sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 509-515

doi.org/10.36900/suburban.v11i3/4.912

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Buenos Aires in Zeiten der Cholera und des Gelbfiebers

Rezension zu Antonio Carbone (2022): Park, tenement, slaughterhouse. Elite imaginaries of Buenos Aires, 1852-1880. Frankfurt am Main: Campus.

Teresa Huhle

Abb. 1 Park, tenement, slaughter­house. Elite imaginaries of Buenos Aires, 1852-1880. (Quelle: Campus)
Abb. 1 Park, tenement, slaughter­house. Elite imaginaries of Buenos Aires, 1852-1880. (Quelle: Campus)

Manchmal ist zu Beginn der Arbeit an einem mehrjährigen Buch­projekt nicht zu erahnen, welche Aktualität das Thema zum Erscheinungs­zeitpunkt erlangen wird. Die hier besprochene Monografie von Antonio Carbone erschien im Jahr 2022 und damit noch mitten in der von der Coronapandemie geprägten Gegenwart. Zu diesem Zeitpunkt diskutierten Historiker_innen auch außerhalb fachwissenschaftlicher Kreise schon seit zwei Jahren, ob historische Parallelen oder gar Lehren aus der Geschichte für den Umgang mit der pandemischen Krise angebracht und hilfreich seien (siehe nur beispielhaft aus der lateinamerikanischen Geschichte Birn 2020 und Paz Trueba et al. 2021). Angesichts dieser Konjunktur überrascht es schon fast, dass Antonio Carbone und der Campus Verlag der Versuchung widerstehen konnten, die Cholera- und Gelbfieberepidemien, die Buenos Aires in den 1860er- und 1870er-Jahren erschütterten und durchaus einen prominenten Platz in der hier besprochenen Monografie einnehmen, in ihrem Titel zu platzieren. Auch in der Einleitung lädt der Autor seine Leser_innenschaft zu keinen Analogien ein. Stattdessen hat Carbone bewundernswerterweise fast zeitgleich mit dieser überarbeiteten Fassung seiner 2019 an der TU Berlin eingereichten Dissertation bei Cambridge University Press eine zweite Monografie zu Epidemic cities vorgelegt, die einen räumlich und zeitlich deutlich breiteren Zuschnitt hat und die Frage nach dem historischen Beitrag zu aktuellen Herausforderungen explizit aufgreift (Carbone 2022a).

In seiner hier besprochenen Dissertation sind die Cholera- und Gelbfieberepidemien, die Buenos Aires in den späten 1860er- und frühen 1870er-Jahren heimsuchten, Kristallisationspunkte, an denen sich Debatten um urbane Veränderungen zuspitzten, verdichteten und an Wirkmächtigkeit gewannen. Carbone skizziert zwar den verheerenden Verlauf der Epidemien, denen zwischen 1867 und 1871 insgesamt an die 20.000 Menschen der noch keine 200.000 Einwohner_innen zählenden Stadt zum Opfer fielen. Sein primäres Interesse liegt jedoch auf anderen Fragen. So stehen im Zentrum der raumhistorischen Studie die liberalen Eliten der wachsenden Metropole, ihre urbanen Imaginarien und deren (begrenzte) Wirkmächtigkeit. Diese Eliten und ihre Vorstellungen darüber, wie Menschen in der Stadt arbeiten, leben und sich erholen sollten, untersucht die facettenreiche Monografie anhand von drei Mikrostudien zu den realen und imaginierten Räumen Schlachthöfe, Mietshäuser und Park. Diese drei „Hotspots“ des urbanen Wandels werden in jeweils einem Großkapitel analysiert. Alle Kapitel beeindrucken mit inhaltlicher Vielschichtigkeit und einer reichen und heterogenen Quellenauswahl. Antonio Carbones Arbeit ist dabei gleichzeitig außergewöhnlich klar strukturiert und leser_innenfreundlich aufgebaut und formuliert.

Der breitere Untersuchungszeitraum folgt prominenten politischen Zäsuren der argentinischen Geschichte. So gelten die Jahre von 1852 bis 1880 als „liberale“ Jahrzehnte, das heißt als Dekaden, in denen Gruppen an der Macht waren, die einem Liberalismus folgten, der eine Hinwendung zum atlantischen Markt und zu Werten wie Republikanismus, Freihandel, Modernität und individueller Freiheit bedeutete (Carbone 2022b: 15). Urbanität war für diese Liberalen, die sich als Gegenspieler der im ruralen Argentinien verankerten Caudillos und Gauchos verstanden, ein Wert an sich. Doch urbane Modernität, das zeigt Carbone deutlich, konnte auch innerhalb dieser Gruppe viele Gestalten annehmen. Er formuliert es als ein zentrales Anliegen seiner Studie, Widersprüche und Ambiguitäten innerhalb der liberalen Eliten herauszuarbeiten. Nicht zuletzt möchte Carbone damit den historiographischen Konsens infrage stellen, wonach die Reformen dieser vermeintlich kohärent agierenden und omnipotenten Gruppe Argentinien bis in die Gegenwart prägen (ebd.: 24). Zwei der Kapitel unterstreichen die fehlende Kohärenz deutlich. So waren die in den Kapiteln zu den Mietshäusern und Schlachthöfen analysierten Versuche, Industrie und Arbeiter_innenschaft aus dem zentralen Stadtbild zu vertreiben, wenig erfolgreich. Carbone zeigt anschaulich, dass bestimmte ästhetische und soziale Visionen im Widerspruch zu dem ebenfalls elitengetriebenen Wunsch standen, Buenos Aires über urbane Industrien an den atlantischen Markt anzuschließen. Seine Analyse der Diskussionen rund um die saladeros, also die Schlachthöfe beziehungsweise fleischverarbeitenden Fabriken, endet zwar mit deren erfolgreicher Verdrängung aus dem urbanen Raum 1871. Doch Carbone verweist darauf, dass nur zwanzig Jahre später neue Fleischindustrien an demselben innerstädtischen Ort entstanden. Und im Fall der conventillos, also der Mietshäuser, die den im deutschsprachigen Raum bekannteren US-amerikanischen tenements ähnelten, schwebte Teilen der Elite zwar eine Verdrängung vor – diese Pläne konnten sie jedoch nicht durchsetzen. Der im „Park“-Kapitel analysierte Parque 3 de Febrero (der umgangssprachlich als Parque de Palermo bekannt ist), kann hingegen als städtebauliches Erbe der Reformen der liberalen Eliten gelten, ist er doch bis heute eine sehr beliebte und das Stadtbild von Buenos Aires prägende Grünfläche.

Neben den Imaginationen der konkreten Räume und der damit verbundenen Stadtplanung liegt ein zweiter Fokus von Antonio Carbones Studie darauf, wie die Oberschicht von Buenos Aires die Begegnung mit anderen urbanen Gruppen, namentlich der wachsenden migrantischen Arbeiter_innenschicht, imaginierte und problematisierte. Nicht zufällig koinzidiert der Untersuchungszeitraum mit dem Anfang der europäischen Masseneinwanderung, in deren Folge ab den 1870er-Jahren zahlreiche Europäer_innen (vor allem aus Südeuropa) Argentinien erreichten und die Demographie des Landes stark veränderten.

Für die Jahrhundertwende und das frühe 20. Jahrhundert ist der reformerische und voyeuristische Blick auf die Lebens- und Wohnverhältnisse der Arbeiter_innen in Buenos Aires erst vor wenigen Jahren untersucht worden (Höse 2018). Carbone macht in seiner Studie den Beginn dieses Interesses an der Gelbfieberepidemie von 1871 fest. Experten der Hygiene waren sich hinsichtlich der Übertragungswege des Erregers nicht einig, aber alle sahen die Enge in den conventillos als eine Ursache für die Verbreitung der Krankheit, der an ihrem Höhepunkt im April 1871 bis zu 600 Menschen am Tag zum Opfer fielen und die Buenos Aires für einige Monate in eine Geisterstadt verwandelte. Wer konnte, verließ die Stadt. Und wer aus moralischer Überzeugung doch blieb und einem erwachenden philanthropischen Imperativ folgte, bezahlte oft mit dem Leben – so wie die beiden als Märtyrer der Philanthropie gefeierten Männer, die der uruguayische Maler Juan Manuel Blanes in seinem berühmten wandgroßen Gemälde „Episodio de la fiebre amarilla en Buenos Aires“ 1871 festhielt. Auf den meines Erachtens beeindruckendsten Seiten des tenement-Kapitels beleuchtet Antonio Carbone verschiedene Elemente der Geschichte dieses Bildes – wie die öffentliche Resonanz auf seine Ausstellung im Teatro Colón oder einen Roman, dessen Protagonist das Bild dort sieht. Er zeigt davon ausgehend, wie sich Vorstellungen von dem richtigen Verhältnis zwischen einer fürsorglichen, hygienisch geschulten Oberschicht und einer reformbedürftigen Unterschicht wandelten.

Im Kapitel über die saladeros, in denen Rinder aus der argentinischen Pampa geschlachtet und zu den Exportprodukten Trockenfleisch und Tierhaut weiterverarbeitet wurden, sind die imaginierten Anderen Gauchos aus dem vermeintlich „barbarischen Hinterland“. Zwar verhandelten die Eliten rund um die Frage der Luft- und Wasserverschmutzung durch die Fleischindustrie vordergründig wiederum vor allem die Ursachen der Verbreitung von Cholera und Gelbfieber. Im Zuge dessen standen jedoch viel umfassendere Fragen nach dem Verhältnis der Hauptstadt zum ruralen Argentinien und zum atlantischen Markt auf der Agenda. Das Kapitel beleuchtet diese Zusammenhänge und skizziert und erklärt den Aufstieg von Medizinern als öffentlich anerkannte Experten und von Hygiene als der Wissenschaft für das Urbane. Vor allem zeigt es eindrücklich, wie unterschiedlich die liberalen Konsensbegriffe von „Moderne“ und „Zivilisation“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefüllt werden konnten. Waren die saladeros für einige Wortführer Sinnbild der „barbarischen“ Präsenz des ruralen Argentiniens im urbanen Raum, symbolisierten sie für andere die urban verankerte industrielle Moderne – zu der eben auch Gestank konstitutiv dazugehörte. Beide Seiten nutzten Referenzen auf vermeintlich fortschrittliche Großstädte des atlantischen Raums, um ihren Vorstellungen Legitimität zu verleihen. Durchsetzen konnte sich zunächst die erstgenannte Perspektive: Schließlich wurden die saladeros nach der Gelbfieberepidemie von 1871 für zwei Jahrzehnte aus dem Stadtgebiet von Buenos Aires verbannt.

Auch das „Park“-Kapitel zeigt, dass der Verweis auf städtebauliche und zivilisatorische Vorbilder aus anderen Ländern dies- und jenseits des Atlantiks die Imaginationen der liberalen Eliten prägte. Insbesondere der Central Park in New York beflügelte die Visionen der Planer aus Buenos Aires. Der Verweis auf dieses Vorbild schrieb Buenos Aires in die imaginierte Gemeinschaft der wichtigsten atlantischen Metropolen ein. Um dieser Gemeinschaft anzugehören, so die Argumentation der Befürworter, genügte es im Nachklang der Epidemien nicht, die Schlachthäuser zu verbannen und in das migrantische Leben der conventillos zu intervenieren. Für präventive Gesundheit und eine Verbesserung der „Moral“ der Arbeiter_innenschaft – denn Hygiene umfasste immer auch die Lebensführung – wurde die Freizeitgestaltung in einer „grünen Lunge“ bedeutsam in der elitären Imagination. Diese gesundheitsfördernde Umgebung unterschied sich vom Rest des urbanen Raums, aber unbedingt auch vom ländlichen Argentinien. Bei der Ortswahl sparte der argentinische Präsident Domingo Faustino Sarmiento nicht an Symbolik: So wurde der Parque 3 de Febrero auf einem Gelände angelegt, das dem ehemaligen Präsidenten Juan Manuel Rosas gehört hatte – und damit der „Personifizierung der barbarischen Tyrannei der Pampas über die Städte“ (Carbone 2022b: 168). Detailliert analysiert Antonio Carbone in diesem Kapitel die Planung und Einweihung des Parks (1875), die symbolischen Bedeutungen der imaginierten Landschaft und ihrer reduzierten Umsetzung, aber auch die kontroversen parlamentarischen Debatten, die dieser vorausgingen. Denn Kritiker des Projekts sahen in der Parkanlage unnötige Dekadenz.

Antonio Carbone ist nicht der Erste, der Epidemien zum Gegenstand macht, um die Geschichte von Buenos Aires und dem urbanen Aufeinandertreffen und Zusammenleben verschiedener Klassen im Zeitalter der Masseneinwanderung und Industrialisierung zu schreiben. Die auf diesem Gebiet wahrscheinlich am breitesten rezipierte Studie ist die Monografie von Diego Armus (2011), der mit seiner Geschichte der Tuberkulose gleich 100 Jahre der Stadtgeschichte von Buenos Aires untersucht hat. Carbone hat in seiner Arbeit einen zeitlich deutlich engeren Fokus gewählt. Dabei überrascht und überzeugt er mit dem Themenreichtum, den sein Analyseschwerpunkt auf der Zeitspanne von 1867 bis 1871 zutage bringt. Park, tenement, slaughterhouse ist eine Geschichte dieser drei räumlichen Konstrukte und Imaginarien, aber es ist auch eine Geschichte der liberalen Elite, Reformer und aufkommenden Experten, eine Geschichte der Medizin und Hygiene und nicht zuletzt dann doch auch eine Geschichte der Cholera- und Gelbfieberepidemien dieser Jahre.

Dem Anspruch, den „impliziten Mythos der Omnipotenz“ dieser Eliten infrage zu stellen, indem er deren Imaginarien nicht als „kohärentes System“, sondern als „fragile Kompromisse“ darstellt (Carbone 2022b: 24), wird Carbone gerecht. Obgleich sie die handelnden Akteure seiner Erzählung sind, gelingt es ihm, an der Vorstellung von deren ungebrochener Handlungsmacht zu rütteln. Doch auch die agency anderer sozialer Gruppen, namentlich der Arbeiter_innen, wird teilweise sichtbar – immer dann, wenn sich die Eliten über ihr „unpassendes“ Verhalten beschweren, wie beispielsweise im neu angelegten Parque de Palermo. Episoden wie diese laden dazu ein, Carbones Befunde mit der existierenden Forschung zur politischen Partizipation breiterer Bevölkerungsschichten im Argentinien der 1860er- und 1870er-Jahre in Bezug zu setzen (Sabato 2002).

Antonio Carbones spannendem und einladend geschriebenem Buch sind viele an der Geschichte urbaner Transformationen des 19. Jahrhunderts interessierte Rezipient_innen zu wünschen. Diejenigen, die speziell an einem der drei untersuchten Räume interessiert sind, werden sich über Kapitel freuen, die auch einzeln gut gelesen werden können. Darüber hinaus kann die vielschichtige Studie als Nachschlagewerk für so unterschiedliche Themen wie den Konsum von Stadtpanoramen als Vergnügen der Oberschicht, die „Erfindung“ des conventillo, den wissenschaftlichen Aufstieg der Hygiene, Reiseberichte über Buenos Aires, rassistische Hierarchien innerhalb der italienischen Einwander_innenschaft oder den Aufbau des zoologischen Gartens im Parque de Palermo herangezogen werden.