sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 245-254

doi.org/10.36900/suburban.v11i3/4.900

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0

Debatte zu: Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt, Kristine Beurskens: „Was heißt hier Widerstand?“

Kommentare von: Kirsten Angermann, Sören Becker, Peter Bescherer, Tuba İnal-Çekiç, Alke Jenss, Felicitas Kübler, Leon Rosa Reichle, Lela Rekhviashvili, Andrei Semenov, Urszula Woźniak

Schillernde Praktiken. Widerständiges in der neoliberal-autoritären Stadt

Kommentar zu Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt und Kristine Beurskens „Was heißt hier Widerstand? Widerständige Praktiken im Kontext von autoritärem Urbanismus“

Alke Jenss

Widerstand ist nicht immer offener Protest – gerade im Kontext autoritärer Praktiken und städtischer Gewalt. Nicht immer werden gleich ganze Plätze über Monate besetzt oder füllen Tausende laut die Straßen. Die autoritäre Stadt bedeutet gleichsam nicht unbedingt Militärposten und Straßensperren.

Zwei Argumente möchte ich gerne in die Debatte einbringen. Erstens möchte ich, statt zu fragen, was wirklich als Widerstand gelten kann (im Sinne einer Typisierung) nach den sich verändernden Machtverhältnissen im Kontext eines authoritarian urbanism fragen. Mich interessiert der Prozess, in dem Politik entsteht, die Dynamik der Machtverhältnisse, die eben nicht statisch oder eingefroren sind. Zweitens ist es aus meiner Sicht nicht leicht, die Trennung zwischen „stillen“ Mikropraktiken und „offenem“ Protest zu ziehen. Es gibt kein Entweder-oder.

1. Der Staat: Dynamiken von Macht

Sehen wir uns das genauer an: Wenn ich erstens ein prozessuales Verständnis der Machtverhältnisse vorschlage, dann ist das die Frage nach den unterschiedlichen und sich verändernden Handlungsoptionen und -positionen der beteiligten Akteur_innen. Über welche Strategien und Repertoires verfügen sie jeweils? Welche Interessen können überhaupt formuliert werden, wer erreicht breitere Allianzen? Wer kann seine Positionen und Interessen als diejenigen darstellen, die der Stadt am meisten zuträglich sind (Gemeinwohl)? Ist es der Bauträger mit dem attraktiven Investment oder die Nachbarschaftsinitiative, die vielleicht erst viel später vom Bauprojekt erfährt? Die Gruppe, die Straßenblockaden organisiert? Oder die Autofahrenden?

Ein relationales Staatsverständnis ist dabei auch im städtischen Bereich hilfreich. Es versteht Institutionen, – auch eine autoritäre Regierung oder ein Stadtparlament – nicht separat von Gesellschaft, sondern gerade als von gesellschaftlichen Machtverhältnissen durchzogen (Poulantzas 2002). Der Staat, auch der lokale, ist kein Instrument und nicht nur Idee. Er ist vielmehr ein Terrain gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und bietet als solches dominanten gesellschaftlichen Kräften besondere Resonanz und Umsetzungsmöglichkeiten – aber eben nicht nur diesen. Zugleich verändern sich (städtische) Institutionen nicht automatisch, wenn neue gesellschaftliche Gruppen entstehen. Sie weisen vielmehr ein hartnäckiges Beharrungsvermögen auf.

Ein solches relationales Verständnis von Staat auch auf der lokalen Ebene ermöglicht eine kleinteiligere Analyse von Machtbeziehungen in Auseinandersetzungen um politische Projekte in der Stadt. Es ist anschlussfähig an neuere Diskussionen zu processual understandings des Urbanen (Pavoni/Tulumello 2020). Dementsprechend können unterschiedliche Institutionen unterschiedlich ansprechbar sein. So gibt es beispielsweise vielleicht Gespräche von Nachbarschaftsinitiativen mit Einzelnen aus der Stadtverwaltung, aber nicht mit der Stadtregierung. Institutionen wie die Polizei sind häufig national organisierte Organe und daher städtischen Akteur_innen gegenüber gar nicht rechenschaftspflichtig.

2. Die Praktiken: Zwischen unsichtbar und aufbegehrend

Zweitens argumentiere ich, dass real existierende städtische Praktiken des Widerstands sozusagen „oszillieren“ – zwischen Individualität und Kollektivität, zwischen Organisierung und Mikropraktiken des coping. Mich interessieren politische Praktiken im Alltag und ihre transformative Kraft. Die Arbeiten von Verónica Gago und Luci Cavallero (2019) und von Sarah Hall (2019) zum Alltag und zu Care-Praktiken im Kontext von Austeritätspolitik sowie Doreen Massey‘s relational geographies (2004) erfassen alltägliche soziale und politische Praktiken von Stadtbewohner_innen.

Im Debattenaufschlag nennen Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt und Kristine Beurskens (2023) bereits Literatur, die auch leiseren und weniger sichtbaren Widerstand analysiert als in der Bewegungsforschung üblich (Bayat 2010; Mirshak 2019; Unceta et al. 2020). Das können Praktiken sein, die sich gegen staatliche Zumutungen wenden, aber absichtlich versteckt geschehen oder die das alltägliche Leben im Viertel auf eine Weise organisieren, die dem Staat Zugriff auf individuelle Verhaltensweisen entzieht (vgl. Mirshak 2019). Netzwerke für gemeinschaftliche Care-Arbeit, Nachbarschaftsvereine oder feministische und anarchistische Kollektive, die gemeinschaftlich kochen, Kinder betreuen oder Hilfsangebote machen, können Orte der Politisierung sein. Es sind gerade solche alltäglichen Praktiken, die sich in störendes und einflussreiches politisches Handeln verwandeln können. Die bottom line lautet: Die leisen Praktiken können laut werden.

Das ist nicht ganz neu. Es gibt bereits Arbeiten zu Alltagspraktiken und Politik (Beveridge/Koch 2019), zu alltäglichen Praktiken und Care (Morrow/Parker 2020) oder scale-jumping (Trommer 2019). Wichtig ist dabei vielleicht, dass alltägliche Praktiken der Fürsorge und der Anpassung an unsichere Umstände zugleich disruptiv und potenziell transformativ sein können. Sie machen everyday politics aus. Politische Praktiken in der Stadt sind in der Realität nun mal verknüpft mit gelebten Erfahrungen, etwa mit den Auswirkungen von Sparpolitik (Hall 2019). Sie „schillern“ zwischen einem konventionellen Politikbegriff und dem Knüpfen sozialer Beziehungen.

Mit Alltagspraktiken, die politische Handlungsfähigkeit erlangen, meine ich „the everyday modest expressions of volition that often remain anonymous but whose political impact often transcends individual revolt” und die dabei transformativ werden (Morton 2007: 171). Solche politisierten und politisierenden Praktiken haben langfristige Auswirkungen auf die Stadt. Im Kontext der extremen Ungleichheiten, die in der Mehrzahl heutiger Städte bestehen – noch verschärft in Städten mit offiziellen Programmen für mehr Wettbewerbsfähigkeit –, werden Alltagspraktiken spätestens dann politisch, wenn sie über die scale eines Stadtteils hinausgehen und sich auf die größere, wettbewerbsorientierte Stadt auswirken. Der Sprung ist ein qualitativer: Die Praktiken erlangen eine politische Macht, die sie vorher nicht besaßen. Verónica Gago (2019) beschreibt, wie in Buenos Aires aus nachbarschaftlicher Care-Arbeit in soup kitchens, Gefängnissen und an Notruftelefonen zunächst eine Mobilisierung gegen Feminizide entstand und später „a radical and massive movement that was able to politicize the rejection of violence in a new way“. Ich kann zeigen, wie Nachbarn_innen im mexikanischen Oaxaca, die keine Schutzgelder mehr zahlen wollten und sich gegen Gewalt wehrten, sich zunächst zusammenschlossen und schließlich Druck auf den lokalen Staat ausüben konnten, indem sie die Zufahrt zur nahen Mülldeponie blockierten und so die bessergestellten Viertel der Stadt mit Müll fluteten.

3. Alltäglicher Widerstand als Prozess

Dieser Blick auf Protest und Widerstand ist prozessualer und weniger typisierend. Alltägliche Praktiken springen auf andere Personen und Räume über und werden politisch. Die relationale, feministische Perspektive auf politisches Handeln in Gagos (2021: 100) Verständnis des body-territory zum Beispiel ermöglicht es, die Rolle alltäglicher Praktiken in den Auseinandersetzungen um die wettbewerbsorientierte Stadt zu analysieren – auch über verschiedene scales of action hinweg. Gago betont, wie sehr Menschen voneinander abhängig und in vielfältige (räumliche) Beziehungen verstrickt sind (ebd.: 92). Gagos Idee der Notwendigkeit von Bündnissen und Kollektivität für eine Antwort auf immer unmöglichere materielle Lebensbedingungen (ebd.: 79, 93) erinnert an Masseys (2004) geographies of responsibility der Orte, Beziehungen und Netzwerke, an denen jede von uns beteiligt ist. Beide legen nahe, dass kollektive Praktiken die Voraussetzung für politisches Handeln sind. Auch andere Arbeiten aus Lateinamerika denken politisch widerständige Strategien nicht vom Individuum her. Dennoch hinterfragen sie die Widersprüche und Hierarchien in kollektiven Prozessen (Tzul Tzul 2019).

Ich spreche gerade nicht von atomisierten, verstreuten Individuen, die aus persönlichen Gründen kalkulierte Handlungsgrenzen überschreiten. Dies führt eher nicht zu breiterem politischen Widerspruch. Dennoch möchte ich insistieren, dass „political action can also happen on a smaller scale“ (El Aasar 2023): versteckter und kleiner als der große sichtbare Widerstand, der schon der Idee nach zum Wandel im Großen führen soll (in diesem Spannungsverhältnis bewegt sich ja der Debattenaufschlag). Ich plädiere dafür, die leisen, weniger sichtbaren, zuweilen subversiven everyday practices mit dem Begriff der städtischen Alltagspolitik zu verbinden, der ihre Politisierung erfasst – als „collective, organized and strategic practices that articulate a political antagonism embedded in, but breaking with, urban everyday life through altering socio-spatial relations.“ (Beveridge/Koch 2019: 142). Dabei bleibt selbstverständlich die Frage, welche strukturelle Veränderung aus solchen Praktiken jeweils konkret erwächst: „When scattered acts of protest can have a multiplier effect, and accumulate into collective power, then surely the goal is to build the latter” (El Aasar 2023).

4. Der Kontext: Schulden und Aufwertung

Zu fragen ist, in welchem Kontext wir widerständige Praktiken überhaupt beobachten. Mit Gago und Cavallero (2019) verstehe ich die wettbewerbsfähige Stadt als Kontext zunehmenden Schuldendrucks auf (private und öffentliche) Haushalte, in dessen Zuge feminisierte Arbeit öffentliche Infrastrukturen ersetzt (Kinderbetreuung, Versorgung alter Menschen oder Mehrarbeit, um günstigere Lebensmittel zu bekommen). Menschen tragen „individuell und privat die Kosten der Anpassung“ (Gago/Cavallero 2019: 38 ff.). Dieser Kontext richtet sich gewaltvoll gegen weibliche Körper: in Form gewalttätiger sozialer Beziehungen, der Ermordung von Demonstrantinnen (die, wie etwa in Argentinien, gegen die massenhafte Verschuldung privater Haushalte auf die Straße gegangen sind) oder sogar in Form mangelnder Versorgung mit Lebensmitteln. In meiner Forschung zeigt sich dies in Situationen, wo viele Nachbarschaften gar nicht mit privaten (und schon gar nicht mit öffentlichen) Buslinien angebunden sind und Care-Arbeit entsteht, weil Personen sich gegenseitig begleiten, abholen oder Umwege in Kauf nehmen, um sich vor Übergriffen zu schützen. Hier sind die physische Gewalt gegen Körper, die brutalisierten Schuldverhältnisse und die kapitalistische Akkumulation auf globaler Ebene mit politischem Handeln in Beziehung gesetzt (Gago 2021: 89).

Nach 2008 war der Immobilienmarkt wesentlicher Bestandteil der größten Kapitalmarktturbulenzen seit 1929. In unterschiedlichem Ausmaß waren diese nicht nur in Europa und den USA, sondern auch in Mexiko, Brasilien oder der Türkei zu spüren. Seitdem erleben gerade Städte im sogenannten Globalen Süden eine echte urbane Krise (Rolnik 2019). Neue Wellen von austerity urbanism haben Sparpolitik und Wettbewerbslogiken zwischen Städten und Einzelpersonen miteinander kombiniert und so die wirtschaftlich-sozialen Ungleichgewichte bei der Produktion von städtischem Raum verschärft. Kommunale Entscheidungen für oder gegen bestimmte Investitionen werden räumlich selektiver und spiegeln vermehrt Interessen einkommensstarker Städter_innen und die Verkehrung von gesellschaftsorientierter Stadtpolitik in Standortpolitik wider (Schipper 2013). Überall auf der Welt gab es massive, staatlich beförderte Sanierungs- und Wohnungsbauprojekte, und zwar mit großem Nachdruck im sogenannten Globalen Süden.

Was in den 1990er und 2000er Jahren möglicherweise legitimierend wirkte – eine massive private Wohnungsfinanzierung auf Kredit, die die Interessen von Marktakteur_innen und breiten gesellschaftlichen Gruppen zusammenbrachte – ist in dieser Form weggebrochen. Auf die geplatzte Spekulationsblase folgte in politisch sehr unterschiedlichen Kontexten eine ausgesprochen ausgrenzende Stadtpolitik. Allianzen zwischen Unternehmer_innen und (lokalen) staatlichen Stellen erlaubten eine neue Phase der Gentrifizierung, die die Räumung benachteiligter Stadtviertel mit der privaten Aneignung von Grund und Boden zugunsten von Kapitalakkumulation verband. Neue autoritäre Praktiken und Prozesse der Gentrifizierung (Lees et al. 2016) wurden miteinander verknüpft – und zwar gerade auch in Staaten, die gemeinhin als demokratisch gelten.

5. Bedingungen: Staatlicher und nicht-staatlicher Zwang

Der autoritäre Neoliberalismus zeigt sich gerade in der Stadt: Staatlicher Zwang unterstützt Austeritäts- und Wettbewerbsprogramme ohne Partizipation und Entscheidungsmacht der meisten Städter_innen, dafür aber mit hochgradig differenzierten sozialräumlichen Auswirkungen (Jenss 2019). Neoliberale städtische Wettbewerbspolitik kann, gerade in Lateinamerika, wo ich häufig forsche, nicht ohne ihre Ursprünge in den Militärdiktaturen der 1970er Jahre verstanden werden. Die enge Verflechtung zwischen Pinochets Putsch in Chile 1973 und den in Chicago ausgebildeten chilenischen Technokraten verdeutlicht diese gewaltsamen Ursprünge ebenso wie die autoritäre Umsetzung der Strukturanpassung im Mexiko der 1980er Jahre.

Widerstand bewegt sich also stets in einem Kontext, in dem der Staat nicht verschwindet, sondern staatliche Intervention radikal umgestaltet wurde. Autoritär ist an diesem Kontext, dass gesellschaftliche Konflikte zunehmend militarisiert werden, dass die Bedrohung durch Enteignung durchaus real ist und dass Protest im Namen von Sicherheit kriminalisiert wird (Gago/Cavallero 2019: 29). Ein hiesiges Beispiel sind die im März 2023 in Heilbronn ausgesprochenen mehrmonatigen Haftstrafen gegen Aktivist_innen der „Letzten Generation“ (SWR aktuell 2023).

Autoritär kann der Kontext auch sein, wenn Gewalt alltägliche Praktiken aushebelt und transformiert. Tatsächlich leben viele Städter_innen in Kontexten, in denen sie alltäglich auf gewaltvolle Begegnungen gefasst sein müssen. Städtische everyday practices wie Bewegungsmuster, Sicherheitsvorkehrungen oder der Aufenthalt im öffentlichen Raum, aber auch Gewalterfahrungen sind bekanntermaßen je nach gesellschaftlicher Positionierung (class, race, gender) sehr unterschiedlich. Gewaltakteur_innen fordern gesellschaftliche Codes ein (curfews, Hausarrest, Schutzgeld) und strukturieren öffentliche Räume um. Wo staatliche Stellen nicht eingreifen, weil die Betroffenen keine Priorität haben oder die Gewalt die Wettbewerbsorientierung nicht beeinträchtigt, ordnen diese Akteur_innen den städtischen sozialen und physischen Raum. Felipe Fernández (2022: 297) zeigt, wie Besitzer_innen kleiner Läden in Buenaventura in Kolumbien monatliche Schutzgelder zahlen. Wenn „things get hot“, kommen die Eintreiber auch häufiger vorbei. Das Schutzgeld schützt die Ladenbesitzer_innen vor allem vor den Schutzgeldeintreibern selbst. In Oaxaca bitten Studierende darum, Seminare früher verlassen zu können, um einen früheren Bus nehmen zu können. Aktivist_innen nehmen ständig wechselnde Wege nach Hause oder zur Arbeit, weil sie teilweise um ihr Leben fürchten. Wo sich städtische Wettbewerbsorientierung mit physischer Gewalt verbindet, können Menschen sich nicht lange im öffentlichen Raum aufhalten (geschweige denn demonstrieren). Sie meiden Orte und müssen sich organisieren, um sicher von A nach B zu kommen (Jenss 2021). Moncada (2021: 64 ff.) argumentiert: Wenn Gewalt ausübende Gruppen längerfristig bestehen, gut organisiert sind und möglicherweise mit staatlichen Stellen kooperieren, seien nur improvisierte Praktiken von „everyday resistance“ möglich. In jedem Fall gilt: In Kontexten, in denen öffentlicher Raum kein „place for walks and encounters, ... deals and negotiations“ ist (Lefebvre 2004: 96), braucht es leise, wenig sichtbare Praktiken, lange bevor Protest sichtbar wird.

Diese Bedingungen (staatlichen und nicht-staatlichen) Zwangs verändern die Intention der Praktiken, nach der Zupan et al. (2023) fragen. Gerade weil sich den Akteur_innen die Möglichkeiten politischer Wirkmächtigkeit erst auftun, ist das Ziel widerständiger Praktiken nicht von vornherein gegeben oder auf den Staat gerichtet. Im Kontext von Verschuldung, drohender Vertreibung und städtischer Gewalt könnte der Wunsch nach Transformation unter der alltäglichen Last auch verschwinden. Disziplinierung funktioniert dann auch über die „Angst, dass alles noch schlimmer werden könnte“ (Gago/Cavallero 2019: 24; siehe auch Ponder/Omstedt 2022). Doch vielleicht stellt sich Widerstand stattdessen auch einfach anders dar.

6. Schluss

Eine Antwort auf die Frage von Zupan et al. (2023) könnte eine Perspektive auf Protest und Widerstand sein, die den Prozess und die Dynamik betont. Das bedeutet für mich, dass wir nach den unterschiedlichen und veränderlichen Handlungsoptionen der beteiligten Akteur_innen fragen – und zwar auch in Bezug auf den (lokalen) Staat. Den wiederum verstehe ich nicht als Gegenstück zu gesellschaftlichen Akteur_innen, sondern als durchzogen von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Für mich „schillern“ Praktiken des Widerstands zwischen dem alltäglichen Bemühen, gerade in unsicheren Umständen zu bestehen einerseits und offenerem Protest andererseits. Die „leisen“ Praktiken können laut werden, alltägliche Praktiken der Fürsorge sind potenziell transformativ. Sie machen everyday politics aus. Wenn ich von städtischer Alltagspolitik spreche, geht es mir um eine solche Politisierung als Prozess: um kollektive und organisiertere Praktiken, die aus dem alltäglichen Leben sowie aus geknüpften Beziehungen entstehen, diese aber auch verändern. Es geht also nicht um verstreute Individuen, sondern um die geknüpften Beziehungen, insbesondere um Care-Praktiken herum (von der Suppenküche bis zum Nachbarschaftsrat), die den Keim von offenem Antagonismus in sich tragen. Nicht immer kann Protest offen ausgetragen werden. Sichtbare und weniger sichtbare widerständige Praktiken bewegen sich häufig in einem Kontext, in dem der Staat nicht verschwindet, aber physische Gewalt, brutalisierte Schuldverhältnisse und extreme Ungleichheit zum alltäglichen Erleben gehören. Wo Stadtbewohner_innen alltäglich auf gewaltvolle Begegnungen gefasst sein müssen, hebelt Gewalt auch everyday practices aus. Unter solchen Bedingungen wird die Intention von Widerstand als solchem, wird ihre politische Wirkmächtigkeit den Akteur_innen möglicherweise erst im Prozess deutlich.