sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 475-481

doi.org/10.36900/suburban.v11i3/4.896

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Landschaften der Regression

Rezension zu Daniel Mullis / Judith Miggelbrink (Hg.) (2022): Lokal extrem Rechts. Analysen alltäglicher Vergesellschaftungen. Bielefeld: transcript.

Leonie Stoll

Abb. 1 Lokal extrem Rechts. Analysen alltäglicher Vergesellschaftungen. (Quelle: transcript)
Abb. 1 Lokal extrem Rechts. Analysen alltäglicher Vergesellschaftungen. (Quelle: transcript)

Bereits 2016 wies die jährlich veröffentlichte Mitte-Studie auf eine Radikalisierung rechtspopulistischer Gruppierungen hin. Demnach erhielt die bis dahin bloß sagbare Ideologie einer angeblichen Ungleichwertigkeit von Menschen zuletzt verstärkt (gewaltvollen) Handlungsnachdruck (vgl. Melzer 2016: 9 f.). Den Nährboden hierfür bilden antidemokratische Einstellungen. Diese durchziehen die Gesellschaft (Decker et al. 2022a: 21, 2022b: 70 ff.) ebenso wie ihre Geographien in alle Richtungen (vgl. für die Wahlgeographien der „Alternative für Deutschland“ (AfD) Bernet et al. (2019: 13) sowie für extrem rechten Terror Nobrega et al. (2021: 9).

Wie die neuere Stadtforschung kritisch hervorhebt, wird die „Radikalisierung antidemokratischer Milieus“ (Mullis/Miggelbrink 2022a: 7) allerdings häufig immer noch so verortet, dass kleinräumliche Betrachtungen rechtsextremer Strukturen ausgeklammert bleiben. Dies sorge für analytische Fehlschlüsse (ebd.). Den Unterscheidungen Stadt/Land oder Ost/West würden aufgrund eines unzureichenden Raumordnungsverständnisses häufig falsche Inhalte zugeschrieben (vgl. ebd.: 9; Bescherer/Mackenroth 2021: 11). Beispielsweise erlaube es eine Wahlkreisanalyse allein nicht, Rückschlüsse von der Konzentration der AfD-Stimmanteile vom gesamten Gebiet auf einzelne Teile zu ziehen. Etwa könnten Hochburgen der Partei innerhalb des Wahlkreises - auf die Gesamtgröße übertragen - schnell übersehen werden (vgl. ebd.).

Der hier rezensierte Sammelband Lokal, extrem Rechts macht diese Forschungslücke deutlich und füllt sie facettenreich mit Ergebnissen aktueller Stadt- und Raumrecherchen.

Die Humangeograph*innen Daniel Mullis und Judith Miggelbrink (2022b) haben es sich zum Ziel gemacht, „die Konflikte in und um Gesellschaft von rechts außen konkret nachzuvollziehen“ (ebd.: 9). Dem liegt die These zugrunde, dass das Lokale für die Entstehung extrem rechter Strukturen, aber auch für deren Analyse als Raumdimension, hoch relevant sei.

In einem weiteren Beitrag stellen die Herausgebenden (Mullis/Miggelbrink 2022b) das theoretische Fundament und die Heuristik des Sammelbandes vor. Das Lokale sei multiskalar zu betrachten, als Austragungsort von Kämpfen um Hegemonie und als Teil gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Subjekt und Gesellschaft bedingten sich und formten einander wechselseitig. Das Autor*innenteam arbeitet heraus, wie Subjektivierung als räumlich verortbare Praxis wirkt. Diese ermögliche es nicht nur, sich die Welt zu erschließen, sondern auch, sich gegen sie aufzulehnen. Auf der ausgeführten konzeptionell-theoretischen Basis ergründen die beiden schließlich lebensweltliche Realitäten des Lokalen als Möglichkeitsraum extrem Rechter sowie deren Bekämpfung. Einleitend untersuchen sie den Einfluss sozioökonomischer und räumlicher Faktoren auf den lebensweltlichen Alltag von Subjekten sowie auf deren Identitätsformierung. Analysiert wird die Entstehung rechter Einstellungen vor dem Hintergrund räumlicher Entwicklungen und Disparitäten. Sodann ordnen sie Raumaneignungen in Prozesse alltäglicher Vergesellschaftungen ein.

Die weiteren Teile des Sammelbandes bieten Einblicke in die qualitative empirische Sozialforschung zur extremen Rechten. Bernd Belina (2022) beschreibt anhand von Adornos Begriff der Provinzialität die Wahlgeographien hessischer Stadt- und Landbewohner*innen. Provinzialität wird hierbei als Geisteshaltung beschrieben, die über Prozesse räumlicher Differenzierung und Vergesellschaftung vermittelt werde und eine Fremdgruppe gegenüber einer Eigengruppe abwerte. Gründe hierfür seien unter anderem mangelnde Bildung und unreflektierte Alltagspraktiken. Als Geisteshaltung sei Provinzialität potenziell überall anzutreffen, nicht nur – wie häufig angenommen – an einem bestimmten Ort, etwa dem Dorf. Auch Peter Bescherer (2022) sowie Manuela Freiheit, Peter Sitzer und Wilhelm Heitmeyer (2022) entkräften den vermeintlichen Gegensatz zwischen Stadt und Land. Letzteren zufolge nehmen Rechte durch „Raumgewinne“ (ebd.: 67) in Groß- und Kleinstädten zunehmend Einfluss auf das Lokale und werden so heute zu einer „Raumordnungsbewegung (ebd.): Sie eignen sich gezielt Räume an, um einerseits einflussreicher zu werden, aber auch, um als selbstverständlicher Teil urbaner Gesellschaften zu gelten.

Entgegen simplifizierenden Narrativen arbeiten Larissa Deppisch (2022) sowie Kai Dietrich und Nils Schuhmacher (2022) die Einstellungsmerkmale der ländlichen Bevölkerung in Abgrenzung zur städtischen heraus. Mit Belina gesprochen sei Provinzialität als Geisteshaltung zwar omnipräsent, jedoch stärker auf dem Land als in der Stadt vorzufinden. Geschuldet sei dies dem „Abbau von Versorgungsstrukturen“ (Deppisch 2022: 109) sowie „formalistische[n] Vorstellungen gesellschaftlicher und sozialer Ordnungsbildung“ (Dietrich/Schuhmacher 2022: 197).

Die Autor*innen tragen mit differenziertem Blick auf das Lokale als Stätte rechter Einstellungen zum Schließen der eingangs erwähnten Forschungslücke kleinräumlicher Analysen bei. Abdelrahman Helal (2022) knüpft daran an und betont, dass rechte Raumaneignung nicht vor Landesgrenzen haltmache. Helal kartographiert und analysiert die Besetzung des Raums durch rechte Politik, Gewaltakte sowie die Nutzung oder den Erwerb von Immobilien. Er identifiziert Cluster rechter Raumaneignung, aber auch „Inseln“, die praktisch aus der übrigen politischen Landschaft herausragten: „[L]ändliche Kreise sowie Regionen mit unterdurchschnittlichen Lebensverhältnissen“ (ebd.: 233) wiesen demnach einen größeren Stimmenanteil extrem rechter Parteien auf.

Felicitas Kübler, Felix Schilk und Anke Schwarz (2022) vergleichen ausgewählte Bauprojekte in der nordmazedonischen Hauptstadt Skopje mit ähnlichen Plänen für Dresden. Beide Städte erhielten rekonstruierte Bauwerke, die Identität stiften sollten. Die Autor*innen heben die sich ergebende starke Überschneidung von Rekonstruktionsästhetik und rechtsextremem Narrativ hervor. Sie resümieren, dass Rekonstruktionspolitiken ein revisionistisches Geschichtsbild tradierten, das ökonomisch wie ideell besonders anschlussfähig für Rechte sei.

Paul Zschocke (2022) sowie Axel Salheiser und Matthias Quent (2022) beschreiben, wie bestimmte Räumlichkeiten als Kristallisationspunkte neonazistischer Mobilmachung dienen können. Diese würden sodann für ihre Umgebung zu einem Angstraum, wobei extrem Rechte nur noch marginalen Widerstand erführen. Am Beispiel des Leipziger Jugendklubs Kirschberghaus (Zschocke 2022) sowie des bis heute bestehenden Eisenacher Fliederhauses (Sahlheiser/Quent 2022) werde ersichtlich, wie jahrelange Normalisierungsgewinne innerhalb der Stadtgesellschaft bis in die Gegenwart fortwirken und Generationen militanter Rechtsextremer heranwachsen (siehe hierzu auch Adorno 2019: 25). Eine „falsche Toleranz von Behörden“ und rechte Raumnahmen, so Zschocke (2022: 158 f.), wirkten sich auf das Lokale ebenso aus wie „die Behinderung einer reflexiven Stadtgesellschaft“ (ebd., Hervorhebung im Original).

Valentin Domann und Henning Nuissl (2022) untersuchen erstmalig, in welcher Weise Kommunalpolitik eine Gelegenheitsstruktur für Rechte bilden kann. Hierzu führen sie das Modell der sogenannten Konkordanzdemokratie ein, die einen breiten gesellschaftlichen Konsens aushandelt und möglichst viele Interessensgruppen vertritt.

Schließlich bringen die Beiträge den Leser*innen qualitative Forschungszugänge zur extremen Rechten näher. Hierzu gehören Praktiken der Raumnahme und Reaktionen der Anwohner*innen in Hamburg (Altmeyer 2022) sowie am Mehringplatz in Berlin-Kreuzberg (Zimmer 2022). Positiv fällt insbesondere in Nils Zimmers Analyse die multiperspektivische Annäherung an den Forschungsgegenstand durch extrem Rechte, die Exekutive und Betroffene auf.

Die Texte des Sammelbandes sind theoretisch anspruchsvoll und zugleich verständlich geschrieben. Dabei folgen sämtliche Autor*innen der Kernthese, dass das Lokale grundsätzlich in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebettet ist. Sie betrachten das Lokale nicht als einen isolierten Container, sondern multiskalar, also in seinem Zusammenhang mit den räumlichen Ebenen des Globalen und Regionalen. Dieser humangeographische Ansatz ermöglicht es den Verfasser*innen, einen umfassenden Beitrag zur geographischen Dimension extrem rechter Praktiken, zu deren Ideologien, Machtansprüchen und den damit verbundenen Gefahrenpotenzialen zu leisten.

Der rote Faden des Bandes ist leicht auffindbar, was längst nicht für alle Sammelbände gilt. Auch bleibt die Lektüre aufgrund der Vermeidung von Wiederholungen und einer gelungenen Gliederung von der ersten bis zur letzten Seite spannend. Positiv fallen zudem die saubere methodische Arbeit und die kritische Selbstreflexion der Verfasser*innen auf. Sie bereiten forschungspraktische Vorschläge zur qualitativen Untersuchung und vor allem zur Verortung rechtsextremer Subjektivierung mit äußerster Genauigkeit auf. Mit epistemischem und methodischem Geschick regen sie dazu an, auch zukünftig qualitativ zu extrem Rechten zu forschen, ohne mit ihnen reden zu müssen.

Ergänzen ließe sich das Werk um Einblicke in die politische Praxis von Migrant*innenselbstorganisationen (MSO). In den vergangenen Jahren haben sich zahlreiche dieser MSO gegründet. In dem Bestreben, gegen extrem rechte Strukturen vorzugehen, operieren sie als Teil zivilgesellschaftlicher Bewegungen direkt gegen die (strukturell) rassistischen Auswüchse der Stadtgesellschaft (vgl. Bouguerra/Peters 2021: 171). Der Hinweis im Band, dass es Aufgabe des Staates sei, konsequent gegen extrem rechte Strukturen vorzugehen, hätte deutlicher ausfallen können. Auch dass die extreme Rechte mitunter ein Problem in Sicherheitsbehörden selbst darstellt (vgl. Thompson 2021: 109 ff.; Jawabreh 2021: 113), wäre neben dem vielfach erwähnten antirassistischen Potenzial der Zivilgesellschaft noch stärker hervorzuheben.

Insgesamt leistet der Sammelband einen herausragenden Beitrag zur räumlichen Analyse bundesdeutscher gesellschaftlicher Regression, entsprechender Widerstände und ihrer Beforschung von den 1990er Jahren bis in die Gegenwart. Er ist all jenen zu empfehlen, welche die extreme Rechte in sozioökonomischen und räumlichen Erscheinungsformen verstehen, erforschen und problematisieren möchten – unter Wahrung eines hohen wissenschaftlichen Anspruchs, theoretisch wie empirisch.