Es waren nicht die stadtwissenschaftlichen Disziplinen, die Mike Davis’ Buch City of quartz – Excavating the future of Los Angeles in die deutschsprachige Debatte einführten. Vielmehr kommt dieses Verdienst zwei Verlagen aus der linken Szene zu. Zunächst erschien 1994 in der noch neuen, von der Edition ID-Archiv herausgegebenen Zeitschrift Die Beute – Politik und Verbrechen der Aufsatz „Urban Control. Jenseits von Blade Runner“ (Davis 1994b). In Reaktion auf die durch rassistische Polizeigewalt ausgelösten Rodney-King-riots 1992 entwickelte Davis darin das Kapitel „Festung L. A.“ aus dem zwei Jahre zuvor publizierten City of quartz weiter. Die deutsche Übersetzung des Buches, das Edward Soja später als eine der fünf wichtigsten Monografien der Urban Studies bewertete (vgl. Eckardt 2017: 200), erschien ebenfalls 1994 im Verlag der Buchläden Schwarze Risse/Rote Straße aus Berlin und Göttingen (Wendling et al. 2023). Beide Verlage verstanden sich als Publikationsorgane der unorthodoxen Linken: Letzterer verortete sich in „der Tradition der Protestbewegungen, die ihren Ursprung in der antiautoritären Revolte des Jahres 1968 haben“ (Assoziation A o. J.). Das ID-Archiv war entstanden mit dem Ziel einer „differenzierte[n] Reflexion militanter Politik“ wie etwa den „Kämpfen um die besetzten Häuser in der Hamburger Hafenstraße“ (nadir.org 1998).
Diese Platzierung und die spätere Rezeption von City of quartz erklären sich nicht zuletzt daraus, dass Mike Davis seine Distanz zum Wissenschaftsbetrieb und zum akademischen Publizieren nie verhehlte. Sein Buch ist keine klassische akademische Publikation etwa im Sinne einer mit wissenschaftlichen Methoden durchgeführten case study zu Los Angeles. Eher versammelt es die Beobachtungen und Erfahrungen eines Menschen, der zugleich marxistischer Historiker, sozialistischer Bürgerrechts- und Gewerkschaftsaktivist sowie engagierter Intellektueller ist, der etwa versuchte, zwischen Los Angeles’ mörderisch verfeindeten Jugendgangs zu vermitteln.
Die Beute war mit dem Ziel angetreten, Beiträge von Aktivist:innen und Intellektuellen zusammenzubringen sowie die vorherrschende „Kommunikationslosigkeit zwischen politischer und künstlerischer Opposition“ aufzuheben, wie es ihr Redaktionskollektiv im ersten Klappentext dieser „Zeitschrift für radikale linke Kritik“ (Die Beute, Nr. 1: Umschlag) formulierte. Und Davis’ unorthodoxes Zusammenschalten politökonomischer mit räumlich-materiellen Analysen, von Untersuchungen urbaner Diskurse mit jenen kultureller und sozialer Praktiken lieferte genug Stoff, um traditionelle Horizonte eines linken Aktivismus und Intellektualismus in Richtung künstlerischer Opposition zu erweitern. City of quartz wirkte so als Initialzündung für das Entstehen einer kollaborativen, die Kommunikationslosigkeit zwischen einer politischen, kulturellen und akademischen Linken überwindenden Praxis radikaler Kritik an den sich zuspitzenden sozialen und politischen Realitäten in hiesigen Großstädten (vgl. dazu Diedrichsen 1998). Hier offenbarten sich in den 1990er Jahren die destruktiven Effekte etwa des globalisierten Standortwettbewerbs, der Umrüstung der Zentren zu bürgerlichen Konsumzonen, der Gentrifizierung der oft migrantischen Arbeiter:innenviertel sowie der sich soziokulturell fragmentierenden Stadtgesellschaft. Die von Davis für Los Angeles beschriebenen Prozesse der Zersplitterung urbaner Räume nach Klassen und Herkunft, der Abschottung von Wohlhabenden, der Diskurse innerer Sicherheit und vor allem der Ausgrenzung und Kriminalisierung der dadurch Marginalisierten ließen sich auch in deutschen Städten beobachten.
In dem für die Wirkung des Buches zentralen Kapitel „Festung L. A.“ entfaltete Davis die Effekte derartiger Entwicklungen auf das Regieren, Polizieren und Administrieren der Stadt ebenso wie auf die materielle Ausgestaltung ihrer Räume. Auf den Punkt brachte er sie mit dem Satz „Wir leben in ‚Festungsstädten‘, die brutal gespalten sind in ‚befestigte Zellen‘ der Wohlstandsgesellschaft und ‚Orte des Schreckens‘, wo die Polizei die kriminalisierten Armen bekämpft.“ (Davis 1994a: 260) Diese für Davis typische apokalyptische Zuspitzung der urbanen Realität verwob er eher assoziativ als analytisch mit weltbekannten Made-in-Hollywood-Dystopien à la Escape from New York, Blade Runner oder Die Hard. Auch die Masse an kaum vorstellbaren Details und begrifflichen Zuspitzungen – wie „sadistische Straßenumwelten“ eines „low intensity warfare“ (ebd.: 269) gegen Obdachlose – generierten einen zum Weiterlesen verführenden Sog, der so manches Mal eher überwältigte als durch systematische Analyse überzeugte. Das Kapitel dokumentiert Los Angeles’ Transformation in eine Festungsstadt mit einer zur Konzernzitadelle mutierten Downtown. Der öffentliche Raum sei dort abgeschafft, so Davis. Die gebaute Umwelt bestehe aus bunkerartigen Stealth-Architekturen und panoptischen Malls. Beherrscht werde sie von einem Kontroll- und Repressionskomplex aus privaten Sicherheitsdiensten und einer militarisierten „Raumpolizei“, der sogar Motels als „Hilfsgefängnisse für internierte Ausländer“ (ebd.: 294) missbrauche.
Zwar ließen sich gerade die dramatischsten Teile des Kapitels kaum auf deutsche Städte übertragen, gleichwohl zeigte der Text eine mit hiesigen Mustern übereinstimmende Tendenz auf. Diese fasste Davis in dem Argument zusammen, wonach
„das alte liberale Paradigma der sozialen Kontrolle, das eine Balance zwischen Repression unWd Reform zu halten versuchte, […] schon lange einer Rhetorik des sozialen Krieges gewichen [ist], in der die Interessen der städtischen Armen und die der Mittelschichten als Nullsummenspiel gegeneinander aufgerechnet werden“
(ebd.: 260)
Zur damit einhergehenden „umfassenden Sicherheitsmobilisierung“ (ebd.), so argumentierte Davis, „fällt der zeitgenössischen Stadttheorie […] nichts ein“ (ebd.: 259). Für die damalige Stadtforschung in Deutschland traf dies ebenso zu.
Im Abgleich mit vergleichbaren Tendenzen in deutschen Städten wirkte die politische Rezeption von City of quartz und „Urban control“ gleichsam als Keimzelle für zunächst lose Zusammenkünfte aktivistischer, künstlerischer und stadterforschender Initiativen in Frankfurt am Main und Berlin. Aus ihnen ging schließlich die politische Kampagne „Innen!Stadt!Aktion! gegen Ausgrenzung, Privatisierung und Sicherheitswahn“ hervor. Sie kulminierte 1997 und 1998 in zwei einwöchigen Aktionstagen in fast 20 deutschen, österreichischen und schweizerischen Städten. Zu ihrer Organisation hatte sich ein breites Bündnis aus Antifa- und Antirassismus-Gruppen, aus der feministischen und politischen Kunst- und Kulturszene, aus der kritischen Architekturszene, aus stadt- und sozialtheoretischen Zusammenhängen, von Wagenplätzen und aus Obdachloseninitiativen gebildet. Die Innen!Stadt!Aktion! umfasste temporäre Besetzungen öffentlicher Räume und widerrechtliche Aneignungen privatisierter urbaner Zonen (wie Bahnhöfe oder Plätze), Protestperformances gegen Sicherheitsdienste und „sadistische Straßenumwelten“ (Davis 1994a: 269) oder Demonstrationszüge, etwa unter dem Motto „Eure Armut kotzt uns an“. Produziert wurden auch Zeitungsbeilagen, welche die Kampagne theoretisch und politisch einrahmten, sowie sogenannte A-Clips, anderthalbminütige, in die Werbeblöcke von Kinos eingeschmuggelte Kurzfilme. Das Ziel der Kampagne war laut zwei ihrer Organisator:innen nicht zuletzt,
„einen Diskurs zu etablieren. Auch in der linken Szene sind die Zusammenhänge zwischen einem aggressiven Neoliberalismus, der Politik der Inneren Sicherheit bzw. Ausgrenzung und der Stadtentwicklung häufig unterbelichtet. Es werden immer nur Einzelpunkte angegriffen […] Kaum gesehen wird hingegen, daß es sich um ein Politikmodell handelt, das die gesamte Gesellschaft umfaßt.“
(zitiert in: Landgraf/Kunze 1998. Vgl. zur kunsthistorischen Einordnung der Innen!Stadt!Aktion! Grothe 2005)
Aus der Innen!Stadt!Aktion! entstanden weitere Zusammenschlüsse und Interventionen, die in den Kunstbetrieb und in die Stadtforschung hineinwirkten. So zeigte die Berliner „Neue Gesellschaft für bildende Kunst“ (NGbK) 1998 die Ausstellung baustop.randstadt.-, die ihre Themen und Kritik am Beispiel von Berlin in künstlerische Positionen übersetzte (vgl. AG baustop.randstadt.- 1999). Das 1999 von Klaus Ronneberger, Walther Jahn und mir als Autorenkollektiv spacelab publizierte Buch Die Stadt als Beute stellte hingegen den Versuch dar, die in der deutschen Stadtforschung bis dahin ignorierten Zusammenhänge zwischen Stadtentwicklung und einer autoritären Politik der Inneren Sicherheit zu analysieren. Bereits der Klappentext des Buches verwies auf die inhaltliche Nähe zu Davis’ „Festung L. A.“:
„Die Städte wandeln sich von Produktionsstandorten zu Konsumlandschaften. Doch zwischen Freizeitparks und Shopping Malls entstehen auch Wohlstandsenklaven und Armutsinseln. Gleichzeitig beschwören Medien und Politik den Verfall der städtischen Kultur durch Verwahrlosung und Kriminalität. Die neuen Schlagworte heißen ‚Null Toleranz‘ und ‚Kriminalprävention‘. Werden die sozialen Brüche der neuen Dienstleistungsstadt mit einer Politik der ‚Inneren Sicherheit‘ bearbeitet?“
(Ronneberger et al. 1999: Umschlag)
Ähnlich wie City of quartz entstand Die Stadt als Beute außerhalb der Universitäten und ohne Ressourcen und Methoden empirischer Forschung. Die wissenschaftliche Rezeption markierte das Buch teilweise eher abfällig als „an der Grenze zum Populärwissenschaftlichen angesiedelte“, mehr skandalisierende als erklärende Kombination aus Analyse und „politischer Stellungnahme“ (Belina 2000b: 76 f.). Dieser Stil war jedoch keiner Laxheit geschuldet, sondern der primären Absicht einer Intervention in den politischen Stadtdiskurs. Und er war sicherlich inspiriert vom faszinierenden Flow von Davis’ Texten.
Inhaltlich spiegelten die Kapitel „Law and Order in den Städten“ und „Auf dem Weg zur neufeudalen Stadt“ die Themen von „Festung L. A.“ wider. Sie zeigten auch für Deutschland eine „revanchistische Politik“ (Smith 1996, zitiert nach Ronneberger et al. 1999: 200), mittels derer das urbane Bürgertum die verloren geglaubte Kontrolle und sozialkulturelle Hegemonie über die Innenstädte wiederzuerlangen suchte. Dabei erkannten wir neuartige Sicherheitsgemeinschaften und „Kontrollszenarien“, um „die Hierarchisierung und Fragmentierung des sozialen Raums territorial zu fixieren und segregierte Zonen abzusichern, die sich jeweils durch eine spezifische soziale Homogenität auszeichnen sollten“ (ebd.: 198): Private Sicherheitsdienste und kommunale Gefahrenabwehrverordnungen schirmten abgeschlossene „Archipele wie Bürotürme oder Malls“ präventiv von der „‚feindlichen Außenwelt“ ab (ebd.: 201). In „umkämpften Territorien“ (ebd.) wie innerstädtischen Einkaufszonen oder Bahnhöfen etablierte sich eine repressive Praxis der Verdrängung unerwünschter Milieus. In segregierten Wohngebieten entstanden Präventionsräte, community policing oder neighbourhood watches, um soziale Kontrolle und Abwehrbereitschaft zu signalisieren. Schließlich vermehrten sich Ausschließungsräume für die „Klasse der Entbehrlichen“ wie geschlossene Heime oder Unterkünfte für Asylsuchende (ebd.: 201 f.). Im Kapitel „‚This is not America‘: Modell Deutschland“ argumentierten wir zugleich, dass sich die von Davis beschriebenen amerikanischen Verhältnisse keineswegs 1:1 auf hiesige Städte übertragen ließen. Gegen den „sozialen Krieg“ und die „umfassende Sicherheitsmobilisierung“, die Davis (1994a: 260) in L. A. vorfand, richteten sich hierzulande ein trotz seiner neoliberalen Aushöhlung noch existierender Sozial- und Wohlfahrtsstaat. Dazu gehörten etwa ein dichtes „Wohlfahrts- und Fürsorgesystem“, neue sozialdemokratische Strategien wie das Bund-Länder-Programm Soziale Stadt oder eine politische Milieus übergreifende Verteidigung öffentlicher Räume (ebd.: 204 ff.).
Schon Ende der 1990er Jahre konnten im Umfeld der Innen!Stadt!Aktion! entstandene Studien in sozialwissenschaftlichen Publikationsorganen platziert werden (u. a. Eick et al. 1998, Ronneberger/Lanz 1999, Eick 1998, Sambale/Veith 1998). Wenig später entstanden in der deutschen Stadtsoziologie und -geographie eine Reihe weiterer Arbeiten, die bis dahin ignorierte Zusammenhänge zwischen Stadtentwicklung und einer Politik der Inneren Sicherheit nun auch in der akademischen Welt bearbeiteten (u. a. Belina 1999, 2000a; Wehrheim 2002; Eick et al. 2007; Glasze/Pütz/Rolfes 2015).
Interessanterweise zeitigte die diskursive Intervention von Die Stadt als Beute ihre größten Effekte allerdings in der kritischen Jugend- und Sozialarbeit – wir tingelten mit dem Buch geradezu durch deren Zentren – sowie im Feld der Kunst- und Kulturproduktion. Zunächst inszenierte René Pollesch im Jahr 2002 Stadt als Beute als postdramatisches Diskurstheaterstück an der Berliner Volksbühne, wobei er Sprache und zentrale Thesen des Buches in fragmentartige Dialoge übersetzte:
„A: Ich geh da draussen nur durch Stadtmanagement spazieren, durch Null-Toleranz-Politik. B: Aber die Scheisse hier ist nicht Manhattan und ich bin kein Amerikaner […] P: Aber Giulianis Null-Toleranz-Politik wird auf deinen Organismus angewendet. B: Mist! P: In dieser Beute. F: Mit bleihaltiger Machttechnologie. F: Und der sogenannte Krieg gegen die Drogen oder das Vorgehen gegenüber Nichtsesshaften ist nur ein Krieg gegen den ärmeren Teil der Bevölkerung“
(Pollesch 2002a: 8)
Miriam Dehne, Esther Gronenborn und Irene von Alberti (2005) transformierten das Stück 2005 wiederum in einen Episodenfilm. Darin probt der sich selbst spielende René Pollesch Stadt als Beute mit Schauspieler:innen, die sich währenddessen etwa am Potsdamer Platz in der sozialen Realität des „neuen Berlin“ verlieren.
Die Kooperation mit der Volksbühne dehnte nicht nur die Echokammer des Diskurses um Stadt und Innere Sicherheit aus, sondern eröffnete auch eine Erweiterung der auf Davis zurückgehenden Problematisierungen in zwei Richtungen: Zum einen förderte sie eine kritische (Selbst-)Reflexion des Ansatzes, der Stadt als Beute zugrunde lag: „Gerade was die Frage der handelnden Subjekte anbetraf, trat sich bei uns ein großes ‚Loch‘ auf. Zum anderen empfanden wir den Blick auf den städtischen Raum als zu eingeschränkt. Bestimmte Bereiche des urbanen Lebens – wie etwa die Alltagspraktiken der ‚Normalklassen‘ – fanden in den Analysen zu wenig Berücksichtigung“ (spacelab 2000: 5). In ihrer auf City of quartz referierenden Rezension „Amerika ist doch anderswo“ verwies die zum Redaktionskollektiv der Zeitschrift Die Beute gehörende Christiane Müller-Lobeck (2001: 14) darauf, dass die deutsche Lesart von Mike Davis zwei „folgenschwere Fehlinterpretationen“ beinhaltete: Zum einen die angesichts der Zähigkeit des hiesigen Sozialstaats oder der sehr anderen sozialräumlichen Segregationsstrukturen falsche Annahme, Davis’ Befunde könnten schlicht auf deutsche Städte übertragen werden. Zum anderen argumentierte sie nicht zu Unrecht:
„Davis prognostizierte zwar einerseits eine düstere Zukunft, betonte aber andererseits immer die Bedeutung der handelnden Subjekte im städtischen Raum. Von dieser widersprüchlichen Darstellung war in ‚Die Stadt als Beute‘ nur mehr die apokalyptische Zukunftsvision von der staatlich total kontrollierten Stadt erhalten geblieben.“
(ebd.)
Diese Rezension erschien, als der infolge ähnlicher Kritiken für die Zeitschrift Widersprüche (Heft 78, 2000) gestaltete Themenschwerpunkt Fragmente städtischen Alltags bereits publiziert war. Darin suchte spacelab (2000) basierend auf Henri Lefebvres Kritik des Alltagslebens nach Zusammenhängen zwischen Ökonomie und Lebenspraxis. Demnach ist Alltag „zwar wesentlich von den ökonomisch-technologischen Vorgaben geprägt, dennoch geht die soziale Praxis der Kollektive nicht völlig in der Systemlogik auf: Zurück bleibt immer ein nicht domestizierbarer Rest“ (ebd.: 6). Diesem nicht domestizierbaren Rest spürten wir nun mit qualitativen Forschungen nach, etwa zu Strategien der Alltagsbewältigung von prekarisierten Milieus in Frankfurt am Main (Bareis/Böhnisch 2000) oder in suburbanen „Refugien der Sicherheit“ (Jahn et al. 2000), in die sich frühere Kreuzberger:innen aus der Alternativszene zurückgezogen hatten. Auch der Essay „Das Insourcing des Zuhause“ von Brigitta Kuster und Renate Lorenz (2000), der die mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse progressiven Momente von Boardinghäusern in Berlins sogenannter Neuer Mitte am Potsdamer Platz erkennt und zugleich ihre Funktion für die flexible Arbeitswelt einer neoliberalisierten Ökonomie untersucht, enthält der Band. René Pollesch adaptierte auch diesen Essay für ein Theaterstück desselben Namens (Pollesch 2002b).
Die Kooperation mit der Volksbühne eröffnete die Option, diesen Zusammenhängen nicht nur akademisch oder in Texten, sondern auch in einer Serie von Bühnenperformances nachzuspüren, die unter dem Titel „Die Falsches Leben“-Show aufgeführt wurden. Das dafür gegründete Produktionskollektiv „AnbauNeueMitte group“ (2002) bestand überwiegend aus Aktivist:innen der Innen!Stadt!Aktion. Hier ging es nun wesentlich um den Versuch eines Perspektivwechsels von einer Beobachter:innenperspektive Außenstehender hin zur Frage Beteiligter nach ihren eigenen Verstrickungen in die kritisierten Macht- und Herrschaftsverhältnisse (vgl. Pollesch 2005). Die Shows zu Themen wie dem Aufwachsen in Suburbia, dem Malochen in einer kulturalisierten Ökonomie oder zu einer Freizeit zwischen Wellness und nachhaltigem Reisen sollten erkunden, „wie wir selbst als kritische KulturproduzentInnen diesen Neue-Mitte-Alltag und die neuen Arbeitsverhältnisse mitproduzieren, wie der Neue-Mitte-Diskurs bereits durch unsere Körper, durch unser Begehren hindurch geht und sie mit hervorbringt“ (AnbauNeueMitte group 2002: 107).
Mit Diedrich Diedrichsen lässt sich folgendes Fazit dieser wesentlich auf City of quartz zurückgehenden Verzweigungen und Überlappungen zwischen Theorie, Politik und Kultur ziehen:
„Die Rezeption kritischen Urbanismus der Mike-Davis-Richtung, gendertheoretischen Feminismus der Butler-Schule und schließlich Theorien zur Ökonomie der Erlebnis- und Dienstleistungsgesellschaft, insbesondere französischer und italienischer Provenienz, haben in Deutschland während der 90er eine ziemlich dichte und vom Feuilleton wenig beachtete (Underground-)Theoriekultur hervorgebracht, die diese Ansätze vor allem auch aktivistisch denken will und an ein eigenes politisches Handeln anschließen.“
(Diedrichsen 2002: 15 f.)
Die Erschließung eines letzten neuen Horizonts aus dieser Gemengelage ermöglichte ebenfalls eine Kollaboration mit der Volksbühne. Diesmal war es ein Bühnenbild, aus dem ein mehrjähriges, von der Kulturstiftung des Bundes finanziertes Stadterkundungsprojekt hervorging. „Neustadt“ nannte Bert Neumann seine Überbauung der Theaterbühne im Jahr 2002 mit einer Ansammlung favelaartiger Hütten, die er als „Raum, in dem Dinge stattfinden können“ verstand (zitiert in: Flor et al. 2003). Raum bot die Überbauung unter anderem für das von den zwei Teams – „tulip house“ (Hannah Hurzig und Anselm Franke) und „metroZones“ (Jochen Becker und Stephan Lanz) – kuratierte vierjährige Forschungs- und Kulturvorhaben „Ersatzstadt“, das nicht zuletzt die Buchreihe metroZones hervorbrachte. Im Grunde zielte metroZones mit der gleichnamigen Buchreihe und dem Projekt Ersatzstadt darauf, bisherige Erkundungen urbaner Herrschaftsverhältnisse auf Städte des Globalen Südens auszudehnen und damit den westzentrischen Blick der nordamerikanischen oder europäischen Stadtanalyse auf die postkoloniale Verfasstheit der urbanen Welt zu weiten. Zwischen abgeschotteten Wohlstandsenklaven und oft irregulär errichteten Selbstbausiedlungen, wo „die Polizei die kriminalisierten Armen bekämpft“ (Davis 1994a: 260), lag der Fokus zugleich auf postkolonialen Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie auf lokalen Kämpfen der Marginalisierten um das ihnen vorenthaltene Recht auf Stadt.
Dieser Move reagierte nicht zuletzt auf die in der deutschen Stadtanalyse zur Jahrtausendwende dominierenden Diskurse über eine vermeintliche globale Vorbildfunktion einer normativ konstruierten „Europäischen Stadt“. Diese, so das dabei vorherrschende Narrativ, habe nicht nur Wohlstand für alle geschaffen, sondern sei auch dem Ideal der Toleranz und des Kosmopolitismus verbunden. Als Kontrastbilder einer derart idealisierten Europäischen Stadt galten nicht nur US-amerikanische Festungsstädte à la L. A., sondern auch die als Orte von Massenarmut, Gewaltkonflikten und Umweltverpestung markierten sogenannten Megastädte des Globalen Südens. Historische und gegenwärtige Verbindungen zwischen diesen Urbanisierungsmodellen wurden dabei konsequent ausgeblendet.
Ersatzstadt ging dagegen von der These aus, dass eklatante soziale Ungleichheiten oder Gewaltstrukturen, die viele Städte des globalen Südens prägen, in globale Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebunden sind. Diese resultieren zum einen aus den Langzeiteffekten der jahrhundertelangen Kolonialregime. Zum anderen reproduzieren und transformieren sie sich im Rahmen einer von politischen Institutionen forcierten Globalisierung sowohl der regulären Konzern- als auch der irregulären Schattenökonomien. Urbane Strukturen und Prozesse im Globalen Süden, so der Ausgangspunkt von Ersatzstadt, können daher nicht getrennt von jenen des Nordens analysiert werden (Lanz 2001).
Basierend auf dieser postkolonialen Positionierung untersuchte Ersatzstadt in Metropolen wie Rio de Janeiro, Buenos Aires, Istanbul, Kabul oder Teheran jene „friction zones“, in denen „staatliche, parastaatliche und zivile Organisationsmuster ineinander greifen“ (ebd.: 23). Politische oder religiöse Ideologien und soziale Klassen treffen dort konflikthaft aufeinander, strukturelle Gewaltformen des Weltmarkts prallen auf vielfältige und teils militante Behauptungskämpfe marginalisierter Gruppen. Mike Davis’ Analyse von Los Angeles als einer sozialräumlich zersplitterten Festungsstadt weist dabei große Ähnlichkeiten zu den aus Ersatzstadt resultierenden Beobachtungen der ersten metroZones-Bände (v.a. Becker/Lanz 2001) auf: Denn auch auf globaler Ebene, so deren zentrale Erkenntnis, transformiert die neoliberale urbane Gewaltordnung die Städte in Archipele aus voneinander abgeschotteten Inseln. Diese territorialen Zonen der Zitadellen, Gated Communities, Favelas oder Lager definieren je eigene Rechte, Pflichten, Regeln und Zugehörigkeitsmuster, die darüber bestimmen, wer sich wann sicher fühlen kann.
Als zentraler Fokus von Ersatzstadt und metroZones etablierte sich die in Die Stadt als Beute noch vernachlässigte Perspektive auf alltägliche Selbstermächtigungsstrategien der Marginalisierten, die Asef Bayat (2012: 67) als das „stille Vordringen des Alltäglichen“, Arjun Appadurai (2001: 23) als „deep democracy“, Vinay Gidwani (2006: 19) als „subalternen Kosmopolitismus als Politik“ oder James Holston und Teresa Caldeira (2010: 20) als „aufständische Stadtbürgerschaftsbewegung“ bezeichnet haben. Dieser Fokus prägte auch meine ausgehend von Ersatzstadt zwischen 2003 und 2018 unternommenen Forschungen über Das Regieren der Favela in Rio de Janeiro (Lanz 2021).
War dieser Blick auf Alltagsstrategien in City of quartz bereits enthalten, fehlt er leider in Mike Davis’ späterem Buch Planet der Slums (2007), in dem auch er seine Analyse auf die globale Welt der Stadt ausweitete, nahezu völlig. Vielmehr unternahm er diese Untersuchung einer sich als Effekt des Neoliberalismus verschärfenden Armut in den urbanen „Slums“ des Globalen Südens aus einer apokalyptischen Außenperspektive. Sichtweisen von lokalen Intellektuellen oder Bewohner:innen, die eher als „atomisierte, apolitische Massen“ (Angotti 2006: 962) gezeichnet wurden, kommen darin kaum vor. Damit fällt das Buch weit hinter die in City of quartz enthaltenen Überlegungen zu möglichen Beiträgen der Stadtforschung für eine „oppositionelle Kultur“ (Davis 1994a: 110) zurück.
„Wie Gramsci sicherlich gesagt hätte“, so schrieb Davis dort (ebd.), „kann eine radikale strukturelle Analyse der Stadt (wie sie die L. A. School vertritt) nur dann zur gesellschaftlichen Kraft werden, wenn ihre Sichtweise in einer alternativen Erfahrung verwurzelt ist – in diesem Fall in der riesigen Dritten Welt von Los Angeles.“ Und es seien die Kinder dieser „polyethnischen und vielsprachigen Gesellschaft“, aus denen das L. A. „des nächsten Jahrtausends“ (ebd.) bestehen werde.
Dass in diesem längst angebrochenen Jahrtausend weder Mike Davis’ Analysen der rassistisch strukturierten Festungsstadt der 1990er Jahre noch deren popkulturelle Protagonist:innen des Widerstands dagegen überholt sind, demonstriert ein kürzliches Ereignis auf dem Berliner Alexanderplatz. Diesen stuft die Polizei als kriminalitätsbelasteten Ort ein, wodurch sie seit 1992 im Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz festgelegte Sonderbefugnisse wie die „verhaltensabhängige Durchsuchung einer Person“ (Polizei Berlin o. J.; vgl Ronneberger et al. 1999: 156 f.) hat. 2017 wurde zudem direkt auf dem Platz eine Polizeiwache eröffnet. Diese ließ nun die Staatsanwaltschaft im Juni 2022 wegen „des Verdachts der Körperverletzung im Amt, der Verfolgung Unschuldiger, der Nötigung und der Freiheitsberaubung“ durchsuchen (sueddeutsche.de 2022). Im Januar 2023 gab es dort eine politische
„Aktion gegen rassistische Polizeigewalt: ‚Das war Mord‘-Plakat an Alexwache […] In einem von den Aktivist*innen auf Twitter verbreiteten Video der Aktion läuft passend dazu der Song ‚Fuck the police‘ von den kalifornischen Gangsta-Rappern NWA. Ein paar Kids, die augenscheinlich zufällig am Alex rumhingen, während das Plakat aufgehängt wurde, freuten sich sichtlich darüber und posierten danach mit dem Poster, während Ice Cube im Video rappt: ‚They have the authority to kill a minority‘.“
(Joswig 2023)