sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(3/4), 283-291

doi.org/10.36900/suburban.v11i3/4.914

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Debatte zu: Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt, Kristine Beurskens: „Was heißt hier Widerstand?“

Kommentare von: Kirsten Angermann, Sören Becker, Peter Bescherer, Tuba İnal-Çekiç, Alke Jenss, Felicitas Kübler, Leon Rosa Reichle, Lela Rekhviashvili, Andrei Semenov, Urszula Woźniak

Widerstand und Infrastrukturen: das Beispiel Energiedemokratie

Kommentar zu Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt und Kristine Beurskens „Was heißt hier Widerstand? Widerständige Praktiken im Kontext von autoritärem Urbanismus“

Sören Becker

1. Einleitung

„Was heißt hier Widerstand?“, fragen Daniela Zupan, Matthias Naumann, Gala Nettelbladt und Kristine Beurskens in ihrem Aufschlag zur Diskussion, den sie auf den Widerstand im Kontext autoritären Urbanismus und verschiedene Beispiele einer offenen oder stillen, bewussten oder unbewussten Opposition fokussieren. Ihr Ziel ist es, über die prominenten Erzählungen sozialer Bewegungen in den Feldern Wohnen, Ernährung oder „Recht auf Stadt“ im Allgemeinen hinauszugehen (vgl. Schipper 2013; Vogelpohl 2018). Die Autor*innen legen dabei Wert auf „leisere Praktiken“ (Zupan et al. 2023: 236) und grenzen sich von einer allzu schnellen Wertung von Aktivitäten als Widerstand aus einer externen, beobachtenden Perspektive ab. Ihr Plädoyer besteht darin, genauer hinzuschauen, um Widerstand, die damit verbundenen Taktiken und deren Auswirkungen zu verstehen. Dieser Kommentar nähert sich der Thematik mit einem Blick auf Widerstand gegen oder Kämpfe um technische Infrastrukturen in der Stadt.

Auf den ersten Blick erscheinen die technischen Infrastrukturen einer Stadt als vorrangig funktionale Gebilde. Straßen, Wasser- und Stromversorgung erfüllen – unabhängig davon, ob es sich um einen autoritären oder liberalen urbanen Kontext handelt – ähnliche Zwecke, und auch die Feinheiten technischer Funktionalitäten unterscheiden sich nicht wesentlich. Trotzdem gelten Infrastrukturen längst nicht mehr als neutrale Installationen. Mit dem infrastructural turn der Sozialwissenschaften gerät das komplexe Wechselspiel zwischen Infrastrukturen und sozialen Beziehungen (bzw. Verhältnissen) in den Blick (Amin 2014; Harvey/Jensen/Morita 2016). Städtische Infrastrukturen werden politisch: Ihre materielle Konfiguration ermöglicht soziale und ökonomische Prozesse, schließt andere Verwendungen aus, (re-)produziert soziale und räumliche Ungleichheiten und spiegelt gesellschaftliche Strukturen und Machtpositionen wider (McFarlane/Rutherford 2008; van Veelen et al. 2021).

Diese produktiven Eigenschaften von Infrastrukturen werden international vor allem in Bezug auf die räumlich ungleiche Versorgung infolge neoliberaler Privatisierungsprozesse (Stichwort: splintering urbanism, vgl. Graham/Marvin 2022) und die Anpassung von Infrastrukturen vor dem Hintergrund der sich entfaltenden Klimakrise diskutiert (Rutherford/Coutard 2014; Wiig et al. 2023). Auch in der deutschsprachigen Geographie werden die sozialen Dimensionen von Infrastrukturen aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht: Darunter fallen Infrastrukturen als Gegenstand des Lernens (Tuitjer/Müller 2021) und von populistischen Diskursen (Naumann 2021) sowie als Technologien, die intime Erfahrungen im städtischen Raum vermitteln können (Hutta/Schuster 2022). Nicht zuletzt steuern Infrastrukturen den gesellschaftlichen Stoffwechsel: den aktuell nicht nachhaltigen und häufig auf städtische Zentren bezogenen stofflichen und energetischen Input für Produktion und Konsumption sowie den Abtransport der nicht in Atmosphäre oder Biosphäre verkappten Reststoffe (Bauriedl 2022).

Einmal errichtet, erscheinen Infrastrukturen als beständig und sichern – gestützt durch soziale Institutionen – das „normale“ Funktio­nieren einer Gesellschaft oder Stadt ab (Monstadt 2009). Doch Nate Millington (2018) weist darauf hin, dass Infrastrukturen Ausdruck und Medium städtischer Politik sind: Sowohl ihre materielle und technische Konfiguration als auch ihre wirtschaftliche und politische Organisation determinieren deren Zweck und Nutzung. Infrastrukturen repräsentieren damit die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Entstehung. Aus ihnen lassen sich die „genealogies of modern power“ (Boyer 2014: 325) ablesen, von der Formierung von Verkehrsverbindungen im Kontext der westeuropäischen Staatenbildung (Turner 2020) über die Lenin’sche Losung des „Kommunismus als Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ bis hin zur Errichtung von größeren Staudammprojekten als Teil staatlicher Modernisierungs- und Entwicklungsstrategien (Kaika 2006). Marxistische Ansätze verweisen zudem auf die Doppelrolle von Energie- und Transportinfrastrukturen als Voraussetzung für die Beschleunigung und Globalisierung kapitalistischer Wirtschaftsmodelle und als räumlich fixiertes Kapital (Huber 2009; Angel 2022). Doch was bedeutet das für Widerstand? Und wie lässt sich der Zusammenhang von Infrastrukturen und autoritärem Urbanismus fassen?

2. Infrastrukturen als Gegenstand von Widerstandsbewegungen

Wenn wir Infrastrukturen als stabil verstehen, wird Widerstand schnell auf kleinmaßstäbliche Praktiken wie das illegale Abzweigen von Wasser aus Bewässerungskanälen oder den Stromklau durch informelles Anzapfen von Stromnetzen beschränkt (Schmitt 2017). Historische Arbeiten zeigen jedoch, wie die Infrastrukturpolitik unterschiedlicher Regierungen die Entwicklung von technischen Systemen, aber auch von Urbanisierungsprozessen bestimmt (für Berlin siehe Moss 2020). Häufig war die Kontrolle von Infrastrukturen direkt mit politischen Machtkämpfen verbunden, wie Erik Swyngedouws (2015) Analyse zentralisierter Großprojekte der Wasserkraft zeigt, die im franquistischen Spanien zur Herrschaftssicherung genutzt wurden. Gleichsam können die technischen Eigenschaften von Infrastrukturen widerständige Praktiken begünstigen oder verhindern, wie Timothy Mitchell (2009) am Beispiel Steinkohle mit Blick auf die Blockademöglichkeiten des Abbaus unter Tage und des Transports in historischen Kämpfen um Arbeitsrechte und wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen zeigt.

Widerstand gegen Infrastrukturen hat eine Tradition in West- wie in Ostdeutschland, die selbstverständlich in einem anderen Kontext mit unterschiedlichen Mitteln und Taktiken operierte (z. B. „Eingaben“[1] in der ehemaligen DDR, vgl. Knabe 1988). Unterschiedliche soziale Bewegungen fundierten ihre Kritik mit einer Mischung aus ökologischen Motiven und einer Ablehnung technokratischer Entscheidungsprozesse. Dies gilt für die Proteste gegen die Erweiterung des Frankfurter Flughafens wie für den bundesweit verbreiteten Widerstand gegen die Atomenergie, für Proteste gegen ein geplantes Atomkraftwerk in Stendal wie für jene gegen das geplante Siliziumwerk in Dresden-Gittersee.

Auch heute, im vereinten Deutschland, können Konflikte um Infra­strukturen als Ausdruck größerer politisch-ökologischer Konfliktlinien gedeutet werden, die sich an spezifischen Schauplätzen materialisieren (vgl. Oßenbrügge 2021). Einerseits besteht Widerstand gegen fossile Infrastrukturen wie Kohlekraftwerke und -tagebaue, Gasleitungen und Terminals für die Anlandung von Flüssiggas sowie Autobahnneubauten und -erweiterungen. Andererseits entflammten vielerorts Proteste gegen Windenergieanlagen, Übertragungsnetze, Biomassekraftwerke, Bahnhofsprojekte und so weiter. Dabei wird „auf beiden Seiten“ häufig mit fehlender Mitbestimmung argumentiert, während vor Ort die Auswirkungen entfernter – entweder auf höheren politischen Ebenen oder in städtischen Zentren getroffener – Entscheidungen getragen werden müssen. Diese wiederkehrenden Muster begründen Infrastrukturen als Ausgangspunkt für Überlegungen zu Autorität und Widerstand.

3. Ansätze von Energiedemokratie

Neben der Opposition von und Protesten gegen Infrastrukturprojekte(-n) verschiedener Art, die von friedlich bis militant reichen, zeigen Kampagnen für Energiedemokratie zwei weitere Ansätze für produktive Auseinandersetzungen mit der Umgestaltung von Infrastrukturen auf: erstens die technische Rekonfiguration hin zu stärker dezentralisierten Lösungen und zweitens die gesellschaftliche Aneignung zentraler Infrastrukturen. Beide Entwicklungen zeigten sich in den letzten beiden Dekaden, obwohl der Energiesektor – unabhängig vom politischen System – durch eine starke organisatorische Konzentration und eine dezidierte Nähe zu politischer Macht auf verschiedenen räumlichen Ebenen charakterisiert war (vgl. Wollmann/Marcou 2010). Gerade vor dem Hintergrund der flächendeckenden Privatisierungen in den 1990er- und 2000er-Jahren sind entsprechend „widerständige“ Ansätze einer ökologischen, sozialen und demokratischen Umgestaltung der Energieversorgung hoch zu gewichten, da sie technische Konfigurationen und die Eigentumsverhältnisse von Infrastrukturen als politisches Thema positionieren (Becker/Naumann 2021).

Der erste Ansatz der technischen Dezentralisierung steht in der Tradition klassischer Arbeiten der Technikgeschichte und der Science-and-Technology-Forschung. Die Autor*innen ziehen ihre Schlussfolgerungen aus einer kombinierten Betrachtung von technischen und organisatorischen Komponenten: Vereinfacht gesagt, stehen kleintechnische und selbstverwaltete Technologien großtechnischen Lösungen gegenüber, die auch aufgrund ihrer Komplexität hierarchische oder „autoritäre“ Organisationsformen voraussetzen (Mumford 1964; Winner 1980). Entsprechend dem Prinzip Small is beautiful (Schumacher 1973) zielt Widerstand hier auf eine Demokratisierung bestehender Strukturen durch den Aufbau kleinmaßstäblicher selbstverwalteter Infrastrukturen.

Im Energiesektor ist diese Vorstellung vor allem mit genossenschaftlichem Besitz an erneuerbaren Energieanlagen oder lokalen Strom- und Wärmenetzen verbunden. Die Schönauer Stromrebellen, Vertreter*innen eines genossenschaftlich organisierten Energieunternehmens aus Schönau im Schwarzwald, stehen sinnbildlich für diese Orientierung. Energieinfrastrukturen werden durch private Investitionen in kollektives Eigentum überführt, um gemeinsam von den Gewinnen der Anlagen zu profitieren und direkte Entscheidungen über die Entwicklung der Organisation und ihrer Infrastrukturen zu treffen. Als Kritikpunkt werden dabei finanzielle Eintrittsbarrieren, in der Regel ein Mindestbetrag für die Mitgliedschaft, herangeführt. Außerdem begrenzen teilweise auf Ehrenamt beruhende Organisationsstrukturen die Entwicklung und Anpassungsfähigkeit von Energiegenossenschaften an neue Themengebiete. Trotz der hohen Zahl an Energiegenossenschaften in Deutschland schränken diese beiden Punkte die Möglichkeit zur generellen Ausweitung solcher dezentralen Organisationsformen ein.

Der zweite Zugang zu Energiedemokratie zielt auf die gesellschaftliche Aneignung bestehender, auch großtechnischer Energieinfrastrukturen. Ähnlich wie das Recht auf Stadt lässt sich dieser Ansatz in zwei Zielrichtungen konzipieren: erstens in Richtung einer Demokratisierung der Energieversorgung durch eine größere Beteiligung von Ver­braucher*innen, Beschäftigten, Anwohner*innen und so weiter, zweitens formulieren Bewegungen für Energiedemokratie konkrete Ansätze für eine gesellschaftliche Aneignung der Energieversorgung (Becker/Angel/Naumann 2020). Die Kontrolle über Energieinfrastrukturen wird damit zu einem Baustein gesellschaftlicher Selbstbestimmung („autogestion“) in der Stadt (ebd.: 1096 f.).

Empirisch lässt sich dies an Initiativen für eine Rekommunalisierung von Energienetzen festmachen, die in den 2010er-Jahren in vielen Regionen Deutschlands gegründet wurden. Rekommunalisierung steht für den Rückkauf von kommunalen Energieinfrastrukturen nach vorangegangener Privatisierung oder für die erstmalige Gründung von kommunalen Unternehmen. Dabei lässt sich ein zweigeteiltes Bild feststellen: Einerseits machten technisch-administrative Rekommunalisierungen einen Großteil der Fallzahlen in Deutschland aus, die vor allem von lokalen Verwaltungen vorangetrieben wurden. Hier standen neben der Förderung der Energiewende Argumente wie die günstige Refinanzierbarkeit im Vordergrund (Berlo/Schäfer/Wagner 2018). So wurden zwar neue Unternehmen gegründet, diese kooperierten jedoch weiterhin mit bestehenden privaten Energieversorgern. Andererseits waren in mehreren Großstädten politische Konflikte und der Druck sozialer Bewegungen ausschlaggebend. Insbesondere die Rekommunalisierungsbewegungen in Hamburg (für Strom, Gas und Wärme) und Berlin (für Strom) in den Jahren 2011-2013 resultierten in einer breiten Mobilisierung wie auch in einer polarisierten öffentlichen Debatte über das Potenzial öffentlicher Unternehmen als Alternative zu einer neoliberalen, auf Privatisierung beruhenden Infrastrukturpolitik. Während das demokratisch sehr ambitionierte Berliner Projekt im Volksentscheid scheiterte, leitete der Erfolg des Hamburger Referendums einen Rückkauf der Strom-, Gas- und Wärmenetze ein und diente als Blaupause für spätere Aktivitäten, ein lokales Kohleausstiegsgesetz durchzusetzen (Becker/Naumann 2021).

4. Ausblick

Widerstand gegen Infrastrukturen wird häufig als Reaktion auf autoritär wahrgenommene politische Entscheidungen und großtechnische Lösungen begründet. Die konzeptionelle Diskussion macht deutlich, wie Infrastrukturen mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen verbunden sind: Erstens ermöglichen sie – auch in autoritären Kontexten – eine funktionelle Normalität urbaner Prozesse, zweitens reflektieren sie die politischen Aushandlungen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Doch trotz der Funktionalität und Beständigkeit von Infrastrukturen besteht eine gewisse Kontingenz, aus der sich Möglichkeiten für die Veränderung und eine gesellschaftliche Aneignung von Infrastrukturen ableiten (und die noch vergrößert wird, wenn wir den Blick jenseits formeller Systeme der Infrastrukturversorgung im globalen Norden lenken, vgl. Lawhon et al. 2018). Die Bewegungen für Energiedemokratie unterstreichen den offenen und politischen Charakter von Infrastrukturen in konkreten lokalen Auseinandersetzungen. Entgegen technokratischer Zentralisierungs- und neoliberaler Privatisierungstendenzen wurden einerseits dezentrale, genossenschaftliche Modelle und andererseits Kampagnen für Rekommunalisierung von Energieinfrastrukturen etabliert. Beide Ansätze zeigen, wie sich alternative technische und organisatorische Konfigurationen von Infrastrukturen entwickeln und umsetzen lassen.

Die Kontingenz von Infrastrukturen für Veränderungen zu nutzen, ist gerade vor dem Hintergrund der multiplen ökologischen und klimatischen Krisen dringlich. Entsprechend sind die gegenwärtigen Proteste gegen Braunkohletagebaue und -kraftwerke in der Lausitz, dem Mitteldeutschen und dem Rheinischen Revier nicht nur die größten energiebezogenen Mobilisierungen seit den Protesten gegen die Kernenergie in den 1980er-Jahren. Die Forderungen der Initiativen bringen neben dem Stopp der Kohleförderung und dem Erhalt von Dörfern und Wäldern auch alternative, kollektiv getragene Ansätze für regionale Entwicklung hervor (Sander/Siebenmorgen/Becker 2020). Damit bildet vor allem die Politisierung der Kohleverstromung vor dem Hintergrund des Klimawandels eine Basis für Widerstand und alternative Vorstellungen für weitere gesellschaftliche Bereiche. Widerstand muss schließlich nicht einzig am Erfolg im Sinne der Durchsetzung von Forderungen gemessen werden, sondern auch daran, wie technische und gesellschaftliche Alternativen produktiv entwickelt und politisch kommuniziert werden.