Tropische Pflanzen räkeln sich vor gleißenden Bürotürmen. Entlang der Spazierwege sprudeln Wasserfontänen. „You did great“, steht in farbigen Buchstaben an einem der Bürofenster.[1] Zwischen Outdoor-Kaffeetischen in Google-Farben bietet sich ein Kickerkasten zum Spiel an, genau wie im Techbüro. Sicherheitsbedienstete stehen gelangweilt neben Bambuswäldchen und checken ihr Smartphone. Wir befinden uns in San Franciscos Salesforce Park, wo alle willkommen sind, wie auf einem Schild versichert wird (vgl. Abb. 1 und 2). Und tatsächlich ist der bespielte Lustgarten auf dem Dach des neuen Transit Centers in Downtown, der auch mit einer Gondel erreichbar ist, in öffentlicher Hand. Salesforce, das Plattformunternehmen mit dem höchsten und ungemein phallischen Wolkenkratzer der Stadt, hat schlicht das Namensrecht gekauft, für lumpige 110 Millionen Dollar (King 2017). Der ähnlich animierte Market Square im nahe gelegenen Twitter-Welthauptsitz hingegen, genauso wie der Meta Park von Facebooks Mutterfirma, sind in Privatbesitz, nominell aber öffentlich zugänglich.
Mike Davis hatte ein ungemein scharfes Auge für solche Verschiebungen und Verwischungen zwischen öffentlichen und privaten Räumen. In seinen Stadtanalysen der frühen 1990er-Jahre, und insbesondere im Kapitel „Festung L.A.“ von City of quartz, beschreibt er eindringlich, wie die Schaffung und Bespielung von „schicken, pseudo-öffentlichen Räume[n]“ mit der Militarisierung des städtischen Lebens und also einer Verhärtung der Oberfläche der Stadt Hand in Hand gehen (Davis 2006 [1990]: 220, 218). Seine scharfsinnigen und fesselnden Studien über Los Angeles haben meinen eigenen Blick auf den (sub)urbanen Raum geschult und geprägt.[2] Die repressive Funktion der Form der Stadt, die Davis in einer „Architektur sozialer Trennungslinien“ (ebd.: 218) und der Errichtung eigentlicher „Festungsstädte“ (ebd.: 219) festmacht, kritisiert er aber nicht einfach aus einer Designperspektive. Die Verhärtung der Oberfläche der Stadt, so Davis, ist eine bewusste sozialräumliche Strategie (ebd.: 224), eine „Archisemiotik des Klassenkrieges“ (ebd.: 225).
Der Blick auf den stark polarisierten Stadtraum San Franciscos zeigt, dass Davis’ Analysen unser Verständnis der entsprechenden sozialräumlichen Prozesse auch drei Jahrzehnte später noch maßgeblich bereichern. Gleichzeitig verlaufen die Verwischungen zwischen öffentlichen und privaten Räumen heute oft subtiler als im von ihm beschriebenen Bunker Hill der 1990er-Jahre, wo der Name Konzept ist. Im Digitalkapitalismus, so meine These, finden die Verhärtungen hingegen vermehrt auch unter der Oberfläche statt, mittels einer im Hintergrund ablaufenden Dateninfrastruktur. Die Inszenierung und Bespielung halb-öffentlicher Räume ist derweil vom Innern privatisierter Gebäude nach außen gestülpt worden, auf die Straße. Fließende Grenzen und weiche, einladende Oberflächen werden favorisiert. Urbanität ist eine Ressource, ein Input für die wissensbasierten Produktionsprozesse von Big Tech. Die Stadt ist ein Labor, eine eigentliche Datenfabrik (Becker 2021), die angemessen stimuliert und „aktiviert“ werden muss, um urbane Praktiken anzuzapfen und in profitträchtige Bahnen zu kanalisieren. Die Kaperung der durch diese alltäglichen Aktivitäten erzeugten Daten findet jedoch im Hintergrund statt, durch die privatisierte Infrastruktur firmeneigner Plattformen zum Beispiel. Elektronische Schranken bestimmen über den Zugang zu einem Gebäude oder einer Dienstleistung (vgl. Abb. 4). Der Festungsarchitektur wird von einer Vektorinfrastruktur der Rang abgelaufen. In Anlehnung an die Arbeiten von McKenzie Wark (2019) verweise ich mit diesem Begriff auf die zentrale Rolle der Infrastruktur oder eben Vektoren, mittels derer Daten übermittelt, kanalisiert, abgezapft und kommodifiziert werden. Im Digitalkapitalismus haben solche Prozesse, und damit die Besitzverhältnisse der Dateninfrastruktur, an strategischer Bedeutung gewonnen (vgl. Abb. 3).
Hübsch sieht das aus. Glasfassaden, die nicht verspiegelt sind. „What are you feeling today?“ fragt ein spielerisches Modul auf der Market Street die Passant*innen, die mit farbigen Bällen ihr emotionales Befinden ausdrücken können (vgl. Abb. 4). Die Straße selbst wird zur „Innovationszone“, aktiviert mittels „Prototyping-Festivals“ und Mitmach-Firlefanz.[3] „Pop-up-Wälder“ und streetlife nodes laden in Analogie zu den gamifizierten Techbüros zum Verweilen und zur „Wissenszirkulation“ ein. „Echo-Röhren“ und ein „Feedback-Xylophon“ fordern Passant*innen im Sound Commons zur spielerischen Partizipation auf: drück dich aus und entfalte dein Selbst, genau wie in den sozialen Medien. Unmittelbar neben den gehäkelten Baumfiguren und einladenden Sitzmodulen prangt jedoch ein Schild, das alle Tätigkeiten auflistet, die im öffentlichen Raum verboten sind: schlafen, liegen, zelten, kochen, pinkeln, betteln und sogar auf dem Boden sitzen. Ein privater Wachmann patrouilliert zwischen den Food-Trucks, die einen anregenden Lunch-Spot für jene mit den richtigen Badges (oder angemessener Kaufkraft) kreieren.
Für die vielen Wohnungslosen, die in unmittelbarer Nähe der üppigen Techbüros auf der Straße überleben müssen, verhärtet sich die Oberfläche der Stadt stattdessen. Genau wie von Davis (2006 [1990]: 226) beschrieben, findet Repression unweit der bespielten weichen Oberflächen nach wie vor brachial im städtischen Raum statt, notabene mit der Kriminalisierung von Körpern, die notgedrungen im öffentlichen Raum existieren müssen, aber unerwünscht sind.[4] Die Verschmelzung von Architektur und Polizeiapparat, die Davis beschreibt (ebd.: 222), wurde jedoch um ein drittes Element verfeinert: den Technologisch-Militärisch-Industriellen-Komplex. So spielen unter der Oberfläche ablaufende Logiken von algorithmisch-gesteuertem Policing oder app-basierter „Bürger*innenbeteiligung“ auch in der Kriminalisierung von Wohnungslosen eine zunehmend wichtige Rolle.[5] Ein Beispiel wäre die städtische 311-App, mittels derer „Beeinträchtigungen der Lebensqualität“ wie etwa Lärm, Sprayereien oder eben die Anwesenheit von Wohnungslosen bequem über ein paar Klicks gemeldet werden können. Die Befindlichkeiten von Neuzugezogenen und Besserverdienenden haben so direkten Einfluss auf die Polizeiarbeit, zum großen Nachteil jener, deren Wohlbefinden in der Logik der Downtown-Aufwertung nicht von Interesse ist.
Die „Aktivierung“ von Stadtbewohner*innen als Datenproduzent*innen und die Kaperung der öffentlichen Infrastruktur gehören entsprechend zu den zentralen Bestrebungen der Plattformwirtschaft, die sich in der Innenstadt San Franciscos angesiedelt hat. Durch die Integration von pseudo-öffentlichen Räumen in ihren Konzernstandorten und die Übernahme von Patenschaften (und Namensrechten) für öffentliche Krankenhäuser, Transitzentren und Parks preisen sich Plattformfirmen wie Meta, Salesforce und Twitter als ideale Anbieter ehemals öffentlicher Ressourcen und Dienstleistungen an (vgl. Abb. 6). Gleichzeitig setzen sie mit ihren plattformbasierten Geschäftsmodellen auf die Zerschlagung städtischer und gewerkschaftlich organisierter Sektoren wie den öffentlichen Nahverkehr (Uber), die Hotelindustrie (Airbnb) oder die Newsbranche (Meta, Twitter). „Disruption“ heißt das im Techjargon.
Die Verschmelzung von digitalem und städtischem Raum ist für diese Prozesse von Bedeutung, wobei der Stadtraum zunehmend als Verlängerung von virtuellen Prozessen gedacht wird. Ein Spaziergang entlang der Market Street verdeutlicht diese Dynamiken – zum Beispiel auch durch die Präsenz von Akteuren, die nur auf den zweiten Blick mit der Plattformindustrie verbandelt sind. Eine Filiale der Biosupermarktkette Whole Foods etwa verweist auf die Expansionsgelüste des Onlineversand-Riesen Amazon, der sich die Kette einverleibt hat. Das Zusammenführen von beobachtetem Kund*innenverhalten im virtuellen und physischen Raum verbessert die algorithmische Vorhersage und steuert das Nutzer*innenverhalten noch umfassender und subtiler (Sadowski 2020).
Ein paar Blocks weiter verkündet eine Schaufensterwerbung einen neuen Meeting Hub: „Hej – we are creating your new meeting place, an extra space to be yourself!“ Was nach einem weiteren Techbüro oder Co-Working-Space klingt – wo Arbeit eine „Experience“ ist, die dein „ganzes Selbst“ ausbeutet, ganzheitlich und rund um die Uhr – ist in Tat und Wahrheit eine neue Filiale der IKEA-Kette, bekannt für ihre vorfabrizierten Massenmöbel (vgl. Abb. 9). In zeitgemäßem Techjargon brandet sich der Möbelriese hier stattdessen als Livat, schwedisch für lively gathering. Gleichzeitig hat sich der Konzern jüngst die Plattformfirma TaskRabbit einverleibt. Das Zusammenbauen von IKEA-Möbeln gehört schon lange zu den gängigen Aufträgen vieler „Taskers“, die über eine App angeheuert werden, um einzelne Hilfsarbeiten zu verrichten, oft bei den Kund*innen zu Hause. Indem IKEA die prekären Gig-Arbeiter*innen gleich auch mitliefert und kontrolliert, kann das Unternehmen Konsum- und Arbeitsprozesse noch besser erfassen, steuern und verschmelzen.
Synergien dieser Art verbessern die sogenannte Verbraucher*innenfreundlichkeit (noch reibungsloser, personalisierter Konsum) und stärken die Monopolbildung und Datenoptimierung von Techkonzernen. Das klassische Beispiel ist Uber, die ihren Welthauptsitz ebenfalls an der Market Street angesiedelt haben: Mit investorengestützten Dumping-Preisen und Zusatzangeboten wie UberEats, UberHealth und den notorischen Uber-Jump-Bikes versucht der Konzern, möglichst viele Verkehrsbereiche und Datenströme unter seine Kontrolle zu bringen (vgl. Abb. 8). Dies wiederum begünstigt die Aushöhlung des öffentlichen Nahverkehrs, prekarisiert die Arbeitsbedingungen verschiedener Branchen (Taxiindustrie, Essensauslieferung usw.) und spitzt die sozialräumliche Polarisierung weiter zu.
Zynischerweise hat die Stadtregierung die Ansiedlung von genau solchen Akteuren mit öffentlichen Subventionen gefördert, indem 2011 im Umkreis des zukünftigen Twitter-Welthauptsitzes eine steuerbegünstigte Zone geschaffen wurde (Office of the Controller 2011). Nebst Twitter gehören auch Uber und Square zu den Profiteuren. In der Logik neoliberaler Trickle-down-Ansätze wurden diese Plattformunternehmen als „Katalysatoren“ für die „Revitalisierung“ eines problembeladenen innerstädtischen Stadtteils gepriesen, der damit einer „höheren Ausnutzung“ zugeführt werden könne. Sprich, die Nutzung durch Menschen mit analog „unzureichend ausgeschöpftem Potenzial“ solle – in der Logik genannter Marketingmaterialien – bitte schön einer kaufkräftigeren und besser optimierten Klientel weichen.[6]
Trotz kurzzeitigem Boom waren diese Versprechungen in der Realität natürlich immer auch von einer Intensivierung der sozialräumlichen Polarisierung, von Kriminalisierung, Verdrängung und einer Eskalation der Wohnungskrise begleitet (Schwaller 2019; Anti-Eviction Mapping Project 2021). Nach drei Jahren Covid-19-Pandemie mit weitverbreiteten Homeoffice-Mandaten großer Techkonzerne gleicht die Twitter-Steuererleichterungszone hingegen tatsächlich einer (post-)apokalyptischen Landschaft, die direkt einem Mike-Davis-Buch entsprungen sein könnte. Neben den improvisierten Behausungen von Wohnungslosen, die inmitten von Pandemie, Fentanyl-Krise[7] und rassistischem Policing auf der Straße überleben müssen, reihen sich brandneue, aber weitgehend leer stehende Luxuswohntürme, die mit üppigen Dachterrassen, hauseigenem Swimmingpool und Concierge-Service werben (vgl. Abb. 10). Wer hier wohnt, muss sich erst gar nicht mehr auf die nach Urin stinkende Straße begeben, scheinen die opulenten Werbeposter zu versprechen. Ein privater Sicherheitsbediensteter schnauzt eine Frau an, die im verspiegelten Fenster eines neuen Edelwohnkomplexes ihr dreckverkrustetes Gesicht begutachtet. Lange Schlangen vor Suppenküchen winden sich um hippe Co-Working-Büros mit kecken Leitsprüchen und stylish-spielerischer Inneneinrichtung. An den zugenagelten Geschäften und Coffeeshops, die während der Pandemie mangels Kundschaft eingegangen sind, feilschen Schilder vergebens um Interessent*innen für leer stehende Büroräume und Ladenflächen (vgl. Abb. 11).
Nur zehn Jahre nach der Ausschüttung großzügiger Steuererleichterungen für Techkonzerne zur Wiederbelebung der Downtown stehen aufgrund der gegenwärtigen Remote-Working-Trends und dem Downsizing der Immobilienportfolios vieler Plattformunternehmen über 30 Prozent der Büroflächen leer. Die von Grund- und Gewerbesteuern abhängigen Stadtfinanzen befinden sich in freiem Fall. Sogar die Finanzierung der U-Bahn, welche die Innenstadt mit anderen Stadtteilen und den benachbarten Großstädten Oakland und Berkeley verbindet, steht mangels pendelnder Techarbeitender und fehlender öffentlicher Subventionen auf der Kippe (Li/Arroyo 2023). Bereits fordern wirtschaftsliberale Stimmen (wie z. B. Bürgermeisterin London Breed) weitere Steueranreize, um Techkonzerne ausgerechnet in die weltbekannte Hochburg des Digitalkapitalismus zu locken. Boom und bust verlaufen zeitgleich: Während Techkonzerne ihren Einfluss während der Pandemie weiter ausbauen konnten und die Büro- und Wohnungspreise nach wie vor zu den weltweit höchsten gehören, liegt der öffentliche Sektor auf dem Sterbebett. Die zugenagelten Geschäfte an der Market Street sprechen Bände über die lokalräumlichen Auswirkungen von Konzernen, die sich gerne als körperlose, dem Raum und der Zeit entflohene Zukunftswelten à la Metaverse präsentieren.
Anders als die von Mike Davis beschriebene Segregation ganzer Stadtteile, die in der Errichtung eigentlicher Festungsstädte wie Bunker Hill mündet, manifestiert sich die starke soziale Polarisierung im San Francisco der 2020er-Jahre hingegen in einer viel kleinräumlicheren Fragmentierung des städtischen Raumes, mit kleinen Sprenkeln von Luxus- und Hightech-Enklaven inmitten der „sadistischen Straßenumwelten“ (Davis 2006 [1990]: 226). Zwar ist die Bespielung und Inszenierung von weichen Oberflächen mit dem (Post-)Pandemie-Backlash teilweise wieder einer offenen Verhärtung des Stadtraumes gewichen, wie obige Beispiele verdeutlichen. Insgesamt verlaufen die Grenzen jedoch fließender und funktioniert der Ausschluss oft über subtile, „unsichtbare“ Zeichen, die häufig nur von denen gelesen werden, die von ihnen zum Gehen aufgefordert werden (wie Davis schön beschreibt, vgl. ebd.: 220). Wer sich hingegen ungestört im künstlichen Grün in Twitters „Chicotel Commons“ sonnen kann, einer nominal öffentlich zugänglichen, aber faktisch privatisierten Plaza, kann diese Verdrängungsprozesse leicht ausblenden (vgl. Abb. 12). Die dezenten Kameras, der freundliche Wachmann, der makellose Kunstrasen, die Lagerfeuerästhetik wie aus dem Werbekatalog, die jungen Techangestellten mit ihren modischen Haarschnitten und teuren Smartphones – wer nicht ausgeschlossen ist, kann sich hier durchaus eingeschlossen fühlen.[8] In Tat und Wahrheit sind diese vermeintlich öffentlichen Räume stark gefiltert – wo sind die Alten, Kranken und Mittellosen, die widerspenstigen Teenager oder Menschen, die soziale Reproduktionsarbeit leisten? Dass Öffentlichkeit vielmehr simuliert wird, fällt mit der zunehmenden Normalisierung (sowohl im städtischen als auch virtuellen Raum) irgendwann kaum mehr auf. „Wenn diese Skinnersche Partitur gut dirigiert wird“, entsteht so in der Tat, wie Davis (2006 [1990]: 248) schreibt, „eine richtiggehende Einkaufssymphonie wimmelnder, konsumierender Nomaden“. Diese findet nun jedoch nicht mehr nur im städtischen, sondern auch im virtuellen Raum und insbesondere in einer Verschmelzung der beiden statt.[9]
Doch auch in diesen Fantasiewelten zeigen sich neuerlich Risse. Die von Elon Musk geforderte „Hardcore“-Arbeitskultur (Milmo 2022), die jüngsten Massenentlassungen im Techsektor (Jiang 2022) und der gesellschaftliche Backlash gegen die Machenschaften von Big Tech (insbesondere seit dem Aufstieg Donald Trumps 2016) sind auch an den Plattformunternehmen in San Francisco nicht spurlos vorbeigegangen. Immer öfter kommt es zu Zusammenschlüssen von kritischen Techarbeitenden, Stadtteilaktivist*innen, prekären Plattform-Arbeitenden, Migrationsaktivist*innen und anderen kritischen Stimmen, die sich gegen die sozialen, arbeitsrechtlichen und umweltpolitischen Auswirkungen von Big Tech sowie gegen deren Kaperung der öffentlichen Infrastruktur gemeinsam organisieren. Wie von Davis antizipiert, ist der städtische Raum weder vollständig befriedet noch restlos durch (Plattform-)Unternehmen gekapert. Die nächste Revolte braut sich potenziell jederzeit am Horizont zusammen, bleibt aber unberechenbar (Davis 2006 [1990]: 250). Proteste vor den Welthauptsitzen und Techbüros an der Market Street – von Uber über Twitter bis Amazon – sind in den letzten Jahren jedenfalls nicht ausgeblieben (vgl. Abb. 13 u. 14). Ob Raumpfleger*innen und Hausmeister*innen von Twitter, prekäre Gig-Arbeiter*innen von Uber oder breite Koalitionen, die sich gegen die Zusammenarbeit von Amazon mit der Migrationspolizei ICE und die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in Amazon-Logistikzentren wehren – die Zentralen der bekannterweise besonders gewerkschaftsfeindlichen Techkonzerne, in denen Arbeit gerne als Selbstverwirklichung inszeniert wird, sind neuerdings zu Orten sozialer Proteste geworden.
Besonders eindrücklich waren die Black-Lives-Matter-Proteste in der frühen Lockdownphase der Covid-19-Pandemie im Juni 2020, im Anschluss an die Ermordung George Floyds durch die Polizei in Minneapolis. In einer Innenstadt, die bis auf die improvisierten Zelte von Wohnungslosen leer gefegt und stillgelegt war, kamen plötzlich Tausende von Menschen zusammen, um gegen rassistische Polizeigewalt, aber auch die Zusammenhänge von Rassismus, ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, die Verdrängungskrise und die Rolle von Big Tech zu protestieren. Hastig hochgezogene Bretterwände an den pandemiebedingt leer stehenden Hauptsitzen von Twitter & Co. zeigten anschaulich, wie ernst es diesen Firmen in ihrem viel beschworenen Engagement für den lokalen städtischen Raum tatsächlich ist (vgl. Abb. 15).[10] Und wie sehr sie sich dem Zorn städtischer Bevölkerungsgruppen bewusst sind, die gerne in diversitätsbetonten Marketingbroschüren in Hochglanz abgebildet werden. Die jedoch im Umkreis dieser Unternehmenswelthauptsitze ständig damit rechnen müssen, rassistischer Polizeigewalt zum Opfer zu fallen oder anderweitig von der extremen sozialen Polarisierung betroffen zu sein – „exotisches Gestrüpp oder avantgardistische Straßenmöbel“ zur Bespielung öffentlicher Plätze hin oder her (Davis 2006 [1990]: 226).
Mike Davis’ Analysen, so viel steht fest, werden noch lange nachklingen. Für gegenwärtige „Ausgrabungen der Zukunft“ lohnt es sich jedoch durchaus, auch in den (zukünftigen) Ruinen des Techbooms in der Innenstadt San Franciscos vorbeizuschauen. Hier zeigen sich neuartige Formen von Steuerung und Kommodifizierung über Dateninfrastrukturen im städtischen Raum. Entlang der entstehenden Risse stellen sich aber auch dringende Fragen nach der Organisation des städtischen Zusammenlebens, der Umstrukturierung von Arbeit, Leben und sozialer Reproduktion. Die halb leer stehenden Techbüros verweisen als gebaute Umwelt auf vergangene techno-utopische Heilsfantasien und Fehler der städtischen Raumplanung, die noch immer wirkmächtig sind. Gleichfalls verweisen sie auf Prozesse, Orte und Zulieferketten, die in den strahlenden Hightech-Simulationswelten gerne ausgeblendet werden: Ressourcenabbau, hochprekäre iPhone-Fabriken, Gig-Arbeit, Kriegsindustrie und Export von giftigem Elektromüll in den Global Süden zum Beispiel. Als Entwickler digitaler Applikationen und Hardware befördern sie die Mobilität von Kapital und Arbeit, was wiederum neuen Formen von Offshoring, Outsourcing und Remote-Work-Trends Auftrieb gibt und die sozialräumliche Umstrukturierung vorantreibt (vgl. Abb. 16).
Genannt sei hier etwa das ebenfalls in San Francisco ansässige Unternehmen Airbnb, das seine Plattform seit der Pandemie als Infrastruktur für das Leben und Arbeiten losgelöst von einem festen Ort vermarktet. „Digitale Nomad*innen“ könnten von exotischen „Destinationen“ aus arbeiten und dazu auch noch Drinks schlürfen, die auf Bali oder in Mexico City viel günstiger zu erwerben sind. Um von Airbnb als ideale „Remote-Work-Destination“ vermarktet zu werden, fordert das Unternehmen von Städten und Regionen ähnliche Anreize, wie sie in San Franciscos steuerbegünstigter Zone zum Einsatz kamen – nun einfach auf individuelle Techarbeitende umgemünzt: beschleunigte Visaprozesse, Steuererleichterungen, spezielle Kulturangebote und deregulierte Bedingungen für Plattformunternehmen wie Airbnb (Airbnb 2022). In Partnerstädten wie Mexico City lässt sich derweil beobachten, wie sich aus San Francisco exportierte Boomtown-Probleme wie innerstädtische Verdrängungsprozesse und extreme soziale Polarisierung durch Plattformunternehmen unter neokolonialen Bedingungen zuspitzen (Nguyen 2022).
In San Francisco wird indes diskutiert, wie leer stehender Büroraum in dringend benötigte Wohnungen verwandelt werden könnte – ein komplizierter Umzonungsprozess, der ebenso gut weitere Luxuswohnungen statt bezahlbaren Wohnraum auf den Markt werfen könnte (Redmond 2023). Gleichzeitig vermarktet Airbnb auch hier bestehenden (und oft noch halbwegs bezahlbaren) Wohnraum als Arbeitsraum für Tech-Worker-Retreats und Co-Working-Sessions. Die zugenagelten Geschäfte und halb leeren Tech-Weltsitze an der Market Street, so viel steht fest, verweisen gleichfalls auf eine unsichere und umkämpfte Gegenwart und Zukunft. Die Ausblutung der US-Städte und das neoliberale Standortmarketing, das Davis diskutiert, zeigt hier seine toxischen Früchte, perfektioniert durch die Plattformen und Praktiken von Firmen, wie sie an San Franciscos Market Street ansässig sind. Finden sich in den entstehenden Rissen und Ruinen eines vergangenen Booms auch Ansätze für translokale Solidaritäten und Aneignungen jenseits von Big Tech? Mike Davis, der „doom and gloom“-Prophet, blieb zeitlebens Optimist – ein radikaler Optimismus, der die Handlungs- und Widerstandsfähigkeit der Bewohner*innen in den Vordergrund stellt. San Francisco ist vielleicht doomed, wie die lokale Punkband Crime bereits in den 1970er-Jahren konstatierte. Aber am Ende ist die Stadt an der Bay noch lange nicht.