form „arbeitsplatzorientierter“ Branchen- und Industriegewerkschaften war und ist ein umkämpfter Prozess staatspolitischen Einhegung (Hürtgen 2018). Ein Meilenstein dieser Auseinandersetzungen fand in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg statt: Während die aus den Konzentrationslagern, dem Exil und dem Untergrund zurückkehrende Arbeiter*innenbewegung mit einem dezidiert regional-städtischen gewerkschaftlichen Organisationsansatz auf einen gesellschaftspolitischen Neuanfang hoffte, setzten die Besatzungsmächte und die alt-neuen bürgerlichen Eliten das Branchenprinzip durch (Schmid 1970). Ein weiteres, von vielen kaum wahrgenommenes Datum für die machtpolitische Etablierung branchenförmiger gewerkschaftlicher Organisationsstrukturen war die sogenannte Osterweiterung der Europäischen Union 2004. Mit der geforderten Übernahme des aquis communitaire, also bestehender EU-Rechtsnormen durch die neuen Mitgliedsländer, verankerte die EU auch dort die arbeitsplatz- und standortgebundenen Betriebsräte und Branchengewerkschaften und schwächte so die beispielsweise in Polen vormals stark lokal und regional ausgerichtete Gewerkschaftstradition. Ein weiteres Beispiel für die Unterminierung lokaler Gewerkschaftsstrukturen in Deutschland ist das umkämpfte Absterben der sogenannten DGB-Ortskartelle. Diese über Jahrzehnte bestehenden örtlichen Verankerungen der gewerkschaftlichen Dachorganisation DGB wurden in vielen Reformdebatten als Herzstück einer gewerkschaftlichen Erneuerung identifiziert. Denn gegen die korporatistische und immer auch wettbewerbslogische Branchenorientierung könnten hier „die Interessen der Beschäftigten in der Produktion und in den Dienstleistungsbetrieben mit den Bedürfnissen der Familien und des kommunalen Gemeinwesens zusammengebracht werden“ (Negt/Morgenroth/Niemeyer 1990: 446). Anstatt aber die DGB-Ortskartelle auszubauen, wurden sie von den Einzelgewerkschaften politisch und materiell geschwächt, schließlich ausgetrocknet.
Kurz: Eine gewerkschaftliche Hinwendung zur Stadt ist nicht „neu“, sondern aufgrund des widersprüchlichen Charakters von Gewerkschaften seit jeher umkämpft. Es ginge aktuell also darum, sich (wissenschafts-)politisch in diese Auseinandersetzung zu begeben und die lokale Orientierung wieder zu stärken.
Ein ähnliches Ringen um die gewerkschaftspolitische Ausrichtung ließe sich auch für den social movement unionism nachzeichnen. Auch dieser wird nicht gerade neu entdeckt, er ist nichts, was jetzt endlich langsam auch aus den USA nach Europa kommt, wie Eckert, Lopéz und Schlitz nahelegen. Ähnlich wie die Orts- und Stadtorientierung ist der social movement unionism vielmehr ein fundamentaler Einspruch gegen etablierte Gewerkschaftspolitik und wird entsprechend bekämpft (Waterman 2014). Dabei gibt es Niederlagen und Fortschritte, wie die ebenfalls nicht mehr ganz junge Forschung zum Thema zeigt (Hälker/Vellay 2006; Dörre 2007). Richtig ist: Mit der sich zuspitzenden Krise der partei- und staatstragenden Gewerkschaftspolitik wächst auch auf Seiten der Gewerkschaftsapparate teilweise die Offenheit, etwa in Hinblick auf neue Bündnispolitik. Dies wird derzeit sichtbar an der Zusammenarbeit von ver.di mit fridays for future (siehe auch Urban 2009). Allerdings muss ebenso festgehalten werden, dass die stärkere gewerkschaftliche Öffnung hin zu movement und Organizing zeitlich parallel mit der Etablierung des Tarifvertragseinheitsgesetzes (TEG) stattgefunden hat. Das TEG richtet sich wesentlich gegen radikalere und streikfreudigere Gewerkschaften, wie die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter*innen-Union (FAU) oder die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL).
Zusammengefasst: Wir befinden uns mit der Labour Geography in Bezug auf Gewerkschaften in einem fortdauernden politischen und theoretischen Handgemenge, nicht in einem freundlich-fortschreitenden Lernprozess.
Meine zweite Kritik an einer mangelnden begrifflichen Bestimmung zielt auf den Arbeitsbegriff. Eckert, López und Schlitz kündigen an, ihre Argumente entlang eines „weiten“ Arbeitsbegriffs darzulegen (2023: 267). Dies erfolgt dann aber nicht; ihr „Plädoyer“ enthält keine weiteren Erläuterungen oder expliziten Anknüpfungen zum Arbeitsbegriff. Zwar legt die Art der empirischen Bezüge (migrantische soziale Dienstleistungs- und Sorgearbeit) nahe, dass „weit“ im Sinne von „über klassische Industriearbeit hinaus“ gemeint ist und entsprechend „Produktions- und Reproduktionsarbeit“ einschließen soll. Aber expliziert ist das nicht, denn das eigentliche Thema der Autor*innen sind die Bildung von Allianzen zwischen verschiedenen Arbeiter*innen-Fraktionen und die „zunehmende Verbindung von Arbeits- und städtischen Kämpfen“ (ebd.: 274).
Aus Sicht der Autor*innen stellt die Berliner Krankenhausbewegung beim Klinikkonzern Vivantes sowie an der Berliner Charitè ein „Erfolgsmodell“ dar, das auch „in weitere Bundesländer übertragen wurde“ (ebd.). Aber woran aber misst sich Erfolg und was macht ihn zum Modell? Wurde die hierarchisch-ökonomisierte Arbeitsteilung in Krankenhäusern, die die einzelnen Arbeiter*innen von der Arbeit am Menschen wegführt, überwunden? Ist Arbeit im Krankenhaus jetzt grundsätzlich weniger erschöpfend, ist sie nun strukturell als wechselseitig würdevolle Care-Arbeit möglich, fand insgesamt eine gesellschaftliche Neubewertung von Arbeit statt? Ohne Zweifel setzt die Berliner Krankenhausbewegung mit ihrer (städtischen) Breite, ihrer Zähigkeit und den von ihr erkämpften, auf den Inhalt der Arbeit gerichteten Tarifverträgen Maßstäbe (mit landesweiter Ausstrahlung). Dies feiern die Beteiligten zu Recht als (Etappen-)Sieg. Aber das eigentümliche Best-Practice-Vokabular der Autor*innen verstellt den Blick darauf, dass wir es weiterhin mit anhaltenden, da neoliberalisiert-kapitalistisch strukturierten Schwierigkeiten zu tun haben (werden) – mit mühsamen „Stellungskriegen“, um es in den Worten Antonio Gramscis zu formulieren. Weder wird die Arbeitgeber*innenseite Ruhe geben, noch ist dauerhaft geklärt, wie die in den Verträgen enthaltene „Kostenneutralität“ oder die Einstellung von mehreren Hundert zusätzlichen Beschäftigten praktisch umgesetzt werden sollen. Auch ist noch keine tatsächliche gesellschaftliche und finanzpolitische Neuordnung von Sorge- und Krankenhausarbeit in Sicht. Dabei haben die Streikenden immer wieder betont, dass dies eine grundlegende Voraussetzung für die notwendigen Veränderungen in den Krankenhäusern wäre (siehe u. a. Kühn 2022a, 2022b; Reichardt/Gabrysh 2022).
Vor allem aber kommen wir mit den im Debattenaufschlag identifizierten „Erfolgsmodellen“ dem allgemeinen Arbeitsbegriff nicht bei; dies umso weniger, wenn die Autor*innen ihren Blick sofort wieder auf die Straße, auf die „städtischen Kämpfe“ lenken (gemeint sind Miet- und Wohnungsbewegungen, die sich mit den streikenden Krankenhausbeschäftigten solidarisierten). Mit einem solchen „Straßenprotestblick“ können wir die sozialräumlich ungleiche gesellschaftliche Konstitution von Arbeit als sozialer Praxis allenfalls aus der Ferne und sehr verschwommen sehen. Um dagegen die Berliner Krankenhausbewegung als Arbeitskampf zu verstehen, das heißt in der Tat als Auseinandersetzung um Ausgestaltung und Inhalt von Arbeit, bräuchte es konzeptionelle Überlegungen dazu, wie diese Arbeit derzeit verfasst, was das strukturelle Problem daran ist und welches die (fortdauernden) Widersprüche und Schwierigkeiten sind, mit denen Kämpfende wie kritische Arbeitsforscher*innen zu tun haben und weiter zu tun haben werden. In der Care-Debatte gibt es hierzu eine Fülle von theoretischen Anschlüssen, die dringend zur Kenntnis zu nehmen wären. Um nur einige zu nennen: Julia Dück (2018) unterstreicht die in bereits abgeschlossenen „Entlastungstarifverträgen“ enthaltenen Ambivalenzen, die sich in ungleichen Auf- und Abwertungsprozessen unterschiedlicher Tätigkeiten in Kliniken (Professionalisierung hier und Deprofessionalisierung dort) manifestierten. Tine Haubner (2019: 425) diagnostiziert in Bezug auf Pflege insgesamt ein „Regime gemeinwohldienlicher Schattenarbeit“, welches den politisch geförderten Ausbau geringqualifizierter Beschäftigungssegmente, niedrigschwelliger Betreuungsangebote sowie quasi-professionalisierte Tätigkeitsbereiche umfasse. Sie stellt fest: „Im Rahmen dieses Ausbaus sind Informalisierungsprozesse und Fälle rechtswidriger Arbeitskraftnutzung, qualifikatorische Grenzüberschreitungen und Unterschichtungsprozesse zu beobachten“ (ebd.). Katrin Roller (2019: 409) analysiert die unterschiedlichen Formen von Care-Arbeit als „professionell, irregulär und unbezahlt“. Dabei verweist sie auf das in der Debatte breit diagnostizierte strukturelle Problem der „konfligierenden Interessenlagen zwischen erwerbstätigen Sorgeverantwortlichen und migrantischen Haushaltsbeschäftigten“ (ebd.), die sich unter den herrschenden Bedingungen einer Individualisierung der Care-Versorgung insbesondere an intersektionalen Ungleichheitslinien festmachten.
Diese Schlaglichter zeigen: Ein „weiter“ Arbeitsbegriff hat mit der „Praxis der Bildung von Allianzen“ (Eckert/López/Schlitz 2023: 267) allenfalls indirekt zu tun. Ein „weiter“ oder besser allgemeiner Arbeitsbegriff bedeutet demgegenüber Kritik an kapitalistischer Arbeitsteilung und ihren Folgen. Er interessiert sich für die Meisterung dieser Folgen, aber auch für die tägliche (Re-)Produktion der „ganzen Scheiße“ (Marx) durch die Arbeiter*innen selbst. Ein solcher allgemeiner Arbeitsbegriff fragt danach, wo und wie sich in der (Re-)Produktion von Gesellschaft Dimensionen eines (neuen) Gesellschaftlich-Allgemeinen finden lassen – und zwar notwendig innerhalb und gegen die herrschende sozialräumlich ungleiche, konkurrenziell-sexistisch-xenophobe Fragmentierung von Arbeit und Arbeiter*innen. Mit einem allgemeinen Arbeitsbegriff geht es also darum, was emanzipative Veränderung von Arbeit ist und sein müsste. Und mit der Labour Geography gedacht lautet die Frage, wie derartige Ansätze und Veränderungen der Arbeits- und (Re-)Produktionsbeziehungen von den Arbeiter*innen selbst vorangebracht werden können, trotz und gegen ihre gesellschaftliche Subalternisierung als soziale Akteur*innen.
(Selbst-)Emanzipation von Arbeiter*innen als gesellschaftliche (Re-)Produzent*innen muss also gegen die Wucht der vielfach und dynamisch auseinandergerissenen und ungleich gegeneinander gerichteten (Selbst-)Positionierungen in der (Arbeits-)Welt gedacht und politisch praktiziert werden. Selbstverständlich sind „Allianzen“ dabei wichtig, aber ohne eine kritisch-empirische, theoretisch reflektierte Wahrnehmung kapitalistischer Arbeitsteilung und ihrer menschenverachtenden Destruktivität hat der Verweis auf „neue“ Allianzen wenig Substanz und verdeckt so noch die Schwierigkeiten eines arbeitsbezogenen Emanzipationsprojektes.
Eine weitere notwendige begriffliche Schärfung betrifft die inhaltliche und räumliche Dimensionierung von Stadt. Ich möchte hier nicht weiter darauf eingehen, dass eine konzeptionelle Vorstellung von Stadt als unternehmerische Stadt im Debattenaufschlag fehlt. Stattdessen will ich mich auf das dort gezeichnete Bild der postindustriellen Stadt konzentrieren. Zwar verwenden die Autor*innen diesen Begriff nicht explizit, doch ist der gesamte Text von der Vorstellung einer nachindustriellen Stadt geprägt. Industrieproduktion und Fabrikarbeiter*innen kommen darin nicht vor; Städte haben für Eckert, López und Schlitz Bedeutung als „Orte der Dienstleistungsarbeit“ (2023: 269). Damit schließen die Autor*innen an einen durchaus problematischen Trend an (vgl. kritisch Lindner/Ouma 2021). Dieser ist allerdings gerade in der Arbeitsforschung nicht neu. Wiederholt wurden hier die „postindustrielle Gesellschaft“, die Verdrängung von Industriearbeit durch „immaterielle Wissensarbeit“, das Ende der industriellen Massenproduktion und so weiter proklamiert – sowie im Anschluss sowohl historisch-faktisch als auch theoretisch als kurzschlüssige und vereinseitigende Verallgemeinerung widerlegt.
Einmal davon abgesehen, dass es auch in Deutschland weiterhin Städte mit wichtiger Industrieansiedlung gibt, ist eines der zentralen theoretischen Argumente dieser Widerlegungen die Raumdimension (Silver 2005; Lüthje 2004). Bezogen auf den Debattenaufschlag heißt das: Die soziale städtische (Re-)Produktion, die der Text ins Zentrum stellt, erfolgt mitnichten nur über die vor Ort ansässigen Dienstleistungen, Infrastrukturen und („privaten“) Sorgearbeiten – sondern selbstredend immer auch industriell. Jegliche städtische (Re-)Produktion würde ohne die in der Stadt verbauten und genutzten Industriegüter sofort zusammenbrechen: vom Beton für Straßen und Häuser über Großrechner für das Internet bis zu Consumer-Elektronik, Textilwaren und dergleichen.
Die eigentümliche Vorstellung, dass Produktion und Reproduktion städtisch zusammenfallen, prägt zwar einen Großteil der Stadtforschung, ignoriert aber weite Teile industrieller Arbeit als Herstellung und Hervorbringung der stofflichen Formen unseres Zusammenlebens – ebenso wie die Tatsache, dass ein Gutteil dieser Arbeit weltweit entlang einer glokalisierten, industriell-kapitalistisch geformten Arbeitsteilung in sogenannten transnationalen Produktionsnetzwerken erfolgt. Hinzu kommen transnationale Care-Chains, also die Sicherstellung städtischer Pflegearbeit durch zirkuläre Migration (beispielsweise aus Osteuropa), oder die aus dem suburbanen und ländlichen Raum täglich in Städte einpendelnden Arbeiter*innen. Kurzum: Die Frage der sozialen städtischen (Re-)Produktion lässt sich raumtheoretisch nicht auf Stadt begrenzen, insbesondere nicht in einer Perspektive der Labour Geography. Ansonsten würde Stadt abgeschnitten von der glokalen Arbeitsteilung, sie würde „für sich“ betrachtet und so zu einem skalaren Container (vgl. u. a. Mayer 2013: 164; Peck 2012: 651).
In einer Perspektive der Labour Geography gilt es dagegen, Fiktionen von einer vermeintlich alten oder vergangenen Industriearbeiter*innenschaft zu widersprechen und die Frage der transnationalen Verknüpfungen theoretisch und politisch ernst zu nehmen. Dann entstehen jedoch noch ganz andere Fragen: Was bedeutet es beispielsweise, dass wichtige soziale Bewegungen der letzten Jahre (wie etwa die Gelbwestenproteste in Frankreich) ihren Ausgangspunkt gerade nicht in Großstädten, sondern in den (semi-)ländlichen Peripherien hatten? Inwiefern tangiert dies auch die subjektive Vorurteilsstruktur von (Groß-)Stadtbewohner*innen diesen vermeintlich peripheren Akteur*innen gegenüber? In Frankreich ist dies derzeit ein wichtiges Thema. Oder auch: Wie lassen sich theoretische Verbindungen herstellen zwischen den sozialen Massenprotesten gegen Korruption in Rumänien und Bulgarien und den prekären Arbeitsbedingungen der oft aus diesen Ländern stammenden migrantischen Pflegearbeiter*innen in Deutschland? Möglich wäre auch zu fragen, wie „dortige“ Corona- und (Non-)Care-Politiken mit „hiesigen“ zusammenhängen (vgl. hierzu Birke 2021).
Fazit: „Stadt“ ist nicht herauszulösen aus den glokalen Vergesellschaftungszusammenhängen, dies gilt insbesondere in Bezug auf Arbeit und Arbeiter*innen. Längst existiert ein transnationaler Raum der (Lohn-)Arbeit (Hürtgen 2020), der Begriff der städtischen (Re-)Produktion gehört also glokalisiert. Auch das ist eine Herausforderung, die kaum als konsensualer Erkenntnisfortschritt bewältigt werden wird, sondern als politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung anzugehen ist.