sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 399-410

doi.org/10.36900/suburban.v11i3/4.892

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Debatte zu: Mike Davis’ „Festung L.A.“ (2006 [1990])

Kommentare von: Sina Brückner-Amin, Stefan Höhne, Roger Keil, Stephan Lanz, Boris Michel, Katja Schwaller, Rainer Wendling

Historiografien der Extreme: Mike Davis, Reyner Banham und das Schreiben über Los Angeles

Kommentar zu Mike Davis’ „Festung L.A.“ (2006 [1990])

Sina Brückner-Amin

1. Welcome to L. A.: Was gibt es hier zu schreiben?

Wer im institutionellen Kontext der historischen Architekturwissenschaft berichtet, zu Los Angeles zu arbeiten, wird nicht selten mit irritierten Blicken konfrontiert. Es fallen die immer gleichen Bemerkungen, die den Forschungsgegenstand in seiner Grundlage zu diskreditieren versuchen: Inwiefern kann Los Angeles überhaupt als Stadt begriffen werden? Gibt es da angesichts des jungen Alters der Stadt überhaupt so etwas wie eine Architekturgeschichte? Ist Los Angeles nicht bloß ein symbolisches Zusammentreffen von all dem, was man an den USA ohnehin gerne kritisiert – fehlende Sozialstrukturen, Konsumkultur, Größenwahn? Die berühmtesten Unrühmlichkeiten der Metropole an der US-Westküste, ihre Selbstzentriertheit, der urban sprawl und die Obdachlosenkrise, helfen ebenfalls nicht. Jedoch lässt sich leicht feststellen, wie stark obige Bemerkungen von westlich-europäischen, gar weißen Ansprüchen und Vorurteilen gegenüber dem durchtränkt sind, was als Stadt oder Architektur als historisch wertvoll zu begreifen ist. Auch die Perspektive, mit der Forschung über Los Angeles eine methodisch diverse und postkoloniale Forschung in der historischen Architekturwissenschaft generell zu stärken, kann leicht infrage gestellt werden: Man arbeite ja schließlich immer noch zu den USA. Das stimmt: Wer zu Los Angeles forscht, forscht zu einer Stadt in den USA – aber auch zu der Stadt, die globalhistorisch als eine der diversesten und von Migrationskultur am deutlichsten geformte gilt. Los Angeles ist ohne seine eigene palimpsestartige und weitverzweigte Kolonialgeschichte nicht zu begreifen (Akins/Bauer 2021; Deverell/Hise 2005). Kurzum: Wer zu Los Angeles forscht, sucht immer auch Rechtfertigungen – und Mitstreiter_innen.

Mit Blick in den Rückspiegel meiner eigenen Forschung stechen zwei Publikationen heraus, die die Faszination für und die Berechtigung von Los Angeles als Untersuchungsgegenstand zementiert haben: Mike Davis’ City of quartz: Excavating the future in Los Angeles (1990) und Reyner Banhams Los Angeles: The architecture of four ecologies (1971, im Folgenden Four ecologies). Ich könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass es in beiden Werken primär im Los Angeles ging – als historischer Schauplatz, Mythos und Experimentierfeld – und nur sekundär um dessen Architektur. Sie verankerten Los Angeles auf meiner in Formation begriffenen, vom kunsthistorisch-universitären Kanon bis dahin in strenge Bahnen geleiteten mentalen Landkarte: Die Bücher von Davis und Banham hätten streitbarer und unterschiedlicher nicht sein können, waren jedoch vereint in dem Anspruch, dass es Los Angeles’ Architekturgeschichte zu schreiben gibt und gilt. In einem Abstand von knapp 20 Jahren erschienen waren sie keineswegs alleine in der Forschungslandschaft, jedoch Teil einer Gruppe von nur wenigen. Erste historiografische Arbeiten waren beispielsweise die Studien der Publizistin, Architekturhistorikerin und Hochschullehrerin Esther McCoy über exilierte Modernisten wie Richard Neutra oder Rudolph Schindler (McCoy/Makinson 1975; McCoy/Morgan 2012). Über diese schrieb Banham einmal, dass ohne ihre Arbeit seine eigene sowie die seiner Kolleg_innen gar nicht möglich gewesen wäre (Banham 1984, 1971; siehe auch Davis 1990). Banhams Four ecologies erschien zu einem Zeitpunkt, an dem die architekturhistoriografischen Grundsteine für Los Angeles bereits gelegt waren. Dennoch hatte sein Buch keinen geringeren Anspruch als die nächste der „grand unified theories of Southern Californian urbanism“ (Hawthrone 2011) seit Carey McWilliams Land- und Kulturgeschichte Southern California. An island on the land (1946) zu werden. Nach einem Vakuum von 20 Jahren reihte sich Davis mit City of quartz in eine vergleichsmäßig kurze Bibliografie ein. Die Wucht, die dieses Buch auslöste, hatte ihren Grund vor allem darin, dass es sich um eine allseitige Verneinung von Banhams Perspektive handelte.

Vereint in den Anspruch, überhaupt Architekturgeschichte über Los Angeles zu schreiben, wurden Banham und Davis wiederholt zu Objekten eines direkten Vergleichs (Bell 2015). Die Intensität, die beide mit sich brachten, lässt sich rasch skizzieren: Während Banham einen durchweg affirmativen, gar bewundernden Tonfall hatte, blickte Davis alleinig auf die Missstände, die Jahrzehnte des „mindless […] boosterism“ den Bewohner_innen der Metropole hinterlassen hatten (Hawthrone 2011). Als Ort der Extreme machte die Stadt beide Persönlichkeiten zu Antagonisten ihrer urbanen Historiografie, wobei Banham, der 1988 starb, davon nicht mehr Zeuge wurde (Architect’s Newspaper 2022). Ich möchte hier dieses Spannungsfeld aufgreifen und den Fokus meiner Relektüre von „Festung L. A.“ nicht auf die Details von Davis’ Argumenten legen, sondern den Text in einer kontextuellen Breite mit Banhams Four ecologies querlesen. Dabei sollen Potenziale, Problematiken und Limitationen der historischen Architekturforschung über Los Angeles identifiziert werden.

2. Davis’ „Festung L. A.“: Raumanalyse als Klassenkampf

Davis zeichnet in „Festung L. A.“ ein finsteres Bild seiner Gegenwart um 1990. Er folgt der grundlegenden These, dass „systematisch das Innere nach außen gekehrt wird – d. h. eigentlich das Äußere nach innen“ und der öffentliche, und damit demokratische Raum, „so gut wie verschwunden“ sei (Davis 1994: 263). Damit einher gehe eine polizeiliche Gesamtüberwachung, die mehr und mehr auf technische Hilfsmittel am Boden und dezentrale, flächenübergreifende Luftüberwachung setze (ebd.: 290 f.). Diese Umkehrung und ihre katastrophalen Folgen für die Bewohner_innen der Stadt, die strukturell Minoritätengruppen zugeordnet werden, schildert Davis anhand zahlreicher architektonischer und städtebaulicher Beispiele. So verbleibt seine These keineswegs auf einer distanzierten Metaebene, sondern wird konkret belegt. Er beweist die Umkehrung in ihren buchstäblichen Auswüchsen, in Formen und Bildern – von den konvexen, schlaffeindlichen Busbänken, die obdachlose Menschen geradezu abstoßen, zu den panoptischen Einkaufszentren und abgeschotteten Wohnvierteln, die sich radikal auf einen inneren Mikrokosmos fokussieren, und bestimmen, wer eintreten und was dort getan werden darf. Davis zeigt die heftigen Veränderungen in Form tatsächlicher räumlicher Umstülpungen. Die Krönung findet diese Entwicklung – folgt man seiner Argumentation – in der „zynischen“ Architektur Frank Gehrys, die „kaputte Stadtlandschaften so unumwunden ausbeutet und ihre schroffsten Kanten und Trümmer […] als mächtige figurative Elemente einverleibt“ (ebd.: 275). Anhand der von Gehry entworfenen Loyola Law School in Downtown Los Angeles und der Hollywood Regional Branch Library zeigt Davis diese sogar doppelte Einverleibung: einmal als gestalterische Entscheidung (nach visuellen Vorbildern aus den streets von L. A.) und einmal ihrer gebauten Konsequenz, also der Abschaffung des öffentlichen Raumes durch tatsächliche Mauern, Zäune und Kameraüberwachung (ebd.: 275 ff.). An genau solchen Präzisierungen zeigt sich Davis’ argumentative Schlagfertigkeit, der es in solch einem Moment wenig entgegenzusetzen gibt.

Unmittelbar wird in seinem Schreiben deutlich, wie sehr sich Davis mit der Gruppe der „teuflischen Anderen“, die in solchen Architekturen angegriffen werden, identifizieren zu scheint. Seine Rhetorik über „arme Latinofamilien, junge schwarze Männer oder obdachlose alte weiße Frauen“ (ebd.: 262) als übergreifende Kategorien der Unterdrückten kann als Ausdruck seines „knee-jerk far-leftism“ (Hawthrone 2011) gelesen werden, dem der aktivistische Unterton wichtiger ist als die Frage, wer hier eigentlich für wen spricht (Davis 1994: 262). Man mag es Davis zugutehalten, dass er generell diese Personengruppen ins Blickfeld seiner Architektur- und Stadtgeschichtsschreibung setzt. Zweifellos gibt es aber auch genau an der Art, wie er vorgeht, etliches zu kritisieren. Davis spricht hier für Andere, er erwähnt sie aber immer nur am Rande und verschafft ihnen kein unmittelbares Gehör. Quellen- oder empirische Arbeit werden nicht sichtbar, vieles verweilt im Anekdotischen. Die Beschriebenen werden im ungünstigsten Fall zu Puppen in Davis‘ mächtigen Wortgefechten: „Das alte liberale Paradigma der sozialen Kontrolle, […] ist schon lange einer Rhetorik des sozialen Krieges gewichen, in der die Interessen der städtischen Armen und die der Mittelschichten als Nullsummenspiel gegeneinander aufgerechnet werden“ (ebd.: 260). Wer moderiert hier diese Interessen der „Armen“? Es wirkt nunmehr so, als sei es Davis selbst, der in seinem Text diese Aufrechnung vornimmt. Genau solche Momente machen sein Schreiben und seine aktivistischen Ansprüche gleichermaßen unbequem (im produktiven Sinne) wie ungelenk. Schlussendlich bleibt die Einsicht, dass Davis aus heutiger Sicht mit Sicherheit kein woker Autor ist, besonders in den Bereichen Methodologie und Ausdrucksweise. Inhaltlich gilt es jedoch, sein Auge für die brutalen Realitäten einer Stadt anzuerkennen, die einen andauernden „Klassen- und Rassenkrieg“ (ebd.: 266) durch Raumpolitik zu regulieren versucht. Die Stärken und Schwächen dieser Herangehensweise liegen nah beieinander – so verdichtet sich bei der heutigen Relektüre der Eindruck, dass Davis immer wieder in diese Dilemmata schlittert, die seinen Anspruch nach Sichtbarkeit dieser Gruppen unfreiwillig infrage stellen.

3. Banham’s Four ecologies: Oberflächlichkeit als Programmatik

Wo Davis gewissermaßen am Boden den Alltag marginalisierter Gruppen beobachtet, präferiert Banham einen deutlich komfortableren Zugang zur Stadt: das Auto. Das Durchfahren von Los Angeles ist paradigmatisch für seinen methodologischen Zugang in Four ecologies, „because the point about this giant city, which has grown almost simultaneously all over, is that all its parts are equal and equally accessible from all other parts at once“ (Banham 1971: 36).

Die Aufteilung seines Buches in vier Kapitel, respektive die vier ecologies, kann somit als eine Art Kompass verstanden werden, mit dem sich lesend durch diese „All over“-Stadt navigieren lässt. „Surfurbia“, „Foothills“, „The plains of id“ und „Autopia“ sind die Kapitel als Dimensionen von Los Angeles, die Banham auswählt und die vier für ihn paradigmatische Orte fokussieren: den Strand, die Vorgebirge, die flache Landschaft der Wohngebiete und das städtische Autobahnnetz.

Doch macht das Zitat auch deutlich, wie stark Banhams Sicht auf Los Angeles nicht nur vom Erlebnis des vielen Autofahrens, sondern vor allem von räumlicher Distanz geprägt ist. Um das „all over“ als Struktur des städtischen Wachstums überhaupt erkennen zu können, braucht es den Blick von oben, aus dem Flugzeug (vgl. Asendorf 1997; Dorrian 2007; Haffner 2013). Umgekehrt ermöglicht nur eine solch entkoppelte Sichtweise die luftige Behauptung, dass die Stadt von jedem Punkt aus gleichermaßen zugänglich sei. Es ist demnach egal, welche Richtung man ein- und welches Kapitel man aufschlägt: Es gibt nur einen kurzen Blick zu erhaschen, die Annäherung bleibt ein schwebendes Gleiten über Los Angeles. Die daraus resultierende Oberflächlichkeit ist für Banham kein Problem, sondern ein Qualitätsmerkmal der aus seiner Sicht modernen Herangehensweise, die sich radikal von anderen zeitgenössischen Publikationen abzugrenzen versucht: „Historical monograph? Can such an old-world, academic, and precedent-laden concept claim to embrace so unprecedented a human phenomenon as this city of Our Lady Queen of the Angels of Porciuncula?“ (Banham 1971: 21)

Banhams Interesse an Los Angeles ging seinem Buch voraus. Vorbereitend erschienen 1968 vier 1968 Radiovorträge: „Encounter with Sunset Boulevard“, „Roadscape with rusting nails“, „Beverly Hills, too, is a ghetto“ und „The art of doing your thing“.[1] Die Sendungen werden von der British Broadcasting Corporation (BBC) produziert und markieren gemeinsam mit Banhams Antrittsvorlesung als Professor für Architekturgeschichte am University College London 1970 auch einen Punkt, an dem sein Denken zunehmend institutionalisiert wurde (Banham 1999: viii). Dem Buch folgend wird 1972 die Fernsehdokumentation „Reyner Banham loves Los Angeles“ (1972) erstausgestrahlt, mit Banham und einem Autoradio als Stars des Films. Sie wurde im Rahmen der BBC-Fernsehdokumentationsreihe One pair of eyes (1967-1984) gedreht, als zehnte Episode eines Programms, das „Individuen eine Plattform anbietet, Themen zu diskutieren, die ihnen am Herzen liegen“, wie der Sender schreibt (BBC 2023; Übers. d. A.). Es ist eine carte blanche für Banham und Regisseur Julian Cooper. Die Dokumentation funktioniert, wenig überraschend, als kurzer Tagesroadtrip mit dem Autor im Auto durch die Stadt – begleitet von einem Autoradio-Guide mit weiblicher Stimme. Banham operiert also in seiner Los-Angeles-Forschung multimedial auf öffentlichen Kanälen. Doch nicht nur das unterscheidet ihn grundlegend von Davis. Die methodische und inhaltliche Diskrepanz zwischen Banham und Davis kann beispielhaft an einem umkämpften Ort von Los Angeles gezeigt werden: dem Stadtteil Watts in South Central Los Angeles.

4. Von discriminating zu discriminated: Mit vier Augen nach Watts

Der Aufstand von Watts zieht sich durch „Festung L. A.“ als implizite Grundlage des „Klassen- und Rassenkriegs“, (Davis 1994: 266) und damit für Davis Raumanalysen. „Nach dem Aufstand von Watts und dem Eindruck, entscheidende Knotenpunkte der weißen Macht seien durch die Schwarzen bedroht“, so schreibt er, „rückte die Sicherheit des Raumes durch Resegregation zur höchsten Priorität auf“ (ebd.: 267). Davis setzt die Kenntnis über die Geschehnisse voraus: Die nur sechs Tage – vom 11. bis zum 16. August 1965 andauernden sogenannten Watts Riots entstanden aus einer eskalierenden Kontrolle eines weißen Polizisten von zwei afroamerikanischen Halbbrüdern, denen Alkohol am Steuer nachgewiesen wird. Im Wissen um die strukturell eingeübte Polizeigewalt gegen Afroamerikaner_innen mischen sich Angst, aufgestaute Aggression und ein mobilisiertes Publikum mit konkreter Polizeigewalt, die der leitende Polizeioffizier später als deeskalierende Behandlung mit „kid gloves“ verhöhnt (Queally 2015). In den darauffolgenden Tagen versammeln sich immer wieder friedliche und bewaffnete Gruppen zum Protest, Letztere werden dabei das Bild der riots prägen. In den südöstlichen Stadtteilen Los Angeles’ leben 1965, nach einem Anstieg der afroamerikanischen Bevölkerung von 75.000 auf 650.000 innerhalb von nur 15 Jahren, hauptsächlich black communities, die von funktionierender Infrastruktur, bezahlbaren Wohnraum und einem funktionierenden Bildungssystem abgeschnitten sind (Theoharis 2015).[2] Was sich in den Watts Riots indirekt entlädt, ist die Spannung zwischen der kalifornischen Regierung, der Stadtverwaltung und den Menschen, die die Effekte ihrer mangelnden Unterstützung sowie vorherrschende Diskriminierung aufgrund von race ertragen müssen. Banham nähert sich dem Stadtteil Watts in seinem Dokumentarfilm aufgrund der Empfehlung des Autoradio-Guides. Die Stimme kündigt ihm an:

„Right now, you’re entering Watts, because we believe that the discriminating visitor would want to see what the city of the future is doing to cure the evils of the past. As you look around you could hardly believe it was the center of the worst race riots in the history of California. Since 1965 the local community and the City of Los Angeles have inaugurated a program to rebuilt Watts District and you will see the results as you drive along. If you turn right [...] you are entering the Watts redevelopment projects [...]. Watts was never all problems, there are some beautiful things, too. [...] at the end of this street you will surely know why we brought you this way. These are the famous Watts Towers, a do-it-yourself monument to man’s craving for beauty, executed over a period of thirty-three years by Simon Rodia an untutored genius from Rome, Italy. Enjoy your visit now!“

(Reyner Banham loves Los Angeles 1972: 0:07:10-0:09:07)

Von discriminating zu discriminated braucht man in Los Angeles, so scheint es, nur einmal um den Block zu fahren. Das aufgeräumte Watts macht auf Banham einen durchweg positiven Eindruck. Er stimmt dem Guide zu, dass er jede_n Besucher_in im Zuge einer Tour durch die Stadt hier entlangführen würde. Diese Begeisterung für die Watts Towers, einer heute denkmalgeschützten künstlerisch-architektonischen Konstruktion aus Stahl, dekoriert mit Mosaiken aus Glas, Muscheln und Kacheln, ist auch schon in Four ecologies zu finden. Dort schreibt Banham, dieses „totally self–absorbed and perfected monument“ mit seinem Einfallsreichtum sei zu Recht weltbekannt, denn in ihm – da ist sich Banham einig mit dem Autoradio – zeige sich ein „genuinely original creative spirit“ des Künstlers Simon Rodia (Banham 1971: 129).

Banham schreibt mit großer Begeisterung und altmodischer Idealisierung über ein idiosynkratisches Denkmal in einem hochpolitisierten Raum – mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der Davis die weitreichenden politischen Konsequenzen der riots, vorrangig im Los Angeles Police Department, zur Voraussetzung für Los Angeles’ städtebauliche Politik macht (Davis 1994: 127 f.). Tatsächlich sind die Watts Towers nur zehn Gehminuten vom Einkaufszentrum Martin Luther King Jr. entfernt, in dem Davis ein Paradebeispiel diskriminierender Sicherheitsarchitektur erkennt, das erst als Folge der riots errichtet wurden, um aus dem vernachlässigten Stadtteil Profit zu schlagen (ebd.: 278 f.). Der vom developer Alexander Haagen errichtete Hochsicherheits-Einkaufskomplex mimt in Davis’ Augen das von Jeremy Bentham im 19. Jahrhundert entworfene panoptische Gefängnis (ebd.: 281). Das umzäunte Einkaufszentrum wird mit Videokameras und Lichtschranken aus einer Beobachtungszentrale kontrolliert – die Einwohner_innen von Watts werden bei ihren alltäglichsten Erledigungen überwacht und implizit kriminalisiert.

Banhams Autoradio kommuniziert solche redevelopments im Stadtteil positiv, geradezu erleichtert, ganz nach dem Motto: Watts kann sich wieder sehen lassen. Zwar gab es das Einkaufszentrum 1972 noch nicht, aber Watts als Opfer der „worst race riots in the history of California“ (Reyner Banham loves Los Angeles 1972, 0:07:30-0:07:35) zu beschreiben, ohne den Kontext zu benennen, ist mehr als kurzsichtig. So beschwört Banham eine Erzählung von Los Angeles Stadt der vorbildlichen Zukunft, die nicht „all problems“ (ebd.: 0:08:00) sein will, sondern sich als Teil des von Davis durchweg kritisierten apolitisch erscheinenden Fortschrittsoptimismus wähnt. Das laute Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit für diskriminierte Teile der Bevölkerung wird hier überstimmt von Banhams Faszination der Do-it-yourself-Denkmalsetzung als Konzept der Selbstverwirklichung (Banham 1971: 132). Die Watts Towers geraten in seiner Schilderung zu einem architektonischen Monument persönlicher, künstlerischer Freiheit und verbergen die Sicht auf die Community, in die es eingebettet ist.

Unabhängig voneinander zeigen Davis und Banham bei ihren Ortsbegehungen von Watts, wie weit auseinander räumliche Analysen derselben Nachbarschaft liegen können. Dieser Kontrast mag einerseits an der Vertrautheit liegen, die der Ort für Davis barg. Dieser arbeitete zeitlebens in der Region, abgesehen von einem kurzen Abstecher nach New York. Andererseits mag er an der Faszination liegen, die der Ort aus der Ferne für Banham ausstrahlte, der noch lange nach Erscheinen von Four ecologies an der Bartlett School for Architecture in London lehrte. Davis sah kritisch, oft sogar dystopisch und durch ein linkspolitisch und aktivistisch geschultes Auge auf die sich grenzenlos ausbreitende Stadt und ihre konservativ-liberalen Machteliten. Banham identifizierte aus theoretischem Interesse heraus vier radikal un-europäische ecologies der Stadt und war begeistert von der räumlichen wie auch politisch-regulatorischen Offenheit, mit der dort experimentelle Architektur realisiert werden konnte. Dabei ist Banhams Strategie zwar offen hochsubjektiv, wie auch der Titel seiner Dokumentation belegt, doch ist Davis als local ebenso emotional involviert – nur zeigt sich das mehr in seiner Wut über die stadtpolitischen Entwicklungen, die vor seinen Augen Wirkung entfalten.

5. Banham vs. Davis – Was bleibt?

Dieser Text hat anfangs vorgeschlagen, Potenziale, Problematiken und Limitationen der historischen Architekturforschung herauszuarbeiten, wie sie Davis und Banham betrieben. Eines lässt sich aus heutiger Sicht leicht feststellen: Wo es Davis an transparenter Quellenarbeit und einem reflektierten Umgang mit allyship mangelt, wirkt Banham immer wieder verblendet von seiner eigenen Begeisterung für das Andere, das Los Angeles für ihn als weißen britischen Akademiker darstellt. Er geht mit so viel spielerischem Elan an den Gegenstand, dass jegliche (selbst-)kritischen Analysen ausbleiben. In mancher Hinsicht ist das Schreiben der beiden so auf zwei Seiten einer Medaille anzusiedeln. Weder – und da liegt ihre gemeinsame Limitation, – lässt sich Los Angeles allein mit einem pessimistischen Rundumschlag begreifen, noch durch eine rosarote Brille. Wo Davis sich in City of quartz über Kapitel hinweg ausschließlich mit dem Herausarbeiten von Ensembles menschenfeindlicher Architektur beschäftigt, aber keine Lichtblicke zeigt – beispielsweise in Bezug auf die Aneignung solcher Räume – scheint Banham keine einzige Schattenseite zu sehen.

So bleibt zu fragen, was beide Autoren zur historischen Architektur­forschung heute noch beitragen können und wo ihre Perspektiven fruchtbar gemacht werden können. Mitzunehmen ist zunächst Davis’ Anspruch, die wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen als Bedingung für die Architekturproduktion in Los Angeles ernst zu nehmen und ihre Protagonist_innen gleichsam als Architekt_innen zu begreifen. Hinzu kommt die für Davis zentrale Frage der Nutzer_innen: Was passiert mit Architektur, wenn sie da ist? Wer baut für wen – und für wen nicht? Es geht niemals nur um Pläne, Vorhaben oder Ideen. Stattdessen gilt es, das Danach des gebauten Raumes zu betrachten. Diese Herangehensweisen sind auch Vorreiter für die heute im Vordergrund stehenden Fragen nach race, class und gender, nach Teilhabe und Unsichtbarkeiten bei Forschungsgegenständen, aber auch allgemeiner in unseren historiografischen Methoden. Banhams Leistung besteht wiederum darin, Los Angeles für viele Architekturforscher_innen im westlichen Kontext überhaupt sichtbar gemacht zu haben. Er reüssierte eben darin, mit Affirmation ein Forschungsfeld zu (re-)aktivieren – was manchmal notwendig ist, um darauf aufbauend Kritik üben zu können, wie Davis es tat. Dieser Rhythmus zweier Reflexe bleibt im Grunde zeitlos. So kann Banham uns heute daran erinnern, dass kein Thema zu weit weg, kein Interesse irrelevant ist: Nicht nur in der Kritik werden marginalisierte Themen und Personen sichtbar, sondern ebenfalls in von Begeisterung getragenen Schilderungen.

Zuletzt kann man für beide Autoren festhalten, dass es heute weniger darum geht, sich allein auf die polarisierenden Elemente zu konzentrieren, sondern die Prozesse um die Architekturproduktion und ihre Folgen in ihrer Gesamtheit zu betrachten – als etwas Dynamisches. Los Angeles ist und bleibt ständig stetig in Bewegung, das wusste schon Banhams Autoradio, als es gegen Ende der Dokumentation den von Smog gefüllten, bunten Sonnenuntergang kommentierte: „The best of it doesn’t last long!“ (Reyner Banham loves Los Angeles 1972, 0:49:55-0:49:58)