sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 273-281

doi.org/10.36900/suburban.v11i3/4.902

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Debatte zu: Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt, Kristine Beurskens: „Was heißt hier Widerstand?“

Kommentare von: Kirsten Angermann, Sören Becker, Peter Bescherer, Tuba İnal-Çekiç, Alke Jenss, Felicitas Kübler, Leon Rosa Reichle, Lela Rekhviashvili, Andrei Semenov, Urszula Woźniak

Widerstand mit Architektur? Beispiele aus der DDR

Kommentar zu Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt und Kristine Beurskens „Was heißt hier Widerstand? Widerständige Praktiken im Kontext von autoritärem Urbanismus“

Kirsten Angermann

Die vier Autor*innen rufen im Debattenaufschlag (Zupan et al. 2003) zum Nachdenken über Formen städtischen Widerstands in autoritären Systemen auf. Sie überzeugen mit der Ausgewogenheit ihres Beitrags, aber auch mit ihren nachvollziehbaren Fragen und Zweifeln hinsichtlich des Themas Widerstand. Aus der Perspektive der Architektur- und Städtebaugeschichte lässt sich am besten anhand konkreter Beispiele darüber nachdenken. Im Folgenden stelle ich daher zunächst drei Fallbeispiele aus meiner Forschung zur Geschichte von Städtebau und Architektur in der späten DDR vor. Anschließend analysiere ich diese mit dem von Zupan et al. vorgeschlagenen Dreischritt hinsichtlich ihrer Formen, Intentionen und Wirkungen. Im Weiteren ergänze ich dies um Definitionen aus der Oppositionsforschung zu Ostdeutschland sowie aus der Architekturtheorie, um der Frage nachzugehen, in welcher Form Widerstand in der DDR mit und durch Architektur ausgedrückt werden konnte.

1. Widerstand durch Architektur: drei Beispiele

Ein im Kontext von Widerstand in der DDR-Architektur immer wieder angeführtes Beispiel (u. a. bei Kil 1990; Hain 2000; Weizman 2012) sind die beiden Architekten Christian Enzmann und Bernd Ettel. Beide waren Mitarbeiter der Bauakademie in Berlin und beteiligten sich zu Beginn der 1980er Jahre als Duo an städtebaulich-architektonischen Wettbewerben. Eine erste Provokation war 1983/1984 ihr ohne Genehmigung durch die DDR in der Bundesrepublik eingereichter Wettbewerbsbeitrag für eine Gedenkstätte auf dem ehemaligen Prinz-Albrecht-Gelände in Berlin-Kreuzberg, dem heutigen Standort der „Topographie des Terrors“. Darin verbanden sie das Gedenken an die NS-Diktatur mit den baulichen Anlagen des DDR-Grenzregimes sowie mit Textpassagen zu Entwicklungsstadien einer Diktatur.[1] In den gleichen Jahren entstanden zwei weitere Wettbewerbsentwürfe, die keine Vorschläge für realisierbare Architektur, sondern gezeichnete Manifeste waren. Enzmanns und Ettels Beitrag zur Neugestaltung des Berliner Bersarinplatzes ist dabei als allegorische Kritik sowohl an der Planungspraxis der DDR als auch an ihrem Staatssystem selbst aufzufassen. Zentraler Bestandteil ist ein „Kunstobjekt ‚Ikarusflug‘“, das den Bürger_innen vor den aufgerissenen Fassaden der verfallenden Bestandsbauten den individuellen Versuch eines Flugs in die Freiheit ermöglichen sollte. Die Fliegenden würden jedoch unmittelbar nach Passieren eines Tores durch „die staatliche Gewalt, symbolisiert durch Laserkanonen“ getroffen und abstürzen (Enzmann/Ettel 1990: 64). Enzmann und Ettel wurden 1984 verhaftet und wegen „Herabwürdigung der Bau- und Friedenspolitik der DDR“ sowie illegaler Kontaktaufnahme zum Westen angeklagt und zu Gefängnisstrafen verurteilt (Sandrock 1987).

Ein zweites Beispiel ist die Bau- und Planungsgeschichte des Bowlingtreffs in Leipzig. Hier entstanden 1987 in einem ausgedienten unterirdischen Umspannwerk am brachliegenden Wilhelm-Leuschner-Platz Bowlingbahnen. Oberirdisch wurde ein achteckiges Eingangsbauwerk errichtet. Das Projekt wurde zwar mit Genehmigungen der lokalen Administrationen – den Räten von Stadt und Bezirk Leipzig – geplant, jedoch ohne die notwendige Bilanzierung und Genehmigung der staatlichen Plankommission sowie des Ministerrates. Der Bowlingtreff war damit im Verständnis der Zeit ein Schwarzbau. Der Bau erfolgte faktisch ohne Budget, vorrangig mithilfe sogenannter Feierabendarbeit der planenden Architekten (leitend: Winfried Sziegoleit und Volker Sieg), in unzähligen Arbeitsstunden ehrenamtlich Engagierter und abkommandierter Gruppen von Studierenden und Pionier_innen sowie mit Materialresten von anderen Bauvorhaben (vgl. Topfstedt 1990; Angermann 2022). Das Ergebnis war ein Gebäude, das nicht nur dem in der DDR seltenen Typus des Freizeitcenters entsprach oder mit Bowlingbahnen und Fitnessräumen Beschäftigungen nach US-amerikanischem Vorbild bot, sondern das zudem durch seine Gestaltung mit rosa Stützen, hellgelben Wänden, Kapitellen, Zierbalkonen und einer großen Glaspassage zu den verspieltesten Architekturen der DDR-Postmoderne gehört – und das vor der Kulisse der verfallenden Bauten in seiner Umgebung.

Abb. 1 Eingangs­halle des Bowlingtreff Leipzig, Zustand 2015 (Foto: Kirsten Angermann)
Abb. 1 Eingangs­halle des Bowlingtreff Leipzig, Zustand 2015 (Foto: Kirsten Angermann)

Als letztes Beispiel möchte ich den Wettbewerb für die Leipziger Innenstadt anführen. Vor dem bereits erwähnten Hintergrund des desolaten Zustands der Leipziger Innenstadt wurde 1988 ein offener städtebaulich-architektonischer Ideenwettbewerb ausgelobt, der Anregungen für die Profilierung Leipzigs als zukunftsfähige Messe- und Buchstadt sowie für die Bebauung der verbliebenen Kriegsbrachen liefern sollte. Die Einreichungen überraschten die Jury. Viele Entwürfe vor allem jüngerer Architekt_innen zitierten hinfällig bekannte Beispiele der internationalen, westlichen Postmoderne. Sie wiesen zudem eigenständige Interpretationen einer zeitgenössischen Architektur auf und zeichneten überdies ein Bauprogramm vor, das mit den vorhandenen Ressourcen gar nicht realisierbar gewesen wäre. Das Bauministerium verfügte daher, die Wettbewerbsbeiträge zurückzuhalten, um bei der Bevölkerung keine Begehrlichkeiten zu wecken.[2]

2. Analyse: Formen, Intentionen und Wirkungen

Unter der Annahme, dass alle drei Beispiele widerständige Handlungen beinhalten, kann man sie entlang der vorgeschlagenen drei Dimensionen nach Form, Intention und Wirkung analysieren. Dabei wird deutlich, dass diese Unterscheidung nicht immer trennscharf möglich ist.

Bezüglich der Form gingen die Architekten Enzmann und Ettel zum einen individuell vor und blieben ihre Provokationen der Öffentlichkeit und auch einem Großteil der Fachöffentlichkeit verborgen. Zum anderen wählten sie mit Architekturwettbewerben ein Medium, für das zumindest die Option einer öffentlichen Publikation bestand, wie sie im Fall des Wettbewerbs zum West-Berliner Prinz-Albrecht-Gelände auch erfolgte (Bauausstellung Berlin 1985). Die Intention der beiden ist zwar offenkundig widerständig, aber dennoch nicht eindeutig: War es eine Form politischer Dissidenz, die das System zu stürzen versuchte oder wollten beide nur Argumente für ihren bis dahin verweigerten Ausreisewunsch liefern (vgl. Sandrock 1987)?

Das Vorgehen der Beteiligten beim Bau des Bowlingtreffs kann als offen artikuliert bezeichnet werden, immerhin entstand mitten in Leipzig für alle sichtbar ein Gebäude. Aber war dies auch getragen von einem kollektiven Willen? Oder kann man letztlich nur Einzelpersonen die Intention – und auch die Handlungsmacht – zuschreiben, mit dem Bowlingtreff eine Protestnote an die politischen Entscheider_innen in der Hauptstadt zu senden?

Unterstellt man den Teilnehmer_innen des Leipziger Wettbewerbs von 1988 widerständiges Verhalten oder zumindest eine kritische Haltung, so wäre dies ebenso eine (fach-)öffentliche Form des Widerstands, der aber jeweils individuell getragen wurde. Auch hier lässt sich ex post kaum erschließen, ob die Architekt_innen mit ihrer Architektursprache provozieren wollten oder ob sie recht unpolitisch oder gar unbedarft einfach die Freiheiten nutzten, die ihnen die offene Wettbewerbsauslobung bot.

Letztlich überrascht vor allem der Blick auf die Wirkungen der drei Beispiele. Die offenkundigste und artikulierteste Form des Widerstands von Enzmann und Ettel hatte die größten individuellen und beinahe die geringsten gesellschaftlichen Auswirkungen. Die beiden wurden inhaftiert, Bernd Ettel 1986 immerhin von der Bundesrepublik freigekauft, aber eine spürbare Veränderung der Planungspolitik oder gar des politischen Systems lässt sich nicht ausmachen – mit Ausnahme einer 1989 im Bund der Architekten der DDR diskutierten, aber offenbar nicht mehr verabschiedeten Verschärfung der Regelungen zur Teilnahme an internationalen Architekturwettbewerben.[3] Der Protest der Leipziger_innen gegen die von ihnen wahrgenommene Bevorzugung von Bauvorhaben in der Hauptstadt Berlin (Ost) und impliziter gegen den Verfall der Leipziger Innenstadt, den man mit dem Bowlingtreff assoziieren kann, verpuffte auch beinahe. Zwar erreichten die Akteur_innen das Ziel ihrer „urban ingenuity“ (Demshuk 2020), nämlich die Realisierung eines Freizeitcenters. Als jedoch Ministerrat und Bauministerium auffiel, dass das Vorhaben nicht bilanziert war, wurde nicht etwa der Bau gestoppt. Vielmehr wurde die Eröffnung kurzerhand auf den Juli 1987 datiert und damit in das gleichzeitig stattfindende Rahmenprogramm des VIII. Turn- und Sportfestes Leipzig eingebettet. Die subversive Note wurde dadurch eliminiert und der Schwarzbau nicht nur legalisiert, sondern auch noch für eine Leistungsschau des Staates instrumentalisiert. Der Bowlingtreff ist somit wohl eher ein Beispiel für die im Debattenaufschlag genannte Möglichkeit, dass subversive Praktiken bestehende Systeme ungewollt stabilisieren.

Im Fall des Leipziger Wettbewerbs von 1988 ist das Verhältnis zwischen Intention und Wirkung genau umgekehrt. Wahrscheinlich ist, dass die meisten Wettbewerbsteilnehmer_innen gar keinen Eklat provozieren wollten. Vielen muss in Kenntnis der wirtschaftlichen und politischen Situation der DDR jedoch bewusst gewesen sein, dass ihre Entwürfe letztlich nicht realisierbar waren. Genau das beflügelte vielleicht zu einer Art Leistungsschau. Die Gegenüberstellung des gestalterischen Potenzials der Architekt_innen mit den limitierten Möglichkeiten des Bauwesens in der DDR brachte ein erhebliches Ungleichgewicht zutage, das dem bestehenden System hätte gefährlich werden können. Das Bauministerium reagierte daher mit der drastischen Maßnahme, die Ergebnisse des Wettbewerbs möglichst erst gar nicht der Öffentlichkeit zu präsentieren und den Wettbewerb so faktisch unter den Tisch fallen zu lassen. Wie sehr der Wettbewerb jedoch die Beteiligten bewegt hatte, zeigt sich unter anderem daran, dass er gleich im Herbst 1989 (Fischer 1989) und Frühjahr 1990 (Fischer/Groß 1990) ausführlich publiziert wurde.

3. Diskussion: Was heißt hier Widerstand?

Ich möchte hier noch einmal der von mir zuvor getroffenen Annahme nachgehen, in allen drei Beispielen sei widerständiges Handeln zu erkennen. Wann wurde hier jeweils was zum Widerstand und wie kann dieser definiert werden?

Hier möchte ich zunächst auf eine politikwissenschaftliche Differen­zierung von zwei Formen des Widerstands eingehen: Opposition und Dissidenz (beispielhaft definiert bei Daase/Deitelhoff 2014: 12). Beide hätten zum Anliegen, „politische Alternativen zur herrschenden Ordnung [zu] formulieren“, unterschieden sich jedoch wesentlich darin, „ob sie die Ordnung und die darin geltenden Spielregeln politischer Teilhabe akzeptieren und mit ihnen konform gehen (Opposition) oder ob sie diese Spielregeln ablehnen oder bewusst überschreiten (Dissidenz).“ (ebd.) Opposition hätte demnach vorrangig policies zum Gegenstand des widerständigen Agierens, also konkrete politische Inhalte, während Dissidenz bis hin zum Widerstand sich gegen polity richte, also gegen institutionelle Strukturen bis hin zum gesamten politischen System (ebd.).

In Bezug auf die DDR existieren in der Forschung unterschiedliche Unterscheidungen zwischen Opposition, Widerstand und Dissidenz. Ehrhart Neubert unterscheidet analog zu den Politikwissenschaften je nach rechtlicher Ebene und der Intention der politischen Gegnerschaft zwischen Opposition innerhalb und Widerstand außerhalb des politischen Systems. Zudem fügt er beiden den „Widerspruch“ als mildere Form der Gegnerschaft hinzu (Neubert 1999: 33-34). Ilko-Sascha Kowalczuk (1995: 97 ff.) differenziert hingegen vier Formen: den „Massenprotest“ als kollektives und seltenes Großereignis, den „politischen Dissens“, der weitgehend mit den vorgenannten Formen von Dissidenz und Opposition synonym ist, den „soziale[n] Protest“, der sich im Grundsatz gegen soziale Erscheinungen innerhalb des Herrschaftssystems richte, sowie die „gesellschaftliche Verweigerung“ als alltägliche Form des Widerstands.

Gerade jene Formen, die einem niedrigschwelligen und damit weitläufigeren Verständnis von Widerstand entsprechen, scheinen mir geeignet, um widerständige Praktiken in der Architektur der DDR zu beschreiben. Ines Weizman führt hierzu mögliche Ausdrucksformen des „architektonischen Dissenses“ in der DDR an. Diese können Kowalczuks Vorstellung von Verweigerung für den Kontext der Architektur präzisieren. Dissens könne demnach „durch Verweigerung (an staatlichen Projekten teilzunehmen), durch Untergrabung der Normen und Sprache der dominierenden Architektur oder durch Rückzug in die private Domäne der Papierarchitektur […]“ erfolgen (Weizmann 2012: 109, Übers. d. A.).

Betrachtet man Verweigerung/Widerspruch, Opposition/Widerstand und Dissidenz als Stufen einer Eskalation, so können wohl nur die Aktionen von Enzmann und Ettel als Dissidenz gewertet werden – und das auch nur, wenn man von ihrer persönlichen Motivation einer Ausreise absieht. Die Akteur_innen beim Bau des Bowlingtreffs agierten hingegen innerhalb der rechtlichen Spielregeln, sieht man von den fehlenden staatlichen Genehmigungen ab. Ihr Handeln beinhaltete weniger politische Forderungen und kann eher als bezirkliches Aufbegehren im Sinne von Widerspruch gegen die staatliche Planungshoheit gewertet werden. Schließlich drückten die Leipziger Wettbewerbsteilnehmer_innen eine Form von Widerstand aus, indem sie gezielt den gestalterischen Konsens der Architektur der DDR verließen – was sie zwar nicht unmittelbar als widerständig intendierten, was die Jury jedoch aufgrund der Verweise auf westliche Vorbilder so aufnehmen musste.

4. Resümee: Vor- und Nachteile eines breiten Verständnisses von Widerstand

Kann eine weit gefasste Definition von Widerstand dabei helfen, widerständige Praktiken zu verstehen? Oder birgt sie nicht genau die Gefahr, als Historiker_in Widerstand zu identifizieren, wo gar keiner war? Oder trägt sie dazu bei, das Akteur_innen sich im Nachhinein als Widerständler_innen gerieren? Diese Gefahren bestehen sicherlich; ihnen kann wohl nur durch präzise Einzelfallbetrachtungen aus dem Weg gegangen werden. Ich plädiere dennoch für ein solch weitläufiges Verständnis, da es subtile Praktiken und Handlungen einschließt, die eine engere Definition ausschließen würde. Die im Debattenaufschlag angeführten Modelle von Widerstand, die aus Sicht westlicher Demokratien heraus entwickelt wurden, versagen in diesem Kontext ob der vielfältigen Mischformen, Widersprüche, Dissonanzen sowie Gleichzeitigkeiten widerständiger Praktiken.

Als These möchte ich formulieren, dass insbesondere Formen des Widerstands unterhalb der Schwelle von Opposition und Dissidenz Veränderungen bewirkt haben – sozusagen als stetiges Höhlen des Steins. Gleichfalls sollte an einer engen definitorischen Fassung der Begriffe Opposition und Dissidenz festgehalten werden, um nicht aus allen kritischen Handlungen Dissident_innen und Oppositionelle herauszulesen. Zu fragen bleibt, ob als spezifische Formen des Widerstands in der DDR auch die Emigration oder der Rückzug aus dem Beruf oder in Nischen zu ergänzen wären. Viele ausgebildete Architekt_innen, die sich den Einschränkungen und Zwängen im Bauwesen nicht unterwerfen wollten, verließen ihren Beruf vollständig. Sie wurden Architekturjourna­list_innen oder -kritiker_innen oder gingen etwa in die Denkmalpflege. Für die Architektur der DDR scheint mir dies eine weitere typische Form eines – wenn auch zumeist wirkungslosen – Widerstands zu sein.