Essen ist eine essenzielle Alltagspraktik. Julia von Mende belegt mit ihrer Studie, dass sich der Fokus auf diese Praktik für eine profunde Kritik urbanen Alltags eignet. Zwischen Küche und Stadt ist ein umfangreiches, dichtes Buch, dessen Leistung es nicht zuletzt ist, zwischen den Disziplinen Architektur und Architekturtheorie, Soziologie und Philosophie zu vermitteln und einen Begriffstransfer (siehe Praktiken und Verräumlichung) zu plausibilisieren und umzusetzen. Es liefert darüber hinaus zeitgeschichtliche und sozialökonomische Einordnungen von Essen als Tätigkeit und hinterlässt bei dem oder der Lesenden den Eindruck, hier umfassend über Essen in seinen räumlichen Bezügen und Verortungen „zwischen Haushalt und Stadt“ (S. 302) informiert zu werden.
Der disziplinübergreifende Mehrwert der qualitativen Studie zeigt sich, wie ich im Folgenden näher ausführen werde, insbesondere in Hinsicht auf: (1) den Fokus auf Alltag und Praktiken innerhalb der Architektur- und Stadtforschung, (2) die methodische Umsetzung mithilfe von Interviews und Architekturzeichnungen als Transferleistung sowie (3) die Herausstellung des zeitdiagnostischen Potenzials einer alltäglichen Praktik in Prozessen ihrer Verräumlichung. Mit dem begrifflichen Werkzeug der Verräumlichung (S. 55 f.) wird die Prozesshaftigkeit von Raum betont und zugleich dessen politisierende Dimension in den alltäglichen Verrichtungen hervorgehoben.
Im Aufbau folgt die Arbeit der Logik einer empirischen Studie. Nach einer Einführung in Begriffe und Konzepte folgen Sachinformationen als Kontextualisierung zu Essen als Praxis, dann wird das methodische Vorgehen erläutert und begründet, bevor sich der umfassende Ergebnisteil anschließt, der die Interpretation von Interviewdaten und die angefertigten Zeichnungen zueinander in Beziehung setzt. Die Darstellung der Ergebnisse (Kap. 4-6) widmet sich zunächst der empirischen Vielfalt anhand von Interviewausschnitten, um anschließend unter einem gemeinsamen theoretisierenden Begriff („Rahmen“, S. 163, „Neuzuordnungen und Entgrenzung“, S. 222, „Beschleunigung“, S. 312) einzelne Aspekte hervorzuheben und zu vertiefen. Dies wird zusätzlich mit historischen Exkursen angereichert. Leider geht sowohl durch diese Reichhaltigkeit an Inhaltlichem als auch durch wechselnde Systematisierungsansätze bei der Auswertung (zum Ende in Kap. 7.3 wird die zuvor argumentierte Systematisierung teils noch einmal quergelegt, teils wiederholt) die Stringenz in der Ergebnisdarstellung etwas verloren.
Die Studie vermag es, Alltag als erwiesenes Paradigma kritischer Stadtforschung (Lefèbvre 1987 [1947]; de Certeau 1988) zu revitalisieren. Mithilfe praxistheoretischer Ansätze (u. a. nach Theodore Schatzki, Andreas Reckwitz und Hilmar Schäfer) verfolgt die Autorin das Ziel, „Alltagshandlungen wie das Essen in seiner besonders engen Verwobenheit mit anderen Lebensbereichen und seine[n] materialen Aspekten zu ordnen und zu verstehen“ (S. 50). Damit steht auch die empirische Architekturforschung vor der Herausforderung, „die in den Interviews ausführlich geschilderten Tätigkeiten vom Anschein jener ‚Unwichtigkeit‘ dort zu befreien, wo sie Informationen für Nutzung und Bedeutung der dinglich-materiellen Welt enthielten“ (S. 133). Mit einem nahezu mikrologischen Interesse werden sowohl die Aussagen der Interviewten als auch die zeichnerischen Darstellungen der Haushalte (der Nagellack auf der Mikrowelle, S. 176) auf solche Spuren untersucht. Dadurch wird nicht nur anschaulich, wie Lebensbereiche durch alltägliche Praktiken miteinander verkettet sind, sondern auch, wie sie sich „zwischen Küche und Stadt“ verorten, indem sie sich mittels einzelner Artefakte und Architekturen materialisieren. Anhand der dargestellten Daten aus zehn „Berliner Küchen“ wird aber nicht nur die Materialisierung von Essenspraktiken nachvollziehbar, sondern auch ihre provisorische bis dauerhafte Verräumlichung. In soziologischer Hinsicht wird somit die Konstruktion von Räumen (in einem Verständnis von sozialem, relationalem Raum, s. Löw 2001) an die zeitabhängige Aufführung von Praktiken (ihre Körper und Verkörperungen, ihre Dinge und Orientierungen) gekoppelt. Dies scheint in theoretischer Hinsicht ein zentrales Ergebnis der Studie zu sein. Anschaulich wird das etwa an der wochentagsabhängigen Nutzung von Wohnräumen beziehungsweise der Küche (S. 289): Während zwar auch unter der Woche in der Küche Essen zubereitet wird, dominieren aufgrund unzureichender zeitlicher Ressourcen Räume des Arbeitens das Essen. Am Wochenende hingegen kann sich mit mehr Zeit in demselben „material setting“ (Schatzki 2001: 61) Essen als vergemeinschaftende und soziale Tätigkeit (vgl. Barlösius 2008) räumlich entfalten. Das enge Verhältnis und die Abhängigkeit von Verortung und Zeit für die Möglichkeit des Vollzugs von Praktiken und der Entfaltung ihrer Räume („Räume sind unmittelbarer Bestandteil sozialer Praktiken“, S. 55) wird somit immer wieder vor Augen geführt. Durch diesen Zugang zum Forschen über Essen wird schließlich nicht nur die vergleichsweise einfache Formel der wechselseitigen Bedingtheit und Nicht-Determiniertheit von Gebautem und Sozialem verfolgt, sondern diese immer wieder in den Kontext von Alltag, daran gebundene, wechselnde Zeitregime sowie sich wandelnde Lebensformen gesetzt und am empirischen Beispiel verdeutlicht. Auf der Hand liegt, dass dieses Zeitregime einer primär arbeitenden Gesellschaft ebenso Konsequenzen für den urbanen öffentlichen Raum hat. Fehlende Kochzeit bedingt, dass die „Wohnung […] kurzerhand erweitert“ wird (S. 211), um draußen im städtischen Raum etwas zu essen oder „etwas Warmes in die Küche zu holen“ (ebd.).
Als qualitative Studie im Stil der Grounded Theory verpflichtet sich die Arbeit zu einer offenen Herangehensweise an die Forschungsfrage nach Verräumlichungsprozessen von Essenspraktiken. Die unweigerliche Schlacht mit dem Datenmaterial ist im Buch immer wieder spürbar, aber größtenteils auf die wohltuende Art, Komplexität zeigen zu wollen. Die architektonischen Zeichnungen, die ästhetisch und in ihrem Detaillierungsgrad überzeugen, brechen die Vielschichtigkeit der sprachlichen Daten aus den Interviews immer wieder auf und können so vor allem in zwei Hinsichten übersetzen und vermitteln: zum einen zwischen den unterschiedlichen Disziplinen, die sowohl die Autorin als auch die Leserschaft des Buches in sich vereinen, zum anderen zwischen Theoretisierung und gebauter Wirklichkeit strukturell ähnlicher Essenspraktiken in Privat- und Bürohaushalt (S. 281). Diese Transferleistungen der Zeichnungen sind mit Recht nicht zu unterschätzen, worauf die Autorin selbst hinweist: „Nicht zuletzt macht die Zeichnung die Äußerung zum Raum in den Interviews zugänglich.“ (S. 113) Damit wird auch anschaulich, dass die architektonische Repräsentation von Raum sowohl ihre Tücken (Unbeweglichkeit, Standardisierung) als auch Vorteile wie Vergleichbarkeit und eine eigene Beschreibungsqualität in Ergänzung zu sprachlichen Daten im Kontext qualitativer Erhebungen hat. Etwa können die verschiedenen Schnitte und Ansichten durch die mobile und tragbare Küche im Fall des „Grillmanns“ (S. 345) ungleich detaillierter das materiell-räumliche Setting dieser Küche vorführen. Während ein Protokoll teilnehmender Beobachtung möglicherweise die Last der tragbaren Essenszubereitung und die Situierung des Grillmanns im Stadtraum sprachlich vertiefen sowie körper-leiblich vermitteln könnte, zielt die Zeichnung auf die Genauigkeit der gebauten Konstruktion, die sich mit weiteren Artefakten und Orten sichtlich zu einer dann doch komplexen Gastronomie im öffentlichen Raum aufspannt. Plötzlich ist der einzelne Grillstand-am-Menschen notwendigerweise abhängig von städtischer Infrastruktur und weitaus weniger mobil als suggeriert.
Im Verlauf des Buches wird immer wieder deutlich, dass der Begriff der Verräumlichung Materialisierungsprozesse von Essen mit Herausforderungen unserer „beschleunigten“ Gesellschaft und Problemen gebauter privater wie öffentlicher Räume vermittelt. Als wesentliches Ergebnis der Studie verstehe ich, dass den soziomateriellen und verkörperten Praktiken (Gherardi 2017) des urbanen Essensalltags eine räumliche Perspektive gegeben wird, die hier als in den Fängen (oder „im Hamsterrad“, S. 300) gesellschaftlicher Zeitverhältnisse betont wird. Von Mende streicht heraus, dass „[d]ie Verräumlichung der Essenspraktik […] als pars pro toto für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen zu verstehen“ sei (S. 388). Wenngleich damit Hartmut Rosas Beschleunigungsparadigma moderner Gesellschaften (2005) etwas zu sehr als alleinige Letzterklärung für die empirischen Beobachtungen herangezogen wird, diese gar als „Beitrag zum empirischen Nachweis der Thesen Rosas“ (S. 389) verstanden werden, bleibt der konzeptuelle Entwurf, im Alltag und in dessen materiellen Settings sowie in seinen Verwischungen und Adaptionen kritische Stadtforschung zu betreiben, inspirierend. Im Detail erinnern einzelne Beschreibungen etwa der Einrichtungen von Pausenräumen und Büroküchen an Robert Schmidts (2012) Schilderungen der Arbeitspraktiken in der Softwareentwicklung. Wie bei Schmidt wird im Interieur die symbolische Bedeutung und zugleich die auffordernde, materielle beziehungsweise performative Wirkung hervorgehoben: „Die Barhocker in den Büroküchen […] erscheinen in diesem Zusammenhang als Schleudersitze des beschleunigten Berufsalltags. Sie stehen für das beschleunigte Essen am raumverdichtenden Tresen und für den unverbindlichen Verweil, stets in Bereitschaft aufzuspringen.“ (S. 330) Diese nahegelegte Disziplinierung von Esspausen bei der Arbeit kommt im Ergebniskapitel (Kap. 6), das sich mit Zeitregimen und deshalb im Engeren mit Strukturen gegenwärtiger Erwerbsarbeit auseinandersetzt, immer häufiger vor.
Insgesamt festigt sich der Eindruck, dass Arbeitsverhältnisse unsere Essenspraktiken steuern – und dies in privaten wie öffentlichen Räumen. Das „Essen unterwegs“, das die Autorin unter dem Stichwort „transitorische Praktiken“ (S. 328) beschreibt, gibt es zwar schon lange, aber das heißt nicht, dass es sich nicht lohnt, architektur- und stadtsoziologisch heute darüber nachzudenken, wie Essen als essenzielle Alltagspraktik bei der Gestaltung gebauter Umgebungen neu und besser verortet werden kann. Welche Bedeutung kann Alltag für Stadtentwicklung und Stadtgestaltung heute haben? Eine wichtige Rolle zur Aufwertung alltäglicher Praktiken spielen unter anderem zentrumsnahe, nicht kommerzielle Plätze sowie Aufenthalts- und Sitzgelegenheiten im öffentlichen Raum. Ein Beispiel sind die jüngst umgebauten Potsdamer Platz Arcaden in Berlin, die nun unter dem Namen „The Playce“ dazu einladen wollen, zu verweilen und den überdachten Transitraum zu einem Ort zu machen. Nicht kommerzielle Sitzstufen sollen von den Menschen nach Belieben, auch zum Essen, genutzt werden (Hübener 2023). Man wird sehen, ob diese Öffnung für die letztlich kapitalinteressierten Betreiber*innen aufgeht. Eine kurze Recherche beim Deutschen Architektenblatt (DAB) ergibt, dass innerhalb der letzten drei Jahre kein Heft zum Thema „Essen“ erschienen ist, jedoch mehrere zu alltagsnahen, verwandten Themen wie „Arbeiten“ und „Wohnen“.[1] Heftthemen spiegeln Entwicklungen innerhalb von Architektur und Städtebau wider, woraus sich schließen lassen könnte, dass Essen zuletzt nicht im Zentrum stand. Julia von Mendes Studie legt nahe (S. 391), dass sich dies im Dienst einer nachhaltigen und resilienten Quartiers- und Stadtentwicklung jedoch lohnen könnte.