sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 311-325

doi.org/10.36900/suburban.v11i3/4.908

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CC BY-SA 4.0

Debatte zu: Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt, Kristine Beurskens: „Was heißt hier Widerstand?“

Kommentare von: Kirsten Angermann, Sören Becker, Peter Bescherer, Tuba İnal-Çekiç, Alke Jenss, Felicitas Kübler, Leon Rosa Reichle, Lela Rekhviashvili, Andrei Semenov, Urszula Woźniak

Autoritärer Urbanismus enttarnt: Istanbul und Berlin im Dialog

Kommentar zu Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt und Kristine Beurskens „Was heißt hier Widerstand? Widerständige Praktiken im Kontext von autoritärem Urbanismus“

Urszula Ewa Woźniak, Tuba İnal-Çekiç

Die Debatte um autoritären Urbanismus kann von einer vergleichenden Perspektive nur profitieren. Vergleiche zwischen Berlin und Istanbul werden gern der Häresie bezichtigt: hier die Megapolis eines Landes am autoritären Abgrund, da die Hauptstadt einer scheinbar felsenfest liberalen Demokratie. Doch das Zusammendenken dieser beiden Städte lohnt: Es ermöglicht, auch und gerade im Zusammenhang der Diskussion um Autoritarismus, einen differenzierten Blick auf das Phänomen zu werfen und dabei der sogenannten – oftmals zugleich orientalisierenden – territorial trap zu entkommen, die Autoritarismus in der Regel in nicht westlichen Geographien verortet (vgl. Koch 2022: 3 f., 9 ff.).

Die Verwendung antidemokratischer Methoden durch Regierungen und Städte sowie die zerstörerischen Folgen zentralisierter Macht und neoliberaler städtischer Umstrukturierung zu untersuchen, wie von Ayten Alkan (2015), Idalina Baptista (2013), David Harvey (2006) und Erik Swyngedouw (1996) gefordert, hebt die autoritären Aspekte städtischer Entwicklung hervor. Aufbauend auf einem solchen Verständnis ermöglicht eine vergleichende Perspektive, den Blick für räumliche Formen von Autoritarismus als Praktik mehr denn als räumlich abgrenzbarem Ort (Koch 2022: 14) zu schärfen, um sich so den Machtdynamiken und politischen Ideologien zu nähern, die städtische Landschaften kennzeichnen. Eine raumsensible Analyse von Autoritarismus kann Praktiken der Repression respektive von Liberalismus innerhalb von anders gearteten Umgebungen ausmachen und zugleich die Dichotomisierung zwischen den Polen „autoritär“ versus „demokratisch“ aufweichen. Sichtbar werden so auch scheinbare Paradoxa, etwa die Gleichzeitigkeit und Verflechtung von autoritären und demokratischen Praktiken.

Autoritärer Urbanismus, wie wir ihn verstehen und nachstehend diskutieren möchten, bezieht sich auf eine Art der Stadtplanung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Entscheidungsfindungen intransparent stattfinden, zentralisiert werden, eine öffentliche Beteiligung daran nur in äußerst begrenztem Umfang eingeräumt und lediglich eine einzige Entwicklungsvision verfolgt wird – ohne Rücksicht auf die verschiedenen Perspektiven und Bedürfnisse der zumeist pluralen lokalen Bevölkerung. Häufig werden dabei soziale und ökologische Auswirkungen außer Acht gelassen, was wiederum städtische Räume hervorbringt, in denen politische oder wirtschaftliche Interessen Vorrang vor dem Wohlergehen der Bürger*innen haben.

In Form eines Dialoges zwischen Berlin und Istanbul möchten wir uns im Folgenden eben diesem Phänomen sowie den Formen des Widerstands dagegen nähern, indem wir unterschiedliche Ebenen von Partizipation in beiden Städten untersuchen, die Fiktion der städtischen Homogenität aufdecken und damit infrage stellen sowie auf gegenwärtige Kämpfe gegen Gentrifizierung und „Bulldozer“-Methoden (Lovering/Türkmen 2011) der Stadtentwicklung eingehen. Wir widmen uns der Frage nach der Zentralisierung und Intransparenz von Macht sowie der Notwendigkeit von ergebnisoffenen Beteiligungsprozessen.

Tuba: Blicken wir zunächst einmal nach Berlin: Was haben die hiesigen Beispiele des Widerstands gegen stadtplanerische Großprojekte mit urbanem Autoritarismus zu tun?

Urszula: In den mitunter durchaus hitzigen Debatten um Berliner Stadtplanungspolitik ist von autoritären Praktiken zwar (noch) so gut wie keine Rede. Doch ich denke, dass wir auch den auf dem Papier inklusiven Formaten von Stadtpolitik kritisch begegnen müssen, um deren Ausgestaltung, Akzeptanz, aber auch Hürden zu erfassen – und womöglich auch, um ihnen innewohnende illiberale Tendenzen aufzudecken.

Ein jüngstes Beispiel eines umstrittenen städtebaulichen Planungsverfahrens in Berlin stellt das Warenkaufhaus Karstadt am Hermannplatz im Bezirk Neukölln dar. Das von der Stadt organisierte Beteiligungsverfahren – ein einmaliges öffentliches Treffen zur „partizipativen Grundlagenermittlung“ im Winter 2021, das noch unter pandemischen Bedingungen stattgefunden hat – wurde von zivilgesellschaftlichen Gruppierungen vielfach als Augenwischerei kritisiert. Das momentane Angebot zur Teilhabe (Stand Frühjahr 2023) umfasst die Möglichkeit, schriftlich zu dem in der Senatsverwaltung ausgelegten, Dutzende Seiten umfassenden Bebauungsplan Stellung zu beziehen. Ein in derart hohem Maße technokratisches Verfahren zieht unwillkürlich die Frage nach sich, welchen Akteur*innen hier tatsächlich Teilhabe ermöglicht wird: Wen erreichen derartige, in vielfacher Hinsicht voraussetzungsreiche Aufrufe zur Partizipation? Diese Frage stellt sich umso mehr in einer städtischen, von Migration und pluralen Lebensstilen geprägten Gesellschaft: Bürokratische und sprachliche Barrieren werden in vielen Beteiligungsformaten nicht wirklich abgeschafft.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, welche Popularität das Referendum in Berlin als partizipatives Werkzeug des grassroots-Aktivismus aktuell genießt, etwa wenn wir an die Initiative Deutsche Wohnen Enteignen oder das Referendum zum Tempelhofer Feld denken. Als Mittel der direkten Demokratie ist das Referendum ein Mechanismus, um die Öffentlichkeit an der Wahl zwischen zwei verfügbaren Optionen zu beteiligen. Es verlangt zwangsläufig die Reduktion komplexer politischer Themen auf zwei dichotome Argumentationen. Zudem sind auch kommunale Referenden an die Staatsbürgerschaft geknüpft. Würde über die Zukunft des Warenhauses am Hermannplatz per Referendum abgestimmt werden, hätte allerdings ein beträchtlicher Teil seiner Nutzer*innen und Anwohner*innen als Nicht-EU-Bürger*innen gar kein Stimmrecht. Wer bildet in diesem Fall das legitime politische Subjekt, das „Wir“ der Stadtgesellschaft (vgl. İnal-Çekiç,/Woźniak 2022)? (Wie) Werden die weniger organisierten, gefährdeten oder anderweitig marginalisierten Gruppen und Communitys in stadtplanerische Prozesse miteinbezogen?

Ein Blick auf die weltweit zahlreichen Beispiele von Referenden, die trotz demokratischer Verfahren illiberale Ergebnisse eingefahren haben und unter dem Anschein von Demokratie zum Teil unfreie Reformen umsetzen (vgl. Stacey/Albert 2022: 17), fordert die Gretchenfrage nach der Legitimität des plebiszitären Votums heraus. Natürlich kann ein im Kern verfassungsgebendes Referendum wie das in der Türkei von 2017, das das politische System mit der Stärkung des Präsidentenamts de facto bedeutsam in Richtung Autoritarismus geführt hat, nicht mit einem Referendum um die stadtplanerische Zukunft eines innerstädtischen ehemaligen Flughafengeländes verglichen werden. Dennoch: Kritiker*innen verweisen unter dem Stichwort der Postpolitik auf die zumeist konsensbildenden Ansätze, die Top-down-Planungsinstrumenten innewohnen, und sich damit jeglicher Antagonismen entledigen, auch und gerade, wenn mögliche Ergebnisse im Voraus eng definiert werden (Wilson/Swyngedouw 2014: 6). Das Fehlen eines ergebnisoffenen Ausgangs politischer Entscheidungsprozesse, das Fehlen einer in diesem Sinne (ergebnis-)offenen Zukunft kann daher das Fehlen von Freiheit als einem wesentlichen Grundanker von Demokratie bedeuten und bildet damit ein autoritäres Element von Urbanismus.

Urszula: Das Beispiel des Prestigeprojektes des Karstadt-Neubaus am Berliner Hermannplatz verblüfft auch durch die Tatsache, dass der Entwurf mit seiner weit über Traufhöhe der umliegenden Gebäude angelegten überdimensionalen historisierenden Fassade vor allem dem Ursprungsbau aus den 1920er-Jahren huldigt. Verweise auf (bestimmte Versionen von) Geschichte ist sind auch für viele Stadtumbauprojekte in der Türkei kennzeichnend, oder?

Tuba: Viele Stadterneuerungsprojekte in der Türkei haben eine auffallende Tendenz, historische (Bau-)Elemente zu zitieren, häufig inspiriert von der seldschukischen und osmanischen Architektur. Diese Projekte verkörpern eine Verschmelzung von Neoliberalismus und Islamismus und stehen für unterschiedliche politische Rationalitäten, deren Ziel es ist, verschiedene Facetten des sozialen Lebens umzugestalten. Diese Verflechtung von Ideologien spiegelt die sunnitisch-islamische Prägung des Landes und ist gleichzeitig der Nährboden für die von der regierenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) vertretene Version des autoritären Urbanismus: Historische Narrative werden revidiert, um die Macht des Regimes zu konsolidieren, seine Autorität zu legitimieren und seine Vision von gesellschaftlicher Transformation voranzutreiben.

Dieser Revisionismus verhindert nicht nur jegliche ergebnisoffene Diskussion über die Stadtplanung und -gesellschaft der Zukunft, vielmehr muss man sich vor Augen halten, dass dieser Ansatz von Rachemotiven angetrieben wird beziehungsweise es hier um die Errichtung einer neuen Ordnung geht, die die Relikte des Vorgängerregimes auszuradieren versucht. Das Jahr 2023 ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, denn es markiert den 100. Jahrestag der Gründung der Türkischen Republik. Dieser symbolische Meilenstein dient dem Regime als schlagkräftiges Instrument zur Rechtfertigung seiner Handlungen und unterstreicht sein Ziel, zu einer vermeintlich „goldenen Ära“ der Vergangenheit zurückzukehren und gleichzeitig Gegenwart und Zukunft nach seinen eigenen Vorstellungen umzugestalten.

Folglich ging es beim Taksim-Projekt insgesamt um den Versuch, einige der dort vorhandenen Symbole der Republik zu zerstören und neue Elemente einzufügen, die mit der AKP-Regierung und der osmanischen Ära verbunden sind. Die Umgestaltungsvorschläge zielten darauf ab, mehr religiöse Elemente in den Platz zu integrieren, einschließlich einer Moschee an zentraler Stelle. Das Taksim-Projekt beinhaltete auch den Wiederaufbau der Topçu-Kışlası-Taksim-Kaserne im Gezi-Park, die in den 1940er-Jahren abgerissen worden war, also zu der Zeit, als der Taksim-Platz und seine Umgebung minuziös geplant wurden, um die Ideale der modernen Urbanisierung und die Ambitionen der damals noch jungen Republik unter der Führung von Kemal Atatürk zu spiegeln. Diese bewussten Entscheidungen beschwören nicht nur das historische Erbe des Osmanischen Reiches im heutigen urbanen Kontext herauf, sondern sollen auch bleibende Spuren in der Gesellschaft hinterlassen und sie entsprechend einer imaginären Vergangenheit und Zukunft formen. Werden bestimmte historische Elemente selektiv hervorgehoben, so besteht die Gefahr, dass die Vielfalt der kulturellen Narrative und Erfahrungen, die das kollektive Gedächtnis des Landes und der Stadt ausmachen, vernachlässigt wird.

Das Aufzwingen einer Einheitsvorstellung von Leben und Raum ist natürlich nicht das einzige Instrument oder die einzige Manifestation autoritärer Urbanisierung. Flankierend hinzu kommen häufig noch zentralisierte, nichtpartizipative und nichtinklusive Entscheidungsprozesse und das Unterdrücken von Widerstand (Baptista 2013; Swyngedouw 1996). Wenn das herrschende Regime die Kontrolle über Stadterneuerungsprojekte erlangt, festigt es seine Macht durch die Umsetzung von Rechtsvorschriften und durch Ausgrenzung. Dadurch werden Andersdenkende zum Schweigen gebracht, Einwände ignoriert und ein offener Dialog wird verhindert. All das begünstigt eine Kultur der Angst. Diese Zentralisierung der Macht wirkt als Katalysator für die Verewigung autoritärer Praktiken in der Stadtentwicklung und ermöglicht es dem Regime, seine Kontrolle mithilfe neuer Gesetze und neu geschaffener Institutionen noch weiter zu festigen.

Tuba: Berlin und Istanbul zeichnen sich beide durch eine Pluralität von Lebensstilen aus. Wie geht der autoritäre Urbanismus damit um?

Urszula: Wenngleich es zwischen beiden Städten wichtige Unterschiede gibt, sowohl hinsichtlich der Zusammensetzung der jeweiligen Stadtbevölkerung als auch im historisch-politischen Umgang mit Vielfalt, erleben wir hier wie dort immer wieder Momente offensiver Diffamierung und eher selten eine Negation oder Ignoranz dieser Pluralität. Impliziert ist damit die Frage danach, welche legitimen politischen Subjekte autoritäre Regierungen produzieren. Dies geschieht häufig im Spannungsfeld von Politik und Moral – einem Spannungsfeld, das sich quer durch die politischen Systeme und Regierungsstile analysieren lässt. In meiner Ethnographie zweier Istanbuler Nachbarschaften habe ich unter anderem untersucht, wie Moralität als Kernelement einer Lifestyle-Politik durch rhetorische Äußerungen von Mitgliedern der Regierungspartei AKP immanent produziert wird (Woźniak 2021: 24). Flankiert wird das Ganze durch einen legalen Moralismus, der auch mittels Gesetzen auf paternalistische Weise in Lebensstilentscheidungen einzugreifen sucht (Aytaç 2017: 499). Während Lifestyle-Politik keine Erfindung der AKP-Regierung ist, umfasst ihre aktuelle Politik dennoch Polarisierungen rund um Themen wie Alkoholverbot, Abtreibung, Frauen- und LGBTQI-Rechte, Glaubens- und Meinungsfreiheit.

Auch in Berlin können wir beobachten, wie rhetorische Polarisierungen um Lebensstile in eine Milieu-, Herkunfts- und Problemkiezdebatte münden können. Die Ereignisse der Silvesternacht von 2022, bei der Polizei und Rettungskräfte in Berlin-Neukölln, aber auch andernorts massiv mit Feuerwerkskörpern angegriffen wurden, veranschaulicht dies. Hier sind im Zusammenspiel von Medien und Lokalpolitik (die sich zu dem Zeitpunkt akut im Wahlkampfmodus befand) sogenannte moral panics produziert worden, bei der ein einzelnes Ereignis zur Bedrohung für Ordnung und Werte einer Gesellschaft hochstilisiert wird. Stanley Cohen, Vordenker des Konzepts, stellte fest, dass „erfolgreiche moralische Paniken ihre Anziehungskraft ihrer Fähigkeit verdanken, Anknüpfungspunkte zu allgemeineren Ängsten zu finden“ (Cohen 2002: xxx). Als eine wesentliche systemimmanente Ursache dieser Hintergrundängste kann demokratietheoretisch der mismatch zwischen gesellschaftlicher Norm – einer im Fall Deutschlands auf Pluralismus ausgerichteten Demokratie – und der Realität ihrer faktischen Verwehrung gesehen werden. Naika Foroutan schreibt hierzu:

„Der eingeforderte Gleichheitsanspruch durch die migrantischen oder als solche markierten Subjekte erinnert die Gesellschaft schmerzlich an den Verrat oder die Unerreichbarkeit der eigenen Norm und führt bei einem Teil der Bevölkerung zu Aggressionen gegenüber den migrantisierten Anderen.“ (2020: 45)

Anstatt Ursachenforschung zu betreiben und eine notwendige Diskussion um ungleich verteilte Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen voranzutreiben (Blokland 2023), produzierte bei einigen Wahlkämpfer*innen die Angst um Stimmen- und damit Machtverlust altbekannte Antworten: Assimilationsdruck, Law-and-Order-Politik, Bringschuld der Migrant*innen. Wir sehen einmal mehr, wie das Gleichheitsversprechen der pluralistischen Demokratie und einer diversifizierten Stadtgesellschaft bereits an der immerwährend rhetorisch reproduzierten Fiktion von Homogenität scheitert.

Ich denke daher, dass die Anerkennung von sowie der Umgang mit städtischer Pluralität ein wichtiger Marker von antidemokratischem beziehungsweise autoritärem Urbanismus ist – und zwar nicht nur, wenn es, wie eingangs beschrieben, um die stadtplanerische Beteiligung verschiedener Communitys geht. Gentrifizierung ist als Verdrängung einkommensschwacher Bevölkerungen zugleich ein Prozess, der genuin mit der ethnischen Zusammensetzung von Vierteln zu tun hat, und als solcher ein rassifizierter Prozess des Klassenwandels (Rucks-Ahidiana 2022: 174). In diesem Sinne kann beispielsweise eine Form der Stadtplanung, welche – wie im Fall des Hermannplatzes – über kurz oder lang die Verdrängung des größtenteils migrantisch geführten Kleinhandels und einer ethnisch diversen Anwohnerschaft an diesem urbanen Ort nach sich zieht, als ebenso undemokratisch wie rassistisch diskutiert werden.

Urszula: Und was sagt uns der Fall von Gezi über den Widerstand gegen autoritären Urbanismus?

Tuba: Das Vorhaben zur Umgestaltung von Taksim-Platz und Gezi-Park wurde vor den Parlamentswahlen von 2011 vorgestellt. Es war Teil der Wahlversprechen von Recep T. Erdoğan, damals noch Ministerpräsident, und einer ganzen Reihe ambitionierter Pläne Erdoğans und der AKP für Istanbul. Allerdings erfolgte diese Umwandlung der Visionen für Taksim-Platz und Gezi-Park in Wahlversprechen ohne Berücksichtigung der bestehenden, von der Istanbuler Stadtverwaltung bereits genehmigten Denkmalschutzpläne für den Bezirk Beyoğlu. Diese Vorgehensweise führte zu Verstimmungen zwischen Öffentlichkeit und Planungsbehörde, weil sie das Recht auf Bürger*innenbeteiligung und die Zuständigkeit der Lokalregierung bedrohte. Nach dem Wahlsieg der regierenden AKP änderte diese die Planung für den Taksim-Platz unter Umgehung der bereits bestehenden Denkmalschutzpläne. Die Planänderung wurde ohne jegliches Beteiligungsverfahren durchgezogen und die von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Anwohner*innen und örtlichen Gewerbetreibenden gleichermaßen vorgebrachten Bedenken und Einwände wurden schlicht ignoriert. Einen Raum für Informationsaustausch und Bürger*innenbeteiligung bot die unabhängige Initiative Taksim-Plattform, während die sogenannte Taksim-Solidarität, ein Zusammenschluss aus verschiedenen Organisationen und politischen Parteien, Protestveranstaltungen organisierte, um ihren Widerstand gegen das Projekt zum Ausdruck zu bringen (Taksim Dayanışması 2013). Trotz laufender Gerichtsverfahren und Einsprüche hielten die politischen Instanzen an ihrer autoritären Vorgehensweise fest, setzten die Beschlüsse des zuständigen Umweltausschusses außer Kraft und genehmigten das Projekt. Die Baumaßnahmen wurden allem Widerstand zum Trotz fortgesetzt und die Proteste, die zunächst eine lokale Reaktion auf Baumfällungen im Gezi-Park waren, entwickelten sich infolge der Polizeigewalt zu landesweitem zivilem Ungehorsam. Als die Weiterführung des Projekts später per Gerichtsbeschluss ausgesetzt wurde, war die Umgestaltung des Taksim-Platzes de facto bereits geschehen – mit Ausnahme des Wiederaufbaus der Taksim-Kaserne.

Eine Möglichkeit, über Widerstand gegen autoritäre Praktiken zu reflektieren, besteht darin, sich ihm über den Gedanken der Partizipation anzunähern, und zwar nicht nur im Sinne eines stadtplanerischen Instruments, sondern auch als Kernelement einer Kampfansage (Lefebvre 2002). Die Gezi-Proteste, die sich dieses Jahr zum zehnten Mal jähren, veranschaulichen diesen Wunsch nach Beteiligung an städtebaulichen Entscheidungen und können als direkte Antwort auf den autoritären Urbanismus verstanden werden. Sie sind ein bemerkenswertes Beispiel des Widerstands gegen autoritäre Praktiken der Stadterneuerung und zeigen, wie das Aufzwingen einer Einheitsvorstellung von Raum und fehlende Bürger*innenbeteiligung einen öffentlichen Aufschrei und zivilen Ungehorsam auslösen können (Ökten/Kurtarır/İnal-Çekiç 2013). Zudem waren die Proteste ein machtvoller Ausdruck des Nicht-einverstanden-Seins mit den zentralisierten städtebaulichen Entscheidungsprozessen in der Türkei. Indem sie auf die Straße gingen und öffentliche Plätze besetzten, stellten sich die Protestierenden gegen die Top-down-Politik des Regimes und forderten eine demokratischere und inklusivere Vision für die Zukunft ihrer Städte.

Auch nach zehn Jahren waren und sind die Gezi-Park-Proteste immer noch die größte Oppositionsbewegung, der sich die AKP-Regierung während ihrer bis dahin zehnjährigen Herrschaft stellen musste. Was zunächst als öffentlicher Aufschrei gegen die Zerstörung des Gezi-Parks im Rahmen eines von oben verfügten Stadterneuerungsvorhabens begonnen hatte, entwickelte sich schnell zu landesweiten Protesten. Die Reaktion des Regimes auf die Gezi-Park-Proteste führte aber auch deutlich den autoritären Charakter seiner Vorgehensweise vor Augen. Die Behörden griffen hart gegen die Protestierenden durch, der Widerstand sollte durch exzessive Polizeigewalt, Verhaftungen und die Unterdrückung der Medienberichterstattung gebrochen werden.

Insgesamt hat der Umgang der Regierung mit den Gezi-Park-Protesten gezeigt, wie weit autoritäre Regime zu gehen bereit sind, um die Kontrolle über urbane Räume zu behalten und abweichende Meinungen zu unterdrücken. Im Kontext des autoritären Urbanismus wird das Unterdrücken von Widerstand zum zentralen Mittel, um diese Kontrolle aufrechtzuerhalten und um sicherzustellen, dass die Bürger*innen sich den Zielen des Regimes fügen. Widerspruch und Opposition werden systematisch abgewürgt, wodurch die Möglichkeiten der Bürger*innen, sich aktiv an der Gestaltung ihrer Umwelt zu beteiligen, minimiert werden. Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten, Informationszensur und Einschüchterungstaktiken sind die üblichen Mittel, um jede Form von Widerstand oder alternative Meinungen zu unterdrücken (Leitner et al. 2007; Eraydın/Taşan-Kök 2014; Alkan 2015).

Tuba: Die meisten Analysen zum gegenwärtigen weltweiten Aufflammen des Autoritarismus – wie auch immer dieser benannt wird – fokussieren sich auf das allmähliche, aber stetige Aushöhlen demokratischer Institutionen. Reicht eine Analyse systemimmanenter Aspekte, um autoritäres Regieren zu verstehen?

Urszula: Das Beispiel der Türkei zeigt uns zweifelsohne, dass das Aushöhlen demokratischer Institutionen und Verfahren eine zentrale Rolle für den Machterhalt eines zunehmend autoritären – auch städtischen – Regierens spielt. Doch es gibt auch andere Aspekte, die es in diesem Zusammenhang zu analysieren gilt, um das komplexe Gefüge von Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft zu verstehen, etwa die Rolle von Emotionen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Analyse des gegenwärtigen affektpolitischen Zustands der Türkei durch die Anthropologin Ulrike Flader (2021): Mit dem Begriff der Apathie bezeichnet sie zum einen die dominante affektive Bewältigungsstrategie der Opposition, während sie zum anderen diese Verhältnisse als aktiv durch Regierungspraktiken der AKP produzierte diagnostiziert. Im Kern ist die hier festgestellte Apathie einer der Hauptwidersacher von Widerstand, ob in der organisierten politischen Opposition, auf der Straße oder im Alltag. Flader attestiert dabei der aktuellen AKP-Regierung, mit ihrem orchestriert willkürlichen Politikstil einen Schwebezustand zwischen Demokratie und Nichtdemokratie zu produzieren, der es ungleich schwerer macht, gegen – zum Teil mithilfe demokratischer Mittel hervorgebrachtes – Unrecht vorzugehen (ebd.). Dieser Schwebezustand besteht beispielsweise darin, dass die Bürger*innen der Türkei in den vergangenen Jahren sehr häufig, nämlich im Schnitt einmal im Jahr, an die Wahlurnen gerufen wurden (zu Abstimmungen um Verfassungsänderungen, Parlamentswahlen, Lokalwahlen usw.). Dabei wurden auch immer wieder durch das sogenannte gerrymandering, also die Veränderung von Wahlkreisen entsprechend der errechneten Wahlchancen, Ergebnisse beeinflusst. Auf diese Weise kann auch ohne direkten Wahlbetrug und damit für Bürger*innen kaum wahrnehmbar beispielsweise die demokratische Architektur des Wahlsystems ausgehöhlt werden, wodurch etwa auch demokratische Wahlverfahren Gefühle der Ohnmacht und Apathie produzieren können.

Es ist aber nicht nur der Angriff auf demokratische Institutionen oder die fratzenhafte Verzerrung rechtsstaatlicher Verfahren wie im Fall der Schauprozesse um die Gezi-Proteste, die Widerstand erschweren. Am Beispiel des Hermannplatzes können wir des Weiteren sehen, dass Widerstand dort behindert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht wird, wo die Grenzen zwischen Staat auf der einen und Investor auf der anderen Seite nicht mehr klar zu erkennen sind. Wo die Public-private-Partnership als ein Organismus in Erscheinung tritt, kann ein Investor wie die Signa sich gar in Mimikry des Staates üben und damit Handeln im Namen des Allgemeinwohls suggerieren: In aufwendigen PR-Kampagnen konzertierte Signa öffentlichkeitswirksam Planungswerkstätten und ließ einen Fahrradweg im Hinterhof des Karstadt-Warenhauses anbringen. Der Konzern ging sogar so weit zu behaupten, für die Produktion von anderen, sogenannten Pop-up-Fahrradwegen im Bezirk verantwortlich zu sein (Tajeri 2023: 10). Damit ist das aktuelle Beispiel von Karstadt am Hermannplatz nicht nur ein Lehrstück zur Intransparenz von Macht im neoliberalen, von autoritären Elementen durchsetzten Urbanismus. Das Vorgehen von Staat wie Konzern verwässert unwillkürlich die Verantwortlichkeit von staatlichem Handeln.

Urszula: Bleibt noch die Frage danach, wie der „Erfolg“ widerständiger Praktiken gemessen werden kann.

Tuba: Der Erfolg urbaner Bewegungen wird oft an politischen Resultaten gemessen, aber es ist auch wichtig, dass wir ihr Potenzial erkennen, gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen und in maßgeblichen Bereichen Einfluss auf Entscheidungsprozesse zu nehmen. In dieser Hinsicht kann man der Gezi-Bewegung, auch wenn sie sich nicht zu einer politischen Partei entwickelt hat, einige bemerkenswerte Erfolge zugutehalten. Hier wäre vor allem die Erhaltung des Gezi-Parks als Grünfläche zu nennen, da der geplante Bau einer Artilleriekaserne effektiv verhindert werden konnte. Darüber hinaus förderte die Bewegung ein Wir-Gefühl zwischen den verschiedenen Communitys und Initiativen und bot ihnen eine gemeinsame Plattform zur Zusammenarbeit und zum Sammeln wertvoller Erfahrungen durch kollektiven Kampf.

Außerdem konnte die wichtigste Oppositionspartei durch Schlüsselfiguren der Gezi-Park-Bewegung Sitze in den Gemeinderäten erringen. So wirkte ihr Einfluss bis in Wahlprozesse hinein, in denen Dissident*innen den Diskurs rund um umstrittene städtebauliche Projekte aktiv mitgestalteten und ihren Anspruch auf das Recht auf die Stadt öffentlich geltend machten. Politische Parteien stimmten ihre Positionen ab und schmiedeten Wahlbündnisse, indem sie strategisch gemeinsame Kandidat*innen für Bürgermeisterwahlen in den wichtigsten Städten aufstellten. Nach ihrer knappen Niederlage bei den Kommunalwahlen 2014 gewann die Opposition die Bürgermeisterwahlen im März 2019, weil die Bevölkerung türkischer Großstädte ihre Unzufriedenheit und Missbilligung dadurch zum Ausdruck brachten, dass sie mehrheitlich Oppositionskandidat*innen unterstützten. Der Wahlprozess und die im Wahlkampf gemachten Versprechen hatten einen entscheidenden Einfluss auf die neuen lokalen Regierungsstrukturen in der Istanbuler Stadtverwaltung. Transparenz wurde zu einem zentralen Thema, beispielsweise mit Initiativen wie dem freien Zugang zu öffentlichen Daten und der Live-Übertragung von Gemeinderatssitzungen, wodurch offenkundig wurde, mit welchen Hindernissen Gemeinderäte aufgrund der bisherigen Praktiken der AKP zu kämpfen hatten. Die neue Istanbuler Stadtregierung hat auch eine integrativere und weniger destruktive Stadtentwicklungspolitik auf den Weg gebracht, indem sie neue Führungskräfte ernannte, darunter auch Personen aus den urbanen Widerstandsbewegungen. Der neue Strategieplan der Stadtverwaltung sendet eine klare Botschaft der Umsetzung einer partizipatorischen und inklusiven Stadtpolitik. Infolgedessen wurde die Durchführung bestimmter urbaner Entwicklungsprojekte ausgesetzt oder diese stieß auf Widerstand seitens der neuen städtischen Regierung.

Allerdings muss auch erwähnt werden, dass der Kampf für urbane Rechte nicht ohne Konsequenzen geblieben ist. Im Mai 2022 wurden mehrere Sprecher*innen der Plattform Tasksim-Solidarität und verschiedener anderer Organisationen festgenommen, vor Gericht gestellt und wegen „versuchten Umsturzes der Regierung“ zu 18 Jahren Haft verurteilt. Außerdem wurde Can Atalay, Anwalt der Architekt*innenkammer und Mitglied der Taksim-Solidarität, bei den Wahlen im Mai 2023 ins Parlament gewählt, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch im Gefängnis saß. Daran zeigt sich sowohl der anhaltende Einfluss urbaner Bewegungen auf die Ausgestaltung politischer Repräsentation als auch die bereits angesprochene paradoxe Gleichzeitigkeit und Verwobenheit von autokratischen und demokratischen Praktiken.

Die Gezi-Park-Proteste und die anschließenden Entwicklungen hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die lokale Regierungsführung und die Stadt(entwicklungs)politik und unterstrichen das Verlangen der Bevölkerung nach Inklusivität, Transparenz und partizipativer Entscheidungsfindung. Trotz der Herausforderungen und Konsequenzen, mit denen die Aktivist*innen konfrontiert waren und sind, wird der Diskurs über Stadtentwicklung in der Türkei bis heute durch das Erbe der Bewegung geprägt.

Tuba & Urszula: Die Urbanismen von Berlin und Istanbul miteinander zu vergleichen, ist insofern eine Herausforderung, als dass die deutlichen Unterschiede zwischen den Regimen in beiden Kontexten nicht nivelliert werden dürfen. Was wir mit diesem Dialog jedoch unterstreichen wollen, ist, dass viele Faktoren bei der Entstehung eines anti-/demokratischen Urbanismus zusammenkommen: Staatliches Handeln auf der einen Seite und gewinnmaximierende Unternehmenslogiken im neoliberalen Kapitalismus auf der anderen Seite müssen vor dem Hintergrund des breiteren wie auch lokalen politischen Diskurses analysiert werden. So gibt es in Istanbul einerseits einen erkennbaren Kampf für eine demokratische Stadtplanung, sowohl seitens der Zivilgesellschaft als auch vereinzelter Kommunen. Andererseits zeigt sich in Berlin, wo die Schnittmengen zwischen Gentrifizierung und Rassismus liegen und wie eine Urbanisierung, die nach dem Prinzip one size fits all verfährt, das soziale Gefüge von Stadtvierteln bedroht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine demokratische Regierungsführung und demokratische Verfahren (zum Beispiel Wahlen) allein noch nicht die Abwesenheit autoritärer Praktiken des Urbanismus bedeuten: Autoritäre und demokratische Praktiken können nebeneinander bestehen und erfordern damit unsere volle analytische Aufmerksamkeit.