sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 293-299

doi.org/10.36900/suburban.v11i3/4.913

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0

Debatte zu: Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt, Kristine Beurskens: „Was heißt hier Widerstand?“

Kommentare von: Kirsten Angermann, Sören Becker, Peter Bescherer, Tuba İnal-Çekiç, Alke Jenss, Felicitas Kübler, Leon Rosa Reichle, Lela Rekhviashvili, Andrei Semenov, Urszula Woźniak

Widerstand wogegen? Urbane Konflikte im autoritären Russland

Kommentar zu Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt und Kristine Beurskens „Was heißt hier Widerstand? Widerständige Praktiken im Kontext von autoritärem Urbanismus“

Andrei Semenov

Am 11. Mai 2023 versammelten sich rund 100 Männer und Frauen im Zentrum von Uljanowsk, einer an der Wolga gelegenen Gebietshauptstadt mit über 600.000 Einwohner*innen, um gegen den Bau eines neuen Apartmenthauses auf dem Gelände der ehemaligen Kadettenschule zu protestieren. Es war in diesem Frühjahr bereits die zweite Versammlung dieser Art. Bei ihrer ersten Zusammenkunft am 31. März legten die Aktivist*innen zur Unterstützung ihres Anliegens, das Gelände gegen die Neubebauung zu verteidigen, mehr als 5.000 Unterschriften vor. Beide Protestveranstaltungen verliefen friedlich und sogar ohne übermäßige Polizeipräsenz, ein außergewöhnlicher Vorgang für ein Land, in dem kollektiver Widerspruch massiv unterdrückt wird. Die Aktivist*innen riefen eine neue Bewegung für den Schutz des historischen Erbes ins Leben und kritisierten die Lokalregierung für ihre Unterstützung des Bauprojekts.

Fälle wie dieser zeigen, dass es sogar inmitten eines furchtbaren Krieges gegen die Ukraine, im Zuge dessen die Regierung jegliche Kritik mit einer Vielzahl an Mitteln zu unterdrücken sucht, auch weiterhin möglich ist, gegen unerwünschte Projekte des Stadtumbaus zu mobilisieren. In der Tat kam es 2022 in fast jedem Winkel des Landes zu kollektiven Aktionen mit lokalem Bezug: In Sankt Petersburg kämpften Bürger*innen mit Petitionskampagnen, Mahnwachen und öffentlichen Aktionen gegen ein umfassendes Stadterneuerungsprogramm, in Jakutsk forderten die Bewohner*innen gefährlich baufälliger Häuser staatliche Intervention zur Lösung ihrer Probleme und in Wladiwostok setzten sich Dutzende von Einwohner*innen dafür ein, dass die Regierung in ihren Wohnvierteln mehr Schulen errichtet. Für normale Russ*innen sind stadtbezogene Themen nach wie vor von großer Bedeutung, zumal die Mobilisierung gegen Stadtumbaumaßnahmen von den dramatischen politischen und ökonomischen Veränderungen der jüngsten Zeit vergleichsweise weniger betroffen war als andere Konfliktfelder (z. B. Arbeitskämpfe, politische Auseinandersetzungen, Umweltkonflikte usw.).

Es ist durchaus verlockend, diese urbanen Konflikte als Widerstand gegen Formen der Raumordnungspolitik in Russland und einigen anderen, in letzter Zeit ebenfalls mit dem Etikett „autoritärer Urbanismus“ versehenen Diktaturen zu verstehen (Zupan et al. 2023). Einerseits opponieren Bürger*innen bei derartigen Konflikten offen und vorsätzlich gegen Machtstrukturen, wobei sie ein Repertoire an Mitteln einsetzen, das dem sozialer Bewegungen in etablierten Demokratien gleicht. Andererseits richtet sich dieser Widerstand gemeinhin gegen eine überschaubare Zahl von Angriffszielen – zumeist gegen die in den Konflikt involvierten lokalen Behördenvertreter*innen und Immobilienentwickler*innen. Um dieses kollektive Handeln im Kontext des autoritären Urbanismus seinem Wesen nach besser zu verstehen, bedarf es meines Erachtens einer präziseren Definition des besagten Konzepts.

Autoritärer Urbanismus ist neuerdings ein beliebtes Schlagwort, um verschiedene staatliche und unternehmerische Ansätze der Raumplanung und -politik in autoritären Kontexten begrifflich zu fassen (Benmergui 2021; Ergenc/Yuksekkaya 2022; Büdenbender/Zupan 2017). Trotz der zunehmenden Popularität des Konzepts muss sich seine genaue Definition erst noch herauskristallisieren. Hierzu schlage ich vor, den Begriffsteil „autoritär“ gemäß der etablierten politikwissenschaftlichen Lesart zu verstehen, wonach sich autokratische Herrschaft durch das Fehlen freier und fairer Wahlen zur Legislative oder Exekutive kennzeichnet (Svolik 2012). „Urbanismus“ bezeichnet eine Reihe von Ideen und politischen Strategien zur Steuerung von Stadtplanung und -entwicklung. Folglich verstehe ich in diesem Kommentar unter „autoritärem Urbanismus“ Institutionen und Praktiken, die dazu beitragen, autoritäre Ordnung durch Eingriffe in den urbanen Raum aufrechtzuerhalten.

In Russland beispielsweise werden Flächennutzungspläne häufig dazu genutzt, ganz bestimmte Bauträger zu begünstigen: Durch die Änderung des Flächennutzungsplans genehmigen Politiker*innen rechtlichen Beschränkungen zum Trotz den Bau von Wohnhäusern buchstäblich im Hinterhof oder auf eigentlich der Allgemeinheit zur Verfügung stehendem Gelände wie Parks oder öffentlichen Plätzen (Semenov/Gileva 2022). Manipulationen bei der generellen Planung, der Vergabe von Baugenehmigungen, der Landverteilung und so weiter sind allgegenwärtig, und an ihnen entzünden sich die großen urbanen Konflikte. Die Dominanz der Immobilienbranche über die gesetzgebenden Instanzen und ihre engen politischen Verbindungen zu Exekutive und Justizapparat sichern die Generierung und Verteilung von Mieten (Bederson/Shevtsova 2021). Umgekehrt sind erschwinglicher Wohnraum und ein angenehmes Wohnumfeld im Leben normaler Bürger*innen von immenser Bedeutung, weshalb umfassende Stadterneuerungsprojekte wie die Sanierung Moskaus eine Ergänzung der Instrumente des autoritären Urbanismus darstellen (Morris/Semenov/Smyth 2023; Zhelnina 2022).

Als Reaktion auf das Machtgefälle und die Ungerechtigkeiten, die durch autoritäre urbane Politik hervorgebracht werden, mobilisieren Bürger*innen zur Verteidigung ihrer Rechte und ihrer Vision der Stadt (Semenov/Minaeva 2021). Dazu greifen sie zu vielfältigen Formen des Sich-Gehör-Verschaffens wie Versammlungen, Mahnwachen, Petitionskampagnen, Haustürkampagnen und anderen direkten Aktionen gegen unerwünschte Stadtentwicklungsprojekte. Aber zählt das als „Widerstand“? Darunter versteht die Politikwissenschaft klassischerweise „die Anwendung unbewaffneter ziviler Macht mit gewaltlosen Mitteln“ (Chenoweth/Cunningham 2013: 271). So gesehen können nur diejenigen Aktionen als Widerstand bezeichnet werden, die sich explizit gegen die eigentlichen Ursachen der Ungerechtigkeit richten. Einer anderen Theorietradition nach kann Widerstand jedoch auch subtilere Formen annehmen, die nicht notwendigerweise auf ein Untergraben der strukturellen Voraussetzungen der Unterdrückung abzielen (Scott 1985, 1990). Dieser „Alltagswiderstand“ manifestiert sich, wenn Menschen sich durch subtile Sabotageakte oder die „verborgenen Transkripte“ von Gerüchten und Gemunkel der Macht widersetzen.

Wie passt das Aufbegehren gegen urbane Transformationsprozesse in Russlands Städten mit diesem Verständnis von Widerstand zusammen? Zunächst einmal waren die russischen Städte während der großen Mobilisierungsphasen nach dem Zusammenbruch der Sowjet­union eine Brutstätte kollektiver Aktionen. Eine explizit stadtbezogene Agenda wurde jedoch erst in den 2000er-Jahren erkennbar, als sich die urbanen Landschaften dramatisch zu verändern begannen. Als Reaktion auf die zunehmenden staatlichen und unternehmerischen Eingriffe in das urbane Leben gründeten russische Stadtbürger*innen Netzwerke und Organisationen wie das Komitee zur Verteidigung der Moskowiter*innen, das Sprungbrett für Politiker wie Alexei Nawalny, oder die Architekturwacht, die für die Erhaltung des historischen Erbes im Baubestand Moskaus kämpft. Auch in den Regionen schlossen sich Aktivist*innen gegen das zusammen, was John Logan und Harvey Molotch (2007 [1986]) einst als „Wachstumsmaschinen“ bezeichnet haben, das heißt die einflussreichen Allianzen aus öffentlichen Behörden und privaten Akteur*innen, die aus der Stadtentwicklung Profit schlagen wollten (Clement/Miryasova/Demidov 2010; Kleman/Gladyrev/Mirjasova 2013). Häufig erfuhr der von den Regionen ausgehende Widerstand auch Unterstützung aus der gesamten Russischen Föderation, so zum Beispiel in den Jahren 2007 bis 2012 die Verteidigung des Chimki-Waldes bei Moskau gegen den Bau einer Schnellstraße oder die Mobilisierung gegen den Bau von Gazproms Ochta-Center in Sankt Petersburg von 2007 bis 2011.

Allerdings bleibt urbanes Aufbegehren in Russland zumeist eher kleinräumig und lokal begrenzt (Semenov 2019). Eine neuere Studie zeigt, dass sich Konflikte in den 15 Millionenstädten Russlands (den Brutstätten urbanen Unmuts) mehrheitlich an Nachverdichtungsvorhaben entzünden, vor allem dann, wenn dadurch öffentliche Gemeingüter wie Parks, Plätze oder andere öffentliche Räume bedroht sind (Semenov 2022). Obwohl die aktiv gewordenen Bürger*innen oftmals erkennen, dass die von ihnen unerwünschte Stadtentwicklung das Ergebnis von Vetternwirtschaft ist, und den zuständigen Behörden vorwerfen, mit privaten Investor*innen gemeinsame Sache zu machen, vermeiden sie es bewusst, politische Akteur*innen (wie Parteien oder andere Aktivist*innen) in den Konflikt hineinzuziehen.

Gleichzeitig reicht das Protestrepertoire der betroffenen städtischen Gemeinschaften von Petitionskampagnen und öffentlichen Kundgebungen bis hin zu Bürgerversammlungen, Subbotniks (der aus Sowjetzeiten übernommene gemeinsame Arbeitseinsatz, z. B. zum Müllsammeln) und gerichtlichen Auseinandersetzungen, also Vorgehensweisen, die denen sozialer Bewegungen in entwickelten Demokratien gleichen. Darüber hinaus nutzen die mobilisierten städtischen Gemeinschaften oftmals in strategischer Weise ihre Verbindungen zu traditionellen Medien beziehungsweise ihre Präsenz auf sozialen Medien, um Öffentlichkeit zu erzielen (Tykanova 2022). In vielen Fällen hilft die mediale Beachtung den Aktivist*innen, sich die komplexen und vielschichtigen Strukturen des russischen politischen Systems zunutze zu machen: Sie gewinnen die Aufmerksamkeit mächtiger Politiker*innen, etwa von Parlamentsabgeordneten oder Gouverneur*innen, oder bringen Immobilienentwickler dazu, sich aus Projekten zurückzuziehen, die ihrem Ruf schaden könnten.

Durch die autoritäre Struktur des heutigen Russland sind die Mittel, mit denen sich Bürger*innen für politischen Wandel einsetzen können, recht begrenzt. Dies gilt vor allem auf der lokalen Ebene: In den meisten Städten wird das Stadtoberhaupt nicht mehr gewählt (Kazantsev/Rumyantseva/Komin 2020), unabhängige Kandidat*innen müssen zahlreiche Hinder­nisse überwinden, um bei Wahlen antreten zu können (Tkacheva/Turchenko 2022), und lokaler Aktivismus wird zunehmend unterdrückt (Dollbaum 2022). Aber trotz des existierenden Machtungleichgewichts sind Russ*innen nach wie vor bereit, ihrem Unmut „laut“ Luft zu machen, um sich gegen bestimmte Veränderungen in ihren Stadtvierteln, Bezirken oder sogar auf gesamtstädtischer Ebene zur Wehr zu setzen. Ein örtlicher Park, ein Spielplatz oder eine Eislaufbahn bedeuten den Anwohner*innen etwas, egal wie belanglos sie von außen betrachtet erscheinen mögen. Sie dienen den dort lebenden Menschen als Interaktionsraum und fördern so das Zugehörigkeitsgefühl und die lokale Identität (Morris/Semenov/Smyth 2023). So gesehen ist urbane Mobilisierung ein Widerstand im Sinn einer unmittelbaren Reaktion auf von außen wirkende Kräfte. Gleichzeitig hat diese Art des Widerstands aber keine Veränderungen auf der strukturellen Ebene bewirkt, wo die mächtige Allianz aus Staat und Unternehmen die Raumordnungspolitik nutzt, um das autoritäre Regime zu konsolidieren und jegliche Veränderung der allgemeinen Machtverhältnisse zu verhindern.

Mit den Jahr für Jahr zunehmenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens wird der autoritäre Urbanismus in Russland sehr wahrscheinlich fortbestehen. Zudem hängt die Loyalität der Eliten von der Verteilung der Profite ab, und Stadtentwicklung ist und bleibt eine Hauptquelle für solche Gewinne. Auch wird sich der Staat nicht aus dem Bau von Großwohnsiedlungen auf der grünen Wiese oder auf Brachland zurückziehen, welche sich unweigerlich störend auf das urbane Alltagsleben auswirken. Dem fortwährenden Eindringen staatlicher und unternehmerischer Akteur*innen in ihr Lebensumfeld zum Trotz zeigen Russ*innen die Bereitschaft und das Geschick, ihre Hinterhöfe, Parks und Plätze zu verteidigen und sich so dem autoritären Urbanismus entgegenzustellen – wenn auch in viel kleinerem Maßstab, als es möglich wäre.