Es besteht ein gewisser wissenschaftlicher Konsens darüber, dass die Krise von 2007/2008 zu einer neuen historischen Phase in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung geführt hat. Diese ist gekennzeichnet durch vielfältige, überlappende Krisen und den Niedergang des hegemonialen Moments des Neoliberalismus. Angesichts dessen erstarken nichtdemokratische Regierungsformen und politische Kräfte mit explizit antiegalitären, autoritären Agenden. Um die Spezifität dieser Phase zu verstehen, haben einige Autor*innen das Konzept des „autoritären Neoliberalismus“ formuliert. Diesen trägt auch der von uns rezensierte Sammelband im Titel: Authoritarian neoliberalism. Philosophies, practices, contestations, 2020 herausgegeben von Ian Bruff und Cemal B. Tansel. Das Buch ist ein Reprint eines Special Issue der Zeitschrift Globalizations (2019, Bd. 16, Heft 3).
Das Konzept des „autoritären Neoliberalismus“ (im Folgenden AN) dient also der Beschreibung einer bestimmten Phase des Neoliberalismus, welche durch seine ideologische Krise und gleichzeitig seine Resilienz als Form kapitalistischer Governance gekennzeichnet ist. Doch der Begriff ist mehr als nur eine Zeitdiagnose – schnell diente er als Grundlage einer echten Forschungsagenda, wie man unter anderem in dem 2017 von Cemal B. Tansel herausgegebenen Sammelband States of discipline. Authoritarian neoliberalism and the contested reproduction of capitalist order und natürlich dem hier rezensierten Buch nachlesen kann. In den Worten der Herausgeber zielt diese Forschungsagenda darauf ab aufzuzeigen, „how contemporary capitalism is governed in a way which tends to reinforce and rely upon practices that seek to marginalize, discipline and control dissenting social groups and oppositional politics rather than strive for their explicit consent or co-option“ (Bruff/Tansel 2020: 2).
Im einleitenden Kapitel des Buches diskutieren die Herausgeber Bruff und Tansel grundsätzliche Überlegungen, stellen ihre Forschungsagenda vor und reagieren auf kritische Einlassungen. Sie argumentieren dabei, dass die Forschung zum AN diesen aus zwei Blickwinkeln betrachtet: Der eine konzentriert sich auf die Wechselbeziehung zwischen autoritärem Etatismus und neoliberalen Reformen, der andere auf die Veränderungen in zentralen gesellschaftlichen Enklaven des Kapitalismus wie den Staat, die Haushalte, die Stadt oder den Arbeitsplatz. Für die Autoren sind diese Analyselinien nicht unabhängig voneinander, priorisieren aber unterschiedliche Fokusse und politische Strategien.
Die allgemeinen Hypothesen, von denen der Forschungsansatz ausgeht, können wir wie folgt zusammenfassen. Erstens konstatieren die Autoren, dass wir tatsächlich Zeug*innen eines paradoxen Moments sind, in dem der Neoliberalismus zwar seine ideologische Strahlkraft eingebüßt hat, nicht aber seine global dominante Position als Form der Governance. Daraus ergibt sich zweitens, dass diese Vorherrschaft zunehmend durch Zwangs-, Repressions- und Disziplinierungsmechanismen und weniger durch konsensuale, ideologische oder demokratische Mechanismen ausgeübt wird. Diese autoritäre Form der Reproduktion des Neoliberalismus birgt, drittens, etliche Widersprüche, die wiederum zu neuen Krisen führen können und daher auch Raum für Proteste und Widerstand bieten. Diese Widerstände und Proteste, so die vierte Hypothese, nehmen nicht notwendig emanzipatorische Formen an, wie die erfolgreiche Kanalisierung der sozialen Unzufriedenheit durch rechtsextreme Kräfte in der ganzen Welt zeigt.
Unter diesen Prämissen geht das Konzept des autoritären Neoliberalismus über bestimmte Elemente hinaus, die die Debatten und Studien zum Neoliberalismus über Jahre hinweg geprägt haben. Erstens soll die ideengeschichtliche Lesart des Neoliberalismus als „marktradikale Theorie“ verworfen werden. Stattdessen wird angenommen, dass dieser immer schon weniger eine Ideologie des freien Marktes denn ein politisches Projekt zur Reform von Staat und Gesellschaft auf antidemokratische Weise war. Zweitens richtet der Ansatz des AN den Fokus viel stärker auf den Globalen Süden, um die regionalen Formen des Neoliberalismus in ihrer Spezifität zu verstehen, anstatt diese lediglich als „strukturelle Anpassungen“ eines in den kapitalistischen Zentren konzipierten Projekts zu betrachten. Und drittens soll der Begriff die Neuartigkeit der Transformationen und entstehenden Mechanismen der aktuellen Phase des Neoliberalismus aufweisen, anstatt diese lediglich durch in anderen Epochen entwickelte Kategorien zu erklären. Trotz dieser vielfältigen Abgrenzungen lehnen die Autoren es ab, den autoritären Neoliberalismus positiv und kategorisch zu definieren, da sie ihn eher als ein offenes Forschungsprogramm denn als ein zu operationalisierendes Konzept betrachten. Den Autoren geht es nicht um die Ausarbeitung von Modellen oder Typologien, sondern um die Erfassung von Trends, „Praktiken, Repertoires und Spektren“ (Bruff/Tansel 2020: 6), die sich zeitlich und räumlich verändern. So plädieren sie für eine gewisse Toleranz gegenüber der messiness und den imperfekten Konzepten, um die Vielfältigkeit und Kontingenz der Formen von Herrschaft und Widerstand zu verstehen.
Dieser Band bereichert die Forschung zum autoritären Neoliberalismus um acht Studien aus und zu verschiedenen Teilen der Welt, in denen Autor*innen den Ansatz und die zentralen Hypothesen empirisch diskutieren und weiterentwickeln. Die Bandbreite ist dabei durchaus groß: Der „literaturtheoretische Ansatz“ von Ian Bruff und Kathryn Starnes zu einigen Klassikern des Neoliberalismus konzentriert sich stärker auf theoretische und methodologische Fragen, ebenso wie auch Graham Harrisons Diskussion der Umsetzung des Neoliberalismus und der autoritären Entwicklungspolitik in Afrika. Andere Studien fokussieren die ideologische Bedeutung bestimmter sozialer Sphären für das Funktionieren des Neoliberalismus, wie das Kapitel über den Einfluss des Bertelsmann-Gruppe in Deutschland von Mareike Beck und Julian Germann oder das Kapitel von Nadine Kreitmeyr über die Bedeutung von Netzwerken des sozialen Unternehmertums im Libanon und in Jordanien.
Zwei Artikel konzentrieren sich explizit auf den städtischen Raum: Alke Jenss zeigt auf, wie neoliberale Austeritätspolitik und Disziplinierungsstrategien Hand in Hand Einzug in den städtischen Raum in Oaxaca, Mexiko erhalten, Cemal B. Tansel analysiert die Zentralisierung von Entscheidungsmacht über stadtpolitische Themen im Nationalstaat und insbesondere der Exekutive in der Türkei. Die beiden abschließenden Texte widmen sich vornehmlich der Transformation staatlicher und rechtlicher Mechanismen in Europa in Antwort auf die Krise. Adriano Cozzolino beleuchtet die systematische Schwächung der Legislative in Italien, Angela Wigger die autoritären Dimensionen der Industriepolitik der Europäischen Union.
Die Artikel in diesem Sammelband geben zusammengenommen einen wichtigen Ein- und Überblick in beziehungsweise über die Arten und Weisen, wie der Neoliberalismus trotz seines weitreichenden Legitimitätsverlusts als globales Governance- und Akkumulationsregime aufrechterhalten wird. Dass das Konzept des AN gewinnbringend in eine transnationale, postkoloniale Forschungsagenda umgesetzt werden kann, die dennoch den Unterschieden der lokalen Entwicklungen gerecht wird, kann als eine große Stärke der Offenheit des Ansatzes gewertet werden. Auch die Dramaturgie des Bandes überzeugt: Die von Bruff und Tansel in der Einleitung aufgegriffenen Überlegungen zeichnen ein begriffliches Koordinatensystem, welches das Buch weitestgehend kohärent durchzieht. Die zentralen Hypothesen der Literatur zum AN können empirisch fundiert teilweise verifiziert und oft auch weiterentwickelt werden.
Gleichzeitig zeigt eine heutige Lektüre des Sammelbandes – dessen Texte ja vor mittlerweile knapp fünf Jahren verfasst wurden – aber auch ein paar Defizite und blinde Flecken auf. Als zentraler Kritikpunkt erscheint uns dabei der starke Fokus der Forschung zum AN auf institutionelle Mechanismen und staatliche (antidemokratische, repressive) Praxis bei gleichzeitiger weitgehender Ausblendung der gesellschaftlichen, politischen und insbesondere ideologischen Transformationen der letzten 15 Jahre. Damit werden spielentscheidende Zäsuren innerhalb der historischen Phase nach 2007/2008 außer Acht gelassen, insbesondere jener – spätestens mit dem Brexit, den Wahlerfolgen von Narendra Modi, Rodrigo Duterte, Donald Trump, Jair Bolsonaro et cetera und Erdoğans offen autoritärer Wende nicht mehr zu leugnende – Bruch zwischen einer liberalen und einer illiberalen, einer antipopularen und einer populistischen Antwort auf die Krisen.
Diese Entwicklung läuft den Annahmen des Buches nicht grundsätzlich zuwider, sie erfordert unserer Meinung nach aber eine Subperiodisierung des AN. Denn der Neoliberalismus in seiner technokratischen, liberalen autoritären Ausprägung, wie das Konzept des AN ihn treffend beschreibt, konkurriert heutzutage mit einem (oder mehreren) identitären, nationalistischen, rassistischen und antifeministischen Projekt(-en). Diese sind mindestens ebenso antidemokratisch und autoritär, setzen aber auf eine aktive ideologische Mobilisierung der Beherrschten, wobei klassische reaktionäre Topoi mit neoliberalen vermischt werden.
Somit existieren und konkurrieren derzeit zumindest zwei Gestalten des Autoritarismus: einerseits ein autoritärer Neoliberalismus, der auf repressiven, entdemokratisierenden Mechanismen innerhalb eines liberalen Formats beruht und dessen Profil durch die in diesem Buch vorgeschlagene Forschungsagenda sehr gut beschrieben wird; und andererseits ein autoritärer Populismus, der in gewisser Weise eine Reaktion auf den erstgenannten darstellt, aber autoritäre und entdemokratisierende Logiken mit anderen ideologischen Inhalten produziert. Beide Projekte sind autoritär und neoliberal, sie jedoch unter einem Konzept zu assimilieren, versperrt den Blick auf die politischen und sozialen Dynamiken viel mehr, als zu ihrer Erklärung beizutragen.
Die Forschungsagenda der AN widmet diesen Entwicklungen bisher noch zu wenig Aufmerksamkeit und läuft beizeiten Gefahr, sie als Teil einer einzigen Logik zu verstehen, die 2007 begann und bis heute andauert. Dabei erfordert das Phänomen des (neoliberalen) autoritären Populismus unserer Meinung nach, die zentrale Hypothese des AN – nämlich dass der heutige Kapitalismus zunehmend auf Repression und Disziplinierung statt auf Konsens oder Kooptation setzt – neu zu durchdenken. Nicht weil wir meinen, dass sie nicht mehr gilt, sondern weil sich die Mechanismen, Praktiken und Diskurse radikal verschoben haben – und die Gegenüberstellung von „Zwang“ und „Konsens“ angesichts des autoritären Populismus und seines Kulturkampfes vielleicht grundsätzlicher überdacht werden muss.
Uns erscheint auch, dass die Konzeptualisierung der Antagonismen und Widerstände grundsätzlich eine eher randständige Existenz in der Diskussion um den AN fristet. Die fehlende Problematisierung und Theoretisierung dieser wird dann insbesondere hinsichtlich der reaktionären (Gegen-)Bewegungen problematisch. So gehen Bruff und Tansel in ihrem einleitenden Text zwar kurz auf den „neuen radikalen Rechtspopulismus“ ein, sehen in diesem aber bloß ein Zeichen dafür, dass „Widerstand vielgestaltig und nicht immer emanzipatorisch ist“ (2020: 2), an anderer Stelle wird der Aufstieg autoritär-populistischer Kräfte als direkte Reaktion auf den in den anderen Parteien vorherrschenden neoliberalen Konsens erklärt (ebd.: 115).
Nun ist die Charakterisierung des Populismus als „resistance“ vielleicht nicht unbedingt unzutreffend, aber sicherlich sehr begrenzt. Denn dieser sollte eben nicht als rein negative Reaktion auf eine Notlage, einen Mangel an Alternativen oder als „Widerstand“ betrachtet werden. Wir meinen vielmehr, dass der autoritäre Populismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen ein politisches Projekt darstellt, welches eine eigene Agenda artikuliert und sich sowohl auf ideologischer als auch auf wahlpolitischer Ebene zunehmend erfolgreich durchsetzt. Dieses von bestimmten Kapitalfraktionen und politischen Blöcken getragene Projekt greift zwar die Ängste und soziale Malaise auf, artikuliert dies aber eben nicht als Widerstand, sondern vornehmlich als Ressentiment und Gewalt gegen Schwächere. Das Spannungsverhältnis zwischen autoritärem Neoliberalismus und autoritärem Populismus hat sehr viel mit Konflikten innerhalb der herrschenden Klassen zu tun, von denen ein Teil sich angesichts der kapitalistischen Krisen und Auseinandersetzungen um deren Bewältigung mit Teilen der Mittel- und Arbeiterklassen zu verbünden versucht – zumeist ohne dabei die zentralen neoliberalen Prämissen infrage zu stellen (siehe Demirovic 2018).
So liefert die Forschung zu AN uns wichtige Werkzeuge und Begriffe, um den neoliberalen Angriff auf Demokratie und soziale Errungenschaften zu analysieren, ohne welchen der autoritäre Populismus sicherlich nicht verständlich wäre – zur Analyse dieses Letzten aber bedarf es einer Erweiterung des konzeptuellen und methodologischen Apparats. Dafür wäre sicherlich auch eine, in dem Sammelband erst zögerlich begonnene, Expansion der Forschungsagenda über die Politikwissenschaften hinaus von Bedeutung. Denn um die von uns angesprochenen Mutationen und Spannungen zu analysieren, reicht es nicht aus, die institutionellen, staatlichen oder gesellschaftspolitischen Transformationen zu beleuchten. Vielmehr wäre es notwendig, die ideologische und affektive Dimension, die Mediation zwischen Diskursen und sozialen Erfahrungen oder eben die Frage der Kanalisierung von Unbehagen und Emotionen zu erforschen. Auf diesem Feld erscheint die autoritär-populistische Krisenbewältigungsstrategie derzeit erfolgreicher als die autoritär-neoliberale. Um diese Artikulation besser zu verstehen, bedarf es eines Ansatzes, der sich stärker auch mit Ideologien, Bedeutungen und Erfahrungen von sozialen Subjekten befasst. Leider fehlt deren Stimme bislang in der Arbeit zum AN, wie in mehreren Kapiteln des Buches deutlich wird, die institutionelle Transformationen, Formen sozialer Kontrolle und Diskurse problematisieren, ohne allerdings nachzuvollziehen, wie diese Elemente von den Subjekten assimiliert und in die Praxis umgesetzt werden.
So möchten wir abschließend noch kurz auf den theoretischen Ansatz der AN-Forschung eingehen. Wir sind der Ansicht, dass die – absolut gerechtfertigte – Verteidigung der „Offenheit“ und „messiness“ der zentralen Konzepte gewinnbringend mit einer systematischen Konzeptualisierung der Mediationen zwischen den Praktiken der sozialen Macht, der Staatsform und den Mechanismen der Ausbeutung vereinbar ist. Als Beispiel dafür könnten Konzepte wie Antonio Gramscis „historischer Block“ oder Nico Poulantzas „institutionelle Materialität des Staates“ dienen, um Autoren zu nennen, in deren direkter Tradition sich die AN-Forschung sieht. Eine solche Systematisierung würde es auch ermöglichen, dem Einwand zu begegnen, der (neoliberale) Kapitalismus und sein Staat seien immer schon autoritär gewesen, die aktuelle Phase stelle also keine ernsthafte Neuerung dar. Dies würde auch eine differenziertere Periodisierung ermöglichen, welche die Neuerungen aufzeigt, ohne Kontinuitäten zu leugnen.
Der Ansatz der Forschung zu AN wird in dem vorliegenden Band überzeugend dargestellt und erweist sich in empirisch fundierten Studien in verschiedenen Geographien, Sphären und Scales als äußerst fruchtbar und erkenntnisreich. Gleichzeitig eröffnet er verschiedene vielversprechende Möglichkeiten und Wege, das Forschungsprogramm interdisziplinär zu erweitern und theoretisch und begrifflich weiter zu systematisieren. Das erscheint insbesondere angesichts der hier umrissenen Entwicklungen der vergangenen Jahre geboten. Der vorliegende Sammelband liefert auch dazu zahlreiche Anknüpfungspunkte.