sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 267-272

doi.org/10.36900/suburban.v11i3/4.901

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CC BY-SA 4.0

Debatte zu: Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt, Kristine Beurskens: „Was heißt hier Widerstand?“

Kommentare von: Kirsten Angermann, Sören Becker, Peter Bescherer, Tuba İnal-Çekiç, Alke Jenss, Felicitas Kübler, Leon Rosa Reichle, Lela Rekhviashvili, Andrei Semenov, Urszula Woźniak

Erinnerung an rechte Gewalt in Ostdeutschland als widerständige Praxis

Kommentar zu Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt und Kristine Beurskens „Was heißt hier Widerstand? Widerständige Praktiken im Kontext von autoritärem Urbanismus“

Felicitas Kübler

„Hinter der Erinnerung an endlose Strandtage, Meeresluft, Waldspazier­gänge, an Kindergeburtstage, Störtebekerfestspiele, die prächtige Altstadt, an Bootsfahrten, Urlaube, Softeisessen, Sonnencreme, Fischteller, Kreidefelsen, da liegt noch ein anderer Teil meiner Jugend vergraben.“ So beginnt Hendrik Bolz (2022: 18) seine semi-autobiografische Erzählung über Kindheit und Jugend im Stralsund der Nachwendezeit. Eine Erzählung über „Kalte mahlende Transformationsprozesse, luftleere[n] Raum, anomische Zustände, rechte Gewalt, Deindustrialisierung […], Abwertung, Abstieg, Scham, Schuld, Schweigen, Schweigen, Schweigen“ (ebd.: 17). Im Debattenaufschlag stellen die Autor:innen die Frage, wie Widerstand in der Stadtforschung üblicherweise theoretisiert wird. Sie beziehen sich neben kollektiven und organisierten Handlungen wie Protesten auch auf „leisere“ Praktiken des Widerstandes auf individueller und alltäglicher Ebene. Obwohl die Autor:innen Widerstand als „komplexes Phänomen“ identifizieren, das in seinen „Formen, Intentionen und Wirkungen“ differenziert (Zupan et al. 2023: 240), so handelt es sich dabei zugleich immer um Praktiken, mittels derer sich Angehörige einer marginalisierten Gruppe den dominanten Verhältnissen widersetzen. Im Folgenden richte ich den Fokus auf eine solche „leise“ Form des Widerstandes und zeige, wie Erinnerungen eine diskursive Brücke zu widerständigen Raumnahmen schlagen können. Dazu gehört, dass gesellschaftlichen Kämpfen als erste Prämisse nicht selten der Bruch eines gesellschaftlichen Tabus vorausgeht, das mit dem Beschweigen historischen oder kontemporären Unrechts einherging (Till 2012: 10). Auf diese Weise bricht auch Bolz (2022) in seiner eingangs erwähnten Erzählung das Schweigen, gräbt einen anderen Teil seiner Jugend aus, erzählt von Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Drogenkonsum, alltäglicher Gewalt und immer wieder von Neonazis. Die Neonazis besetzen durch ihre schiere Anwesenheit und offensichtliche Gewaltbereitschaft den öffentlichen Raum und kontrollieren diesen, wie der Protagonist Hendrik am eigenen Leib erfährt, als ihm wegen seiner „schwulen Schuhe“ – roter Adidas Samba – gedroht wird, die Knochen zu brechen und den Schädel einzuschlagen (ebd.: 81). Es geht in diesem Kommentar somit um die Erinnerung an autoritäre Raumnahmen durch nicht-staatliche Akteur:innen. Anhand dieses Beispiels führe ich im Folgenden zunächst Erinnerung als eine Form von Widerstand ein, bevor ich diese Konzeption mittels der (literarischen) Erinnerung an rechte Gewalt im Ostdeutschland der Nachwendezeit eruiere.

Erinnerung kann eine Form von Widerstand sein, etwa wenn eine marginalisierte Gruppe ihre Erfahrungen von (historischem) Leid, Unrecht, Verfolgung und oft genug auch Mord artikuliert – gegen den Widerstand einer gesellschaftlich dominanten Gruppe. Ein Beispiel ist der Völkermord an den Herero und Nama, dessen Anerkennung im völkerrechtlichen Sinne der deutsche Staat bis heute verweigert (Selz 2023). Bislang hat Deutschland den Genozid nur im historischen Sinne anerkannt – und weicht damit Reparationszahlungen, die mit einer völkerrechtlichen Anerkennung verbunden wären, aus. Erinnerung als Widerstand kann durch unterschiedliche Territorialisierungen vorgebracht werden, etwa als künstlerische Intervention, als Theater (Till 2012), als Installation (Anderson/Daya 2022), als Wandbild, als Gedenkwanderung (Courtheyn 2018) oder Demonstration (Merrill/Lindgren 2020). Meist richtet sich eine solche Erinnerung als Widerstand gegen einen Staat, fordert Anerkennung, gesellschaftliche Gerechtigkeit und einen materiellen Ausgleich für historisches Unrecht. Das im Folgenden diskutierte Beispiel weicht davon in Teilen ab, eröffnet jedoch eine erweiterte Perspektive auf Erinnerung als Widerstand gegen autoritäre Politiken.

Die Erinnerung an neonazistische Gewalt in Ostdeutschland hat sich zu einem öffentlich breit diskutierten Thema entwickelt. Während die rassistischen Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen zu Beginn der 1990er-Jahre als massivste Ausbrüche rechter Gewalt schon länger einen festen Platz im öffentlichen Gedächtnis der Bundesrepublik haben (Begrich 2023: 277), war es der Hashtag #baseballschlägerjahre, den der Journalist Christian Bangel im Oktober 2019 erstmals auf der Microblogging-Plattform Twitter nutzte, durch den das alltägliche Ausmaß rechter Gewalt deutlich wurde. Unter dem Hashtag sammelten sich Erzählungen über die Normalität und Allgegenwärtigkeit der von Neonazis ausgehenden Gewalt sowie über Erfahrungen von Angst und anhaltender Traumatisierung: „Die Tweets führten in die Nachwendezeit, sie führten auf Parkplätze, in Freibäder, auf Schulhöfe. Sie erzählten von Überfällen auf öffentlichen Toiletten, von Gaspistolen an Schläfen, von Adrenalin und Todesangst.“ (Bangel 2022) Die Tweets erzählen nicht nur die Geschichte von Gewalt- und Angsterfahrungen, sondern auch die Geschichte eines autoritären Zugriffs auf den öffentlichen Raum. Verschlagwortet als „national befreite Zonen“ (Fahr 1998: 4 f.) ging es den Neonazis um die Ausübung räumlicher Kontrolle durch die temporäre Aneignung eines direkten Gewaltmonopols. Wie die Gewalt durch den so entstanden autoritären Zugriff auf alltägliche Geographien erfahren wurde, fand durch #baseballschlägerjahre seinen Ausdruck. Zuvor war die Gewalt der Nachwendezeit häufig verharmlost und entpolitisiert worden, wie beispielsweise in Moritz von Uslars Roman Deutschboden über eine brandenburgische Kleinstadt, auf den Manja Präkels (2017a) im Spiegel wütend erwiderte: „Sie [haben] uns gejagt, mich und meine Freunde. Sie nannten uns Zecken, und wir kapierten erst nicht, was sie meinten. Es ging ihnen auch nicht um unsere politische Haltung. Hatten wir überhaupt eine? Wir waren Mädchen mit kurzen und Jungs mit langen Haaren. Wir trugen keine Hakenkreuze zur Schau. […] Die Straßen und öffentlichen Plätze waren nun besetzt von Glatzen-und-Seitenscheitel-Banden.“ Präkels beschrieb weiter, wie vielen nur die Flucht in die Großstadt blieb und diejenigen, die nicht fliehen konnten, „zugrunde“ gingen (ebd.). Somit hat die Erinnerung an rechte Gewalt in diesem Kontext auch eine politische Konnotation. Neben einer veränderten historischen Erzählung fordert sie von den Verantwortlichen und nicht zuletzt vom Staat Rechenschaft und Anerkennung.

Die literarische, meist (semi-)autobiografische Auseinandersetzung mit dieser Zeit wie Manja Präkels (2017b) Erzählung Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß, Daniel Schulz’ (2022) Wir waren wie Brüder oder Hendrik Bolz’ (2022) Nullerjahre: Jugend in blühenden Landschaften beschreiben ähnlich wie die erwähnten Tweets aus unterschiedlichen Perspektiven Erfahrungen rechter Gewalt in der Nachwendezeit. Vor allem Präkels legt deren traumatische Dimension offen und erzählt von der Allgegenwärtigkeit rechter Symboliken, Parolen und Gewaltandrohungen sowie den Formen der Akzeptanz, Ermutigung und des vereinzelten Widerstandes, mit denen den Rechten begegnet wurde. Doch zugleich verschwinden die Spuren dieser Gewalterfahrungen bereits nach kurzer Zeit, wie Präkels (2017b: 182) beschreibt: „Die alten Gebäude waren verwaist und innerhalb kurzer Zeit zu Ruinen verfallen. Das Gleiche galt für Kinos und Kulturhäuser. Die Wolfshöhle hatte ihre Pforten ebenso geschlossen wie andere Dorfdiskotheken, die niemanden mehr fanden, der sie versicherte. Es hatte zu viele zerschlagene Fenster, verprügelte Gäste und zertrümmerte Tresen gegeben. Von Krischi sprach man nicht. Er war bereits vergessen.“ Krischi, eine Figur des Romans, ist vermutlich an Ingo Ludwig angelehnt, der im Januar 1992 an den Verletzungen starb, die ihm Neonazis zugefügt hatten (Opferperspektive o. J.). Ähnlich wie bei vielen anderen Menschen, die von Rechten ermordet wurden, weil sie nicht in deren Weltbild passten oder Widerstand gegen sie leisteten, hat es bislang weder ein öffentliches Gedenken für Ingo Ludwig gegeben, noch wurden die Täter:innen juristisch adäquat zur Verantwortung gezogen. So überrascht es auch kaum, dass die Bundesregierung seit 1990 lediglich 113 Tötungsdelikte im Zusammenhang mit rechter Gewalt zählt, andere Stellen wie die Amadeu Antonio Stiftung (2023) jedoch von 219 Tötungsfällen und 16 Verdachtsfällen ausgehen.

Die oben umrissenen Erzählungen und Zeugnisse sind als Widerstand gegen das Vergessen rechter Gewalt zu verstehen, das mit dem Ver­schwinden der dazugehörigen materiellen Spuren einherging. Wichtig für die Debatte ist hier, dass Erfahrungen von Autoritarismus nicht zwangsläufig von staatlichen Institutionen ausgehen. Vielfach sind es nicht-staatliche Akteur:innen, die der staatliche Sicherheitsapparat jedoch einfach gewähren ließ. Burkhard Schröder (1997: 119 f.) beschreibt beispielsweise ein Ereignis, bei dem die Polizei linken Jugendlichen in Wurzen unter fadenscheinigen Beteuerungen ihre Hilfe gegen einen Neonazi-Angriff auf das von ihnen bewohnte Hausprojekt verweigerte. Die oben genannten literarischen Erzählungen beschreiben, wie Eltern, Lehrer:innen und staatliche Stellen bei rechter Gewalt einfach wegsahen oder den betroffenen Jugendlichen selbst die Verantwortung zuschrieben, indem sie etwa bunte Haare als eine unziemliche Provokation gewalttätiger Neonazis bezeichneten. Offenen Widerstand gegen Neonazis leisteten vielfach vor allem antifaschistische Aktivist:innen – durch Demonstrationen, Aufklärungs- und Monitoringarbeit oder militante Gegengewalt (Antifaschistisches AutorInnenkollektiv o. J.). Heute sind die Täter:innen von damals Erwachsene, haben Berufe ergriffen und Familien gegründet. Zugleich sind die Menschen, die damals Opfer ihrer Gewalt waren, noch immer „verletzt, unsichtbar, verstecken sich, finden keine Worte oder können nichts mehr sagen“ (Präkels 2017a). Das Erzählen von Erfahrungen rechter Gewalt bricht aus dieser Zuschreibung aus, indem sich die ehemaligen Opfer die Deutungsmacht über ihre Geschichte zurückholen. Zugleich werden das victim blaming und das falsche Verständnis für die jugendlichen Neonazi-Täter:innen enthüllt. Indem das erlittene Trauma durch eine alltägliche Geographie rechter Gewalt zur Sprache kommt, werden auch die betreffenden Orte in den widerständigen Diskurs eingebunden. Somit sind es die Erzählungen der erlebten Emotionen und der verkörperten Erfahrungen, die Erinnerung und Widerstand mit den beschriebenen Geographien rechter Gewalt verbinden.

Die Social-Media-Beiträge zu #baseballschlägerjahre und die erwähnten Romane zeigen, wie Orte, die Erfahrungen autoritärer Gewalt symbolisieren, erinnert und in widerständigen Praktiken und Diskursen referenziert werden können. Sie zeigen die traumatisierenden Dimensionen, die mit Erfahrungen eines autoritären Zugriffes auf Geographien des alltäglichen Lebens einhergehen – aber auch, wie diese zu einer widerständigen Praxis gewandelt werden können. Die Erzählungen zeigen, wie Orte von Gewalterfahrungen mit intensiven Emotionen und Affekten verbunden wurden, wie sie der Angst und den Zuschreibungen (etwa als „Zecke“, Präkels 2017a), Ausdruck verliehen. Doch durch das (literarische) Zeugnis widersetzen sich die Erzählenden dieser Zuschreibung und leisten Widerstand gegen die dominanten Diskurse des Schweigens über die Alltäglichkeit rechter Gewalt. Zudem richtet sich der Widerstand gegen die vielfache Weigerung des Staates, Verantwortung für das Versagen von Sicherheitsbehörden zu übernehmen, die Täter:innen zur Verantwortung zu ziehen und den Opfern Anerkennung zuteilwerden zu lassen. Durch die Erzählungen von rechter Gewalt hat sich der öffentliche Diskurs verschoben, doch eine offizielle Anerkennung der Opfer und eine juristische Aufarbeitung stehen vielfach noch aus.