sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 371-378

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Debatte zu: Mike Davis’ „Festung L.A.“ (2006 [1990])

Kommentare von: Sina Brückner-Amin, Stefan Höhne, Roger Keil, Stephan Lanz, Boris Michel, Katja Schwaller, Rainer Wendling

Mike Davis: Erinnerungen an einen Giganten der Großzügigkeit

Kommentar zu Mike Davis’ „Festung L.A.“ (2006 [1990])

Roger Keil

Ich traf Mike Davis zum ersten Mal im November 1986 auf dem Rückweg von Los Angeles nach Frankfurt.[1] Ein Besuch bei meiner Schwester in England während eines Zwischenstopps in London gab mir die Gelegenheit, Mike persönlich zu treffen, nachdem ich zuvor mit ihm per Brief korrespondiert hatte. Das Arrangieren interkontinentaler Reisen, Korrespondenz, das Lesen von Entwürfen vor der Veröffentlichung – nichts davon geschah damals in der Geschwindigkeit, an die wir heute gewöhnt sind. Kein Internet, keine E-Mails, keine PDFs. Ein Freund in L. A. hatte mir die Fotokopie eines von Mike geschriebenen Entwurfspapiers mit dem Titel „Sunshine and the open shop: The urbanization of Los Angeles – 1880-1930“ gegeben. Eine Version davon wurde, wie Tom Reifer mich erinnerte, viel später veröffentlicht, als Kapitel in einem Buch, herausgegeben von Tom Sitton und Bill Deverell (Davis 2001). Auf dem Artikel stand die Adresse von Mike Davis: c/o NLR, 7 Carlisle St., London W1. Ich hatte Mike wegen dieses Aufsatzes an besagte Adresse geschrieben und wie durch ein Wunder eine freundliche Einladung erhalten, ihn bei meiner Durchreise in London zu besuchen.

Das besagte Papier war eine Offenbarung. „Sunshine and the open shop“ war genau das, was ich brauchte, um mein Denken zu strukturieren, als ich in Los Angeles mit der Recherche für meine politikwissenschaftliche Dissertation begann (veröffentlicht auf Deutsch als Keil 1993). Das Papier war wie nichts, was ich jemals zuvor gelesen hatte. Es verband mühelos konzeptionelle Innovation mit sowohl breiten Strichen als auch akribischen Details der Geschichte der Stadtregion Los Angeles. Ich wollte den Mann treffen, der das geschrieben hatte. Viel später lernte ich das Muster dieses Papiers als Markenzeichen von Davis’ unverwechselbarem Stil kennen. Er war in der akademischen Welt immer etwas marginalisiert – teils weil er es so wollte, teils aufgrund der Unfähigkeit der Akademie, ihn zu einem willkommenen Mitglied zu machen – war er einer der konsequentesten und zuverlässigsten theoretischen Innovatoren sowie der Weltmeister des Details und der empirischen Tiefe. Er verschlang Unmengen von Literatur zu jedem Thema und verarbeitete das Destillat in seinem erstaunlich produktiven Werk. Als ich einmal viel später in seinem Haus in Pasadena wohnte, kam jeden Tag ein Paket Bücher an, bis der Flur des Hauses nicht mehr begehbar war.

Wo andere an der Oberfläche kratzten und sich in Neologismen und Binsenweisheiten verloren, arbeitete Mike an den unterschwelligen und widersprüchlichen Schichten der Welt. „Sunshine and the open shop“ war der Wegbereiter eines Gedankens, den viele später aufgriffen und auf dem sie Karrieren aufbauten: die Anwendung des – damals neuartigen – Konzepts des Akkumulationsregimes aus der französischen Regulationsschule auf die „Erklärung der Einheit der Klassenbildung und der Produktionsverhältnisse innerhalb bestimmter metropolitaner räumlicher Strukturen“ (Davis 1986a, eigene Übersetzung). Die Idee war revolutionär, da sie das Städtische zu einem prägenden Ort im Prozess der kapitalistischen Akkumulation machte und nicht nur zu einem Platz, an dem nationale politische Ökonomien ihren lokalen Ausdruck fanden. Davis befreite die „Stadt“ begrifflich als eine Form sozialräumlicher Organisation, indem er ihr die Fähigkeit attestierte, ihre eigenen historischen Geographien zu schaffen. Dieses Sehen aus der Perspektive des Städtischen (seeing like a city), war später nie wieder auf den vorherrschenden epistemischen Nationalismus reduzierbar – und es trieb meine eigene These von der lokalen Politik der Internationalisierung in Los Angeles voran.

An jenem Novembernachmittag im Jahr 1986 traf Mike meine Schwester und mich in einem einfachen Teehaus im Londoner Stadtteil Soho. Er nahm uns mit zu den Büros der New Left Review (NLR), über denen er eine Wohnung hatte. Er brachte uns für die Nacht unter, verpflegte uns vom Bankett einer Redaktionssitzung der NLR und „klaute“ eine Flasche teuren Bordeaux vom Buffet. An diesem Abend bekam ich einen ersten Vorgeschmack auf Mikes unvergleichliches Geschichtenerzählen. Er unterhielt uns mit Anekdoten und Analysen seiner Rolle in der Linken im Los Angeles der 1960er Jahre – einer frühen Version dessen, was viel später sein Buch zu diesem Thema wurde, das zusammen mit Jon Wiener verfasste Set the night on fire: L. A. in the sixties (Davis/Wiener 2021). Die intellektuelle und gastfreundliche Großzügigkeit, die Mike an jenem Abend in London zeigte, war nur das erste Beispiel von vielen, die ich in den folgenden Jahren erlebte, als er sein Haus öffnete, Verbindungen knüpfte, seine Weisheit teilte und andere inspirierte. In Los Angeles, wo wir eine dauerhafte Freundschaft entwickelten, als wir beide 1987 dorthin zurückkehrten, veranstaltete er in seinem Haus eine Reihe informeller Salons. Bei diesen stellte er Personen aus sozialen Bereichen, die in dieser Stadt streng voneinander getrennt waren, einander vor, um gemeinsam Gutes und Radikales zu tun. Er passte sich nie an irgendwelche Standards oder Erwartungen an. In der Linken war er eine einigende Kraft in einem Meer des Sektierertums. In seiner Nähe traf man immer auf etwas Kollektives, eine Art organischen Kommunismus, eine Art bessere Welt in Bewegung. Seine Versuche zur Gemeinschaftsbildung in der Linken – zum Beispiel durch Organisationen wie „City Line“ in L. A. – waren unerbittlich und fruchtbar. Er schmiedete Allianzen über die Gräben hinweg, über die er in City of quartz (Davis 1990) und anderswo schrieb.

Ich habe noch etwas anderes von jener Herbstnacht in Soho mitgenommen. Der Mann, der später vielleicht zum meistgelesenen urbanen Theoretiker des späten 20. Jahrhunderts wurde, hielt in einem Terrarium in seiner Londoner Wohnung eine große Eidechse. Die Kreatur, angeblich ein Haustier seiner Tochter Roisin, war auch eine Erinnerung daran, dass die Stadt, über die Mike schrieb, immer größer war als Straßen und Strukturen der gebauten und sozialen Umwelt. Sie war ein Symbol für die wichtige Rolle, die die nicht menschliche Natur im Allgemeinen und die Wüste im Besonderen dabei spielen würden, wie Mike die Stadt der Menschen sähe. Schlangen in Toiletten (Keil 2019: 21) und Eidechsen in Gefangenschaft – ebenso wie Erdbeben, Epidemien, Überschwemmungen, Brände und Stürme – waren immer Teil des konzeptuellen Universums, das Mike aus der Stadt konstruierte. Der Slogan der 68er, dass da irgendwo unter dem Pflaster der Strand sei, war in seinem Werk nicht nur Ausdruck politischer Hoffnung und revolutionärer Begeisterung, sondern eine Bedingung des Städtischen selbst – Teil des Stoffwechselsubstrats unserer Lebensweise. Mike war einer der ursprünglichen TheoretikerInnen der Denkschule, die später als Urbane Politische Ökologie bezeichnet wurde, und er blieb in diesem Kontext bis zum Ende einflussreich (Davis 2023).

Mit Mike war man immer in der Gegenwart der Geschichte. Er überwand die engen Grenzen der akademischen Welt und der lokalen Kontexte, in denen sich die meisten Menschen einen Namen gemacht haben. In jener Novembernacht in London hörte ich zum ersten Mal von seinen engen Beziehungen mit Menschen, die ich als historische Persönlichkeiten aus meinem Studium der amerikanischen Geschichte und Politik an der Goethe-Universität kannte. Mike war zum Beispiel mit Angela Davis befreundet, die in Form ihres ikonischen Posters aus den 1970er Jahren in vielen deutschen Studierendenwohnungen eine geisterhafte Präsenz hatte. Aber nun traf ich jemanden, der sie tatsächlich kannte. Viele weitere solcher Beziehungen offenbarten sich im Laufe der Zeit. Als ich in den 1990er Jahren nach Kanada zog, brachte mich Mike mit Leo Panitch in Kontakt, er gab mich sozusagen weiter an GenossInnen in Toronto und Ottawa, die mich unter ihre Fittiche nahmen, während ich als junger Wissenschaftler an der York University anfing.

Am schicksalhaften Abend des 29. April 1992, dem Beginn der Rebellion in Los Angeles, waren wir – eine Gruppe von BesucherInnen aus Kanada und der Schweiz – mit Mike zum Abendessen in Santa Monica verabredet. Als wir im Restaurant ankamen, war Mike nicht da, aber im Fernsehen des Etablissements waren die ersten Bilder von der Rebellion zu sehen und die Straßen brannten. Mike war mitten unter den Menschenmassen in South Central L. A. Er hätte das vielleicht wichtigste Ereignis in der Geschichte der Stadt nicht verpasst, ein Ereignis, das er in City of quartz (Davis 1990) in vielerlei Hinsicht vorhergesagt hatte. Wir gingen durch den Rauch und die Flammen nach Hause, während Mike mittendrin war und sich an vorderster Front Notizen machte.

Als die „L. A. School“ die Welt der Stadtforschung neu gestaltete – größtenteils aus der Sicht ihrer Büros an der University of South California oder der University of California Los Angeles oder mit Diagrammen der 60-Meilen-Stadt vom Dach des Rathauses aus –, schrieb Mike Davis über Los Angeles von der Straße aus. Seine Lehre war erfahrungsorientiert – lange bevor Universitätsverwaltungen diesen Begriff prägten, um ihn ängstlichen Eltern und Studierenden zu verkaufen, die an berufsrelevanten Fähigkeiten interessiert sind. Er nahm Studierende mit ins Herz der Stadt und in die verlassenen Tunnel der Red Line der U-Bahn unter Bunker Hill, traf uns gerne an seltsamen Orten und ungewöhnlichen Restaurants im Osten und Süden der Stadt, die weitestgehend außerhalb des regulären studentischen Alltagslebens lagen. Mike sah sich selbst als outsider-insider von Los Angeles, als Arbeiterkind aus dem östlichen San Bernadino County, das sich in der Stadt durchgesetzt hatte, als Autodidakt und Lkw-Fahrer („Ich würde niemals zulassen, dass eine Stadtplanungskonferenz dem Fahren eines großen Lastwagens im Weg steht“, raunte er mir einmal zu, als ich ihn fragte, warum er seinen Auftritt auf einer Veranstaltung verpasst hatte), der am Ende in Los Angeles so viele zentrale organisatorische wie intellektuelle Strippen zog. Dass er zum Chronisten von L. A. schlechthin wurde, war eine ironische Wendung des Schicksals.

Davis selbst, von Haus aus Historiker, obwohl er nie einen Doktortitel erlangt hatte (es ist eine Schande, dass ihm für eines seiner brillanten Bücher diese Ehre nicht zuteilwurde, insbesondere für City of quartz), hatte schon früh in seiner Karriere transdisziplinäre Strahlkraft und internationales Ansehen. Ich hatte ihn Mitte der 1980er Jahre zum ersten Mal gelesen – wegen seiner Kommentare zu den Gefahren des Populismus (dieser Artikel wurde Teil von Prisoners of the American dream). Die deutsche Version, in der Übersetzung Phoenix im Sturzflug betitelt, war ein großer Erfolg (Davis 1986b). Es machte ihn zu einer Berühmtheit in der deutschen Linken. Er konnte jeden und jede erreichen, von sozial bewegten Menschen über KuratorInnen von Kunstmuseen (Nittve/Grenzien 1997) bis zu den MachthaberInnen. Er sonnte sich nicht immer in dem Licht, das die Leute auf ihn scheinen lassen wollten. Er nutzte sogar sein wohlverdientes McArthur-Stipendium, um seinen rebellischen Weg fortzusetzen.

Um noch einmal auf den Abend in London zurückzukommen, möchte ich einmal mehr Mikes Großzügigkeit betonen, die mir und so vielen bei unzähligen Gelegenheiten gezeigt wurde. In dieser Nacht, nachdem er mich als Student mit geringem Einkommen gesehen hatte, gab er mir einen befristeten Job bei Verso, wo ich deutsche Texte (grob) übersetzte, als potenzielle Objekte für den Verlag – eine Aufgabe, die ich einige Monate lang erfüllte, bevor ich nach Los Angeles zurückkehrte. Ich kann mich nicht erinnern, ob es jemals einer der Texte, zu denen er Rat suchte, in den Verso-Katalog schaffte. Aber es half mir auf jeden Fall über die Runden zu kommen. Solch ein selbstloser, bescheidener Mensch, obwohl er überall immer der Star war, nachdem City of quartz ein durchschlagender Erfolg geworden war. Er blieb sympathisch und echt, eine warme und integrative Persönlichkeit. Er kümmerte sich um seine FreundInnen. Irgendwann wurde Mikes Berühmtheit jedoch zu einer Belastung. Zumal die guten BürgerInnen von Malibu begannen, ihn online zu verfolgen, nachdem er argumentiert hatte, dass ihre Stadt den Buschbränden geopfert werden sollte (Davis 1995). Die Art von Linkenhatz und versuchtem Rufmord, die darauf folgten, war sowohl ein Zeichen dafür, dass er den Mächtigen unter die Haut ging, als auch eine gefährliche Ablenkung, die ihn manchmal verletzte und entmutigte (Keil/Lehrer 1999).

Mike unterstützte viele junge AutorInnen, Studierende und Forschende, die in Los Angeles arbeiteten. Schon früh gab er mir die Gelegenheit, gemeinsam mit ihm einen Artikel über Intellektuelle in L. A. zu schreiben – für einen von Walter Prigge herausgegebenen deutschen Band über städtische Intellektuelle. Eine Version davon wurde als Kapitel in City of quartz aufgenommen (Davis/Keil 1992). Es war eine wichtige Lektion in Sachen MitautorInnenenschaft für mich und noch dazu eine große Ehre. Ich lernte zudem viel, als ich über Erinnerungen deutscher Expats schrieb, die vor den Nazis nach Los Angeles geflohen waren. Los Angeles blieb mein gemeinsamer thematischer Nenner mit Mike Davis in den 1990er Jahren. Doch unser Gespräch intensivierte sich später, Anfang dieses Jahrhunderts, wieder, als Mike sein prophetisches Werk über pandemische Bedrohungen veröffentlichte: The monster at our door (Davis 2005). Als ich ihn anschließend um eine Empfehlung für den Klappentext eines Bandes bat, den ich zusammen mit meinem Freund und Kollegen S. Harris Ali veröffentlichen wollte, kam er dem sofort nach, bat aber darum, den von uns gewählten Arbeitstitel vielleicht noch einmal zu überdenken: networked death. Er hatte natürlich recht, und wir haben das Buch schließlich Networked disease genannt, um es abzuschwächen. Vom Meister der hyperbolischen Buchtitel bei der Öffentlichkeitsarbeit geschult zu werden, war eine Lektion in Demut, die absolut sinnvoll war. Sein sehr einflussreicher Band Planet of slums (Davis 2006) aus derselben Zeit war eine Inspiration für unsere spätere Arbeit über globale Suburbanismen an der York University und darüber hinaus.

Mike Davis war einer der wichtigsten, vielleicht überhaupt der führende Denker der transatlantischen Linken im ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhundert. Ich werde mich persönlich an Mike erinnern wegen seiner intellektuellen Kraft, die er in allem zeigte, was er tat, wegen der Art und Weise, wie er Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammenbrachte, und wegen seiner Großzügigkeit gegenüber allen, die seinen Weg kreuzten. Was verloren ist, ist verloren. Jemand wie Mike kann unmöglich ersetzt werden. Ein gigantischer Verlust für uns alle.