Eine neue Publikation über undemokratische Machtverhältnisse in der Gegenwart muss ihre Relevanz nicht erklären. Als gemeinsamer Forschungsgegenstand beschäftigen diese vor allem die gesellschaftswissenschaftlichen und geographischen Disziplinen. Die meisten Untersuchungen bleiben jedoch raumlos, oft fixiert auf das führende Personal – zuletzt par excellence vorgeführt durch Gideon Rachman (2022). Natalie Koch, Professorin am Department of Geography and Environment an der Syracuse University in New York, hat sich vorgenommen, diese Debatte grundlegend zu erweitern. Spatializing authoritarianism ist nicht nur der Titel ihres Sammelbands, sondern steht auch für ihren Forschungsansatz: Autoritarismus, so Koch, kann nur begriffen werden, wenn die Zusammenhänge zwischen der politischen und räumlichen Entwicklung angemessen in Analysen einbezogen werden (2022: 3). Der maßgebliche Begriff der Publikation ist dabei nicht authoritarianism, sondern spatializing. Koch verzichtet auf eine präzise Definition von Autoritarismus, sie lehnt eine solche sogar konsequent ab. Nur einer der Autor_innen, Josh Hagen, setzt kurz an, den Begriff zu bestimmen – aber dies bleibt ein Hilfsmittel, seinen Beitrag zu strukturieren. Anstelle einer einheitlichen Definition will Koch durch die Beiträge des Sammelbands darstellen, wie verschieden Autoritarismus „is imagined, narrated, mapped, and acted on across the world“ (ebd.) und welche analytische Aussagekraft ein räumliches Forschungsobjektiv dabei haben kann. Der Sammelband ist ein eloquenter Aufruf an die interdisziplinäre raumorientierte Forschungsgemeinschaft und nicht zuletzt an Kochs eigene Disziplin, der Politischen Geographie, die Bedeutung und Rolle des Raums für politische Strukturen – autokratische wie demokratische – endlich angemessen anzuerkennen und kritisch zu reflektieren.
Die Einleitung ist ein ausführlicher Rundumblick auf die Defizite der Autoritarismusforschung. Gestützt auf John Agnews „Territorial Trap“ (1994) und Edward Saids Kritik des Orientalism (1978) kritisiert Koch die seit Jahrzehnten problematisierte Relation von Wissensproduktion und Machtkonstellationen. Wissenschaftlich drückt sich diese in der reproduzierten Verzerrung der realen Globalpolitik durch das weiterhin gängige Narrativ eines liberal-illiberalen Dualismus aus, wie sie in der Einleitung exemplarisch an der Freedom Map der US-Organisation Freedom House (2018) vorführt. Solitärartig stehen hier – kategorisiert als free, partly free oder not free – autokratische Staaten neben Demokratien. Spatializing authoritarianism ist ein Plädoyer, sich von diesem Pauschaldenken zu distanzieren: „All states have some mix of liberal and illiberal practices unfolding across their territory.“ (Koch 2022: 4) Die fehlende Erfassung von Mischtypen und Subtypen von Autokratien wird seit Jahrzehnten in der Forschung bemängelt (vgl. Zakaria 1997; Gibson 2005; Sydiq 2022). In den Politikwissenschaften bildete sich ein eigener Forschungsstrang heraus, der die innerstaatliche Hybridität von Autoritarismus und Demokratie als subnational authoritarianism empirisch untersucht, sich aber zumeist auf autokratische Enklaven beschränkt (vgl. Snyder 2001; Giraudy 2015; Guriev/Treisman 2022). Koch fügt an, dass solche quantitativen Analysen immer noch zu stark am Nationalstaat als uniforme Analyseeinheit orientiert sind, während die eigentlichen „networked realities“ als Verbindung verschiedener Maßstabsebenen unerforscht bleiben (2022: 13 f.). Um die Komplexität autokratischer Praktiken untersuchen zu können, plädiert Koch für einen qualitativen, fallstudienbasierten Forschungsansatz, abgeleitet von der Geographie und Kulturwissenschaft. Mit diesem an Michel Foucault (2009 [1983]) angelehnten practice-based approach rückt nicht nur das Forschungsgebiet, sondern auch der_die Forscher_in in den Vordergrund. Davon ausgehend, dass die eigene Forschungsperspektive stark von Vorannahmen geprägt sei (vgl. Rhoden 2015) – nordamerikanische und europäische Akademiker_innen sogar von einem gewissen westlichen Paternalismus –, ruft Koch auf, mit diesem „methodological nationalism“ (2022: 8) zu brechen. Diesen ernst zu nehmenden kritischen Ansatz führt Koch auf ihre Beschäftigung mit Kasachstan zurück, die sie laut eigener Aussage für ihre eigene nationale Prägung als US-amerikanische Wissenschaftlerin sensibilisiert hat (vgl. Koch 2014; Koch/Gordon 2022). Im Sammelband widmet Koch ihren Beitrag den Zusammenhängen zwischen dem aufsteigenden Nationalismus in den USA und dem Trump-Kult.
Insgesamt hat Koch 21 Forscher_innen aus verschiedenen Ländern und Disziplinen – darunter Architektur, Geographie, Soziologie und Stadtforschung – zusammengebracht. Eine Qualität des Bandes liegt in der Vielfalt der ausgewählten Länderbeispiele, die in 17 Beiträgen entfaltet werden. Bekannte Beispiele autokratischer Staaten wie Singapur, die Türkei, Russland und China werden durch Bosnien und Herzegowina, Nordirland, den Iran, NS-Deutschland und die Bundesrepublik, Thailand, Nordmazedonien, Marokko, die USA, Brasilien, Israel und Mexiko ergänzt. Es ist Kochs Versuch, die Darstellung des Westens als „bastion of liberal democracies“ (2022: 12) zu korrigieren. Die Ländervielfalt ist so auch eine forschungspolitische Aussage. Die Internationalität des Bandes wird einzig von der Tatsache getrübt, dass elf der Autor_innen mindestens ihren PhD in den USA gemacht haben. Ebenfalls auffällig ist, dass ein deutlicher Großteil der verwendeten Quellen englischsprachig ist. Das kann entweder sinnbildlich für die hohe Internationalisierung der Debatte oder als bedauerliches Zeugnis der jeweiligen nationalen Debatten gelesen werden. Einzige Ausreißer sind die Beiträge zu Brasilien und Russland, die größtenteils mit Quellen in der Landessprache arbeiten. Obgleich eine Vielzahl der Autor_innen über ihr (erstes) Heimatland schreiben und ihren persönlichen Forschungshintergrund explizit oder implizit in den Beiträgen thematisieren, wird die Frage einer unterschwelligen oder maßgeblichen Diskurshoheit der Anglosphäre (vgl. Pojani 2023) nicht behandelt.
Koch verzichtete beim Aufbau des Sammelbands bewusst auf Kapitel. Thematische Bezüge lassen sich dennoch herstellen. Eine Vielzahl der Beiträge etwa widmet sich Megaprojekten in urbanen Zentren, mit jedoch sehr vielfältigen Schwerpunkten. Koenraad Bogaert etwa untersucht, wie die Liberalisierung Marokkos seit 1990 einen zunehmenden Ad-hoc-Planungsansatz („planning by exemption“; Koch 2022: 186) beförderte und neue Akteur_innen der Raumentwicklung aktivierte. Napong Tao Rugkhapan beschreibt die Auswirkungen der gezielten Touristifizierung und „Heritagization“ von Kulturstätten im historischen Distrikt Bangkoks. Anhand dieser Stadtentwicklungsstrategie zeigt er, wie die Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Räumen verschoben und durch etwaige Maßnahmen der sozialen Kontrolle verfestigt werden. Am Beispiel des Stadterweiterungsprojekts New Moscow und dem Stadtumbau der Moskauer Altstadt beleuchtet Robert Argenbright die strategischen Interessen der Bauwirtschaft mit besonderem Fokus auf die Interessen der Dienstleistungsklasse.
Der zweite inhaltliche Schwerpunkt des Bandes thematisiert verschiedene Formen räumlicher Restriktion. Anhand der Stadtentwicklung Belo Horizontes, eines der wichtigsten Wirtschaftszentren Brasiliens, zeigen Marina Paolinelli, Thiago Canettieri und Rita Velloso exemplarisch, wie autokratische Muster und Strukturen – beginnend mit dem Kolonialismus 1500 bis heute – im ganzen Land politisch und sozial schrittweise naturalisiert wurden und wohnungspolitisch weiter reproduziert werden, vom Grundriss bis zur Siedlungsstruktur. Peter Bescherers und Leon Reichles Beitrag behandelt den oft simplifizierten Zusammenhang zwischen Populismus und Ausländerfeindlichkeit anhand zweier Stadtteilen Leipzigs. Ergänzt durch zahlreiche Interviewaussagen von Bewohner_innen, dekonstruieren sie die vielfältigen Gründe für rassistisch motiviertes „Othering“ als Kompensationsmechanismus einer durch soziale und demographische Veränderungen bedingten residential alienation (vgl. Madden/Marcuse 2016). Xiaobo Sus Beitrag zur chinesischen Grenzstadt Ruili erweitert den Blick auf Migration und Inklusion: Die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen und diversen Formen sozialer Diskriminierung, die Migrant_innen aus Myanmar nach ihrer Ankunft in Ruili erfahren, bezeichnet sie als gezielten Ausdruck einer „limited inclusion“, die als alternative Strategie einer „border militarization“ und „mobility control“ gewertet werden muss (vgl. dazu Mbembe 2019). Etwas irritierend ist, dass sich Su für die Beschreibung des Ist-Zustands auf Zitate von teilweise 40 Jahre alten Quellen stützt (Koch 2022: 225; vgl. auch Walzer 1983: 59). Räumlich kleinteiliger orientiert ist Sanan Moradis Artikel zur kulturellen Revolution im Iran, die er als staatliches Projekt eines academic authoritarism interpretiert. Moradi untersucht die gezielte Islamisierung der Universitäten und der Wissensproduktion, die sich in veränderten Curricula, Entlassungen und Exmatrikulationen, Screening und anderen Einschüchterungsversuchen ausdrückt.
Der dritte Schwerpunkt untersucht Raum als Austragungsort und Schaubühne von Konflikten am Beispiel Israels, der Türkei und Nordirlands. Sara McDowells Beitrag zu Derry/Londonderry untersucht die Rolle von Graffitis als Mittel der politischen Aneignung von Räumen und Einschüchterung, verzichtet aber bedauerlicherweise auf den Einsatz von unterstützendem Bildmaterial. Bildlich umso anschaulicher ist Yael Allweils Beitrag, der sich den Protesten gegen die Coronapolitik Benjamin Netanjahus 2020 in Israel widmet. Allweil zeigt, wie der öffentliche Raum durch diverse Protestformen reaktiviert und politisiert wurde und welche Wirkungskraft räumliche Protestformen entfalten können. Auch Aysegul Can greift das Thema Protest anhand von drei Großprojekten in Istanbul auf und legt dar, wie und warum die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Stadtentwicklungspolitik der AKP kontinuierlich stieg und schließlich in den Gezi-Park-Protesten kulminierte.
Das nur vier Seiten lange Abschlusskapitel von Koch enttäuscht nach der sehr umfangreichen Einleitung und vermag nicht, den Erkenntnisgrad der Beiträge zu verdichten. Nach der Lektüre bleibt die Frage offen, welchen analytischen Vorteil die Begriffsbezogenheit auf Autoritarismus in dieser Form bietet. Es bleibt dem_der Leser_in überlassen – vielleicht entscheidet auch die individuelle fachliche Sozialisation –, ob die definitorische Offenheit als zielführende Weiterentwicklung oder als ziellose Aufweichung zu bewerten ist. Dennoch birgt die Lektüre von Spatializing authoritarianism vielschichtige Erkenntnisse und ist für Einsteiger_innen wie auch fortgeschrittene Fachleute eine gewinnbringende Lektüre.
Der Sammelband ermutigt dazu, disziplinäre Grenzen zu öffnen. Zwar wird das Zusammenwirken von politischer Herrschaft und Raum in den raumwissenschaftlichen Disziplinen immer häufiger untersucht (vgl. Eraydın/Frey 2019; Levine 2020), zu selten scheinen die verschiedenen Disziplinen jedoch die Debatten außerhalb ihres Faches tatsächlich zu verfolgen. Der Humangeograph Jason Luger (2023) veröffentlichte vor Kurzem die gesammelten Ergebnisse seiner langjährigen Forschung zur Verbindung von Illiberalismus und der räumlichen Entwicklung, die er an die Debatte der planetary urbanisation anschloss. Wie Koch problematisiert er das Narrativ des Dualismus von Autokratie und Demokratie, versucht ebenso die Maßstabsebenen aufzubrechen. Die Architektinnen Nikolina Bobic und Farzaneh Haghighi (2023) liefern in ihrer jüngsten Publikation zahlreiche komplementäre Beispiele für Architektur und räumliche Planung als „political forces in and of themselves“ (ebd.: 4). Keine dieser Autor_innen nehmen in den jeweiligen Veröffentlichungen aber Bezug aufeinander. Der konzeptionelle Ansatz des Sammelbands belegt, wie produktiv die interdisziplinäre Zusammenarbeit sein kann. Innerhalb der Verhältnisse der politischen Geographie ist Spatializing authoritarianism als Fortschritt zu bewerten, der als Plädoyer für eine Diversifizierung der Maßstabsebenen und Kontextualisierung der räumlichen Entwicklung autokratischer Regime in seiner Entfaltung auch von benachbarten Disziplinen nur zu unterstützen ist.