sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2024, 12(1), 149-160

doi.org/10.36900/suburban.v12i1.940

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Vergessene Strukturkritik

Architektin Alice Constance Austins feministische Vision und die Idealisierung der Kernfamilie in den USA im frühen 20. Jahrhundert

Theresa Klingler

1. Alice Constance Austins architektonisch-feministischer Einfluss in der Kolonie Llano del Rio

Als die US-Amerikanerin Alice Constance Austin, eine autodidaktische, feministisch informierte Architektin, 1915 in die Siedler_innenkolonie Llano del Rio in Kalifornien zur Mitwirkung eingeladen wurde, stieß sie auf ein progressives, sozialistisches Umfeld mit starkem Interesse an Formen des egalitären Zusammenlebens, einer fruchtbaren Basis für die Entwicklung feministisch motivierter Architektur. Die Kolonie wurde ungefähr ein Jahr zuvor durch Job Harriman, ein prominentes Mitglied der Sozialistischen Partei der Vereinigten Staaten, gegründet. Harriman hatte nach Wahlniederlagen auf nationaler Ebene und in Los Angeles beschlossen, anstelle einer politischen Karriere seine sozialistische Vision durch die Gründung einer Kolonie auf dem kalifornischen Land in der Nähe von Las Vegas zu verfolgen. Harriman lud Austin ein, als Architektin die baulichen Visionen der mittlerweile einigen Hundert Kolonist_innen zu diskutieren und weiterzuentwickeln.

Die Auseinandersetzung Austins mit den Bewohner_innen Llano del Rios war vielfältig. Sie nutzte hierfür die existierenden Strukturen der stark im lebendigen Austausch miteinander befindlichen Kolonist_innen. Zentral für den politischen Diskurs und die Aushandlung des Zusammenlebens war die wöchentlich veranstaltete „Great Assembly“ der Kolonie, an der alle Kolonist_innen teilnahmen. Unter Austins Anleitung arbeiteten die Mitglieder der Kolonie daran, ihre baulichen Vorstellungen eines idealen Zusammenlebens zu konkretisieren. So entwickelten sie gemeinsam ein Modell für ein Einfamilienhaus, welches ihre gemeinsamen Vorstellungen einer egalitären Gesellschaft widerspiegeln sollte (Hayden 1976: 289; vgl. Abb. 1.1). Bereits 1915 legte Austin konkrete Pläne zur Vision für die Anordnung von Einfamilien-Hofhäusern vor. Skizzen (vgl. Abb. 1.2) dieses Entwurfs finden sich auch in der Korrespondenz einer Kolonistin. Ein weiteres Format des Austausches waren ihre veröffentlichten Artikel in der Rubrik „Building a socialist city“ im Western Comrade, einer in der Kolonie gedruckten, sozialistischen Zeitung. Auch hielt Austin Vorträge an der kolonieeigenen Schule.

Vor allem im Rahmen der intensiven Diskussionen der Great Assembly übte Austin einen wichtigen feministischen Einfluss aus und „führte die Gemeinschaft an, indem sie die Art und Weise kritisierte, in der die politischen Probleme der Frauen durch die Gestaltung der traditionellen Behausungen verstärkt wurden“ (Hayden 1976: 289; Übers. d. A.). In all diesen Formaten des gegenseitigen Austausches in Llano del Rio formte Austin die bauliche Form der egalitären Bestrebungen der Siedler_innen.

Abb. 1.1 Alice Constance Austin diskutiert mit den Kolonist_innen am 1. Mai
					1916 Modelle des Patiohauses (Quelle: Yale Collection of Western Americana, Beinecke Rare Book
					and Manuscript Library)
Abb. 1.1 Alice Constance Austin diskutiert mit den Kolonist_innen am 1. Mai 1916 Modelle des Patio­hauses (Quelle: Yale Collection of Western Americana, Beinecke Rare Book and Manuscript Library)
Abb. 1.2 Skizze von Josephine Miller (1915) der Straßenfassaden von Austins Hofhäusern inkl. Lärmschutzwänden (Quelle: Hayden 1976: 304)
Abb. 1.2 Skizze von Josephine Miller (1915) der Straßenfassaden von Austins Hofhäusern inkl. Lärmschutzwänden (Quelle: Hayden 1976: 304)

2. The next step: Austins Vision der revolutionierten weiblichen Sphäre

Die in und mit der Kolonie erarbeiteten Konzepte und Entwürfe ließ Austin in ihr 1935 erschienenes Buch The next step. How to plan for beauty, comfort, and peace with great savings effected by the reduction of waste einfließen. Die Thesen und Entwürfe ihres Buches widmen sich architektonisch vorrangig der Neugestaltung des Einfamilienhauses als Sphäre der Frau. Ihr Entwurf einer egalitären Stadt sollte „das Grundprinzip der Chancengleichheit für alle betonen“ (Austin zitiert nach Hayden 1976: 288; Übers. d. A.). Sie plädiert für eine bewusste Gestaltung der weiblichen Sphäre, in welcher die Erfüllung der Rolle als Frau leicht und angenehm wäre. Hierbei ist die technische Modernisierung des Hauses ein relevanter Ansatz. Austin fordert, dass die Frau in ihrer heimischen Arbeit ähnliche technische Mittel zur Verfügung haben sollte wie der Mann in seiner produktiven Arbeit außer Haus. Ihre feministische Vision ist die Ebenbürtigkeit der weiblichen reproduktiven Arbeit und des Heims für die Kernfamilie mit den Arbeitsstätten produktiver Arbeit sowie der weiblichen Rolle als Hausfrau und Mutter komplementär zur männlichen Rolle des Hauptverdieners.

In ihrer Arbeit zur Neugestaltung des Heims wendet sie sich mit ihrem in der Kolonie entstandenen Entwurf für ein Hofhaus (vgl. Abb. 2) insbesondere Fragen der Haushaltsführung zu, wobei sie verschiedenste Ansätze vorschlägt. Zum einen empfiehlt Austin technische Verbesserungen der Haushaltsgestaltung, um schwere Hausarbeit zu reduzieren. In ihrem Bestreben, die häusliche Arbeit zu rationalisieren und zu reduzieren, entwirft sie Möglichkeiten, Möbel nach Gebrauch an die Wand zu klappen, sodass sie „vor Staub und Regenschauern geschützt sind“ (Austin 1935: 29; Übers. d. A.) und eine einfachere Reinigung ermöglichen. Auch plädiert sie für die Vermeidung nicht zwingend notwendiger Installationen wie staubfangender Gardinen.

Die Ausformulierung ihres Einfamilienhauses als Patiohaus dient Austin zum anderen vorranging, um die Aufsichtspflicht der Frau über ihre Kinder zu erleichtern. Sie schreibt, „keine amerikanische Mutter [könne] all ihre anderen Pflichten vernachlässigen, um ständig auf Jonny aufzupassen“ (ebd.: 21, Übers. d. A.). Ihre kleineren Alternativen des Patiohauses, sogenannte Halbhäuser oder Endhäuser, sind für Menschen gedacht, „die sich nicht von zu viel Hausarbeit belästigen lassen wollen“ (ebd.: 39; Übers. d. A.). Diese als Hälfte des Patiohauses gedachten Gebäude sind wenig konkretisiert, sollen aber eine höhere Vielfalt an Wohngrundrissen ermöglichen.

Zusätzlich zu diesen auf die Einheit des Einfamilienhauses beschränkten Entwurfsentscheidungen verlagert sie bestimmte häusliche Reproduktionsarbeiten außer Haus. In ihren Entwürfen ist das Hofhaus küchenlos. Die Funktion der Küche wird exemplarisch aus dem Einfamilienhaus, und somit aus den Aufgaben der Hausfrau, ausgegliedert und in einem sogenannten civic center durch Fachkräfte ausgeführt. Die Mahlzeiten sollen, individuell bestellbar, über unterirdische Tunnelsysteme geliefert werden.

Sowohl die Entwurfsentscheidungen für das Patiohaus als auch die Auslagerung und Professionalisierung einiger häuslicher Tätigkeiten zielen auf „eine zivilisierte Familie, die einen zivilisierten Gebrauch von modernem Fortschritt und Effizienz macht“ (Austin 1935: 2; Übers. d. A.). Die häusliche Sphäre verbleibt in Austins Entwürfen allerdings das Arbeitsumfeld der Frau und das Heim der Kernfamilie. Ihre feministische Vision findet sich in der Befreiung der Frau von allzu harter körperlicher häuslicher Arbeit, sodass sich die Frau in erster Linie ihrer von Austin idealisierten Rolle als Mutter widmen kann.

Abb. 2 Grundrissvariante des Hofhauses von Alice Constance Austin, entwickelt in Llano del Rio (Quelle: Austin 1935: 11)
Abb. 2 Grundrissvariante des Hofhauses von Alice Constance Austin, entwickelt in Llano del Rio (Quelle: Austin 1935: 11)

3. Die idealisierte Kernfamilie im US-amerikanischen Feminismus des frühen 20. Jahrhunderts

Alice Constance Austins architektonische Auseinandersetzung mit dem Entwurf des feministisch revolutionierten amerikanischen Heims ist symptomatisch für die Entwicklung feministischer Visionen in den USA im späten 19. sowie im 20. Jahrhundert. Zentrales Thema zu Austins Zeit war die Frage nach der Gestaltung der häuslichen Sphäre für die Frau. Wie Austin folgten auch zahlreiche andere US-amerikanische Architekt_innen ihrer Zeit im Grundsatz der in der US-amerikanischen Gesellschaft weit verbreiteten und naturalisierten Ideologie der Trennung von reproduktiver Arbeit von der Ausübung eines Berufs (als produktive Arbeit). Mit dieser Ideologie ging die binäre Rollenzuschreibung an Mann und Frau sowie die räumliche Zuweisung der Frau in die häusliche Sphäre einher. Diese Trennung der Sphären wurde durch die Etablierung der Kernfamilie als Lebensmodell konstruiert (Guidici 2018: 1205). Somit ist die Kernfamilie die institutionalisierte patriarchale Geschlechterordnung.

Diese Trennung der Sphären von Reproduktions- und Lohnarbeit brachte ein enormes Machtungleichgewicht mit sich. Zum einen, weil die Frau auch in der häuslichen Sphäre keine rechtlichen Entscheidungs­befugnisse hatte, und zum anderen aufgrund der wirtschaftlichen Abhängigkeit von ihrem Mann, da in der häuslichen Sphäre keine Lohnarbeit verrichtet werden sollte. So war „die geschlechtliche Arbeitsteilung […] vor allem ein Machtverhältnis“ (Federici 2004: 115; Übers. d. A.). Den Feminist_innen und feministischen Architekt_innen zu Austins Zeit ging es im Wesentlichen um die Veränderung dieses Machtungleichgewichts durch eine Aufwertung und Vereinfachung der weiblichen Arbeit sowie die Kontrollübernahme der Frau über die ihr zugewiesene Sphäre, das (Einfamilien-)Haus. Diese Haltung war einer Gruppe von Feminist_innen zu eigen, die Dolores Hayden (1976) als material feminists bezeichnet, da sie sich um die Verbesserung der materiellen Umstände der Frau in der weiblichen Sphäre bemühten.

Die material feminists entwickelten architektonische und städtebauliche Modelle für Musternachbarschaften aus Einfamilienhäusern. Neben Austins Gedanken und Entwürfen in The next step existierte beispielsweise Albert Kimsey Owens Vorschlag von Modellfamiliengemeinschaften mit zentraler Küche und Wäscherei, den er 1872 für die Kolonie in Topolobampo (Mexiko) vorschlug. Weitere feministische Einflüsse auf Austin sind ebenfalls in diesem US-amerikanischen Feld der Sozialist_innen und Feminist_innen verortet. Dazu gehörte unter anderem Edward Bellamys utopischer Roman Looking backward 2000-1887 aus dem Jahr 1888, in dem eine sozial gerechte Gesellschaft im Jahr 2000 beschrieben wird, wo Kochen kollektiviert ist und die Einfamilienhäuser küchenlos sind. Ebenfalls einflussreich waren Charlotte Perkins Gilmans feministische Reden, ihr in What Diantha did von 1909 beschriebener Wohnprototyp und ihre Überzeugung, die sie 1898 in Women and economics formuliert, dass zukünftig in küchenlosen Häusern gewohnt werde (Hayden 1982: 183 ff.). Gemeinsam war diesen Feminist_innen zu Austins Zeit die Vorliebe für den Typus des Einfamilienhauses. Flankiert dies durch die politische und wirtschaftliche Förderung von Einfamilienhausvorstädten in den USA (Kern 2020: 31 f.), die zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann, besonders aber nach den beiden Weltkriegen an Dynamik gewann. Einfamilienhaussiedlungen sollten Wirtschaftswachstum in der Baubranche ankurbeln und die gesellschaftliche Ordnung in Kernfamilien manifestieren. Das Einfamilienhaus wurde untrennbar mit dem amerikanischen Traum verwoben (ebd.).

Im Kontrast hierzu widmeten sich auch in den USA architektonische emanzipatorische Bestrebungen des vorherigen Jahrhunderts der Frage nach der Gleichstellung der Geschlechter viel grundlegender durch strukturelle Kritik an der Kernfamilie und ihrer architektonischen Einhausung, dem Einfamilienhaus. Mit Charles Fourier und Robert Owen als wichtigen Bezugspunkten (vgl. Hayden 1982: 6) wurde die Verbindung gesellschaftlicher Ordnung mit dem Raum, also den Disziplinen der Architektur und Stadtplanung, bewusst. So wurde zu dieser Zeit der architektonische Typus eines Hauses als Ergebnis und Generator der sozialen Position und Rolle des Subjekts verstanden (Guidici 2018: 1206). Viele der Utopien demontierten im Laufe des 19. Jahrhunderts die Kernfamilie mit ihrer räumlichen Ausprägung in der Einfamilienhauseinheit. Aufgrund ihrer strukturellen Kritik am räumlichen Fundament fixierter Geschlechterrollen etablierten sie groß angelegte Visionen für gemeinschaftliche Lebensformen. Charles Fouriers Phalanstère von 1808, ein Konzept, das eine ministadtähnliche Großwohnanlage als Grundlage für eine egalitäre Lebensweise propagierte, wurde zum Vorbild für nachfolgende großmaßstäbliche Wohnbauprojekte. Darunter befinden sich 30 Fourier’sche Vereinigungen in den Vereinigten Staaten, beispielsweise die North American Phalanx, die 1843 von Albert Brisbane und Horace Greeley in New Jersey gegründet wurde. Gleichzeitig erschienen Schriften wie der Roman von Marie Howland Papa’s own girl aus dem Jahr 1874, in dem sie ein Leben in einer Wohnanlage nach dem Vorbild der französischen Familistère in Guise beschrieb, einer Weiterentwicklung der gemeinschaftlichen Lebensweise der theoretischen Phalanstère nach Maßstäben reproduktiver Arbeit.

Während prägende feministisch-architektonische Utopien sich im 19. Jahrhundert also insbesondere mit der Veränderung binärer Geschlechterrollen und der eng hiermit verknüpften Institution der Kernfamilie auseinandersetzten, verlagerten sich Austin und Zeitgenoss_innen auf die Verbesserung der Umstände innerhalb der Kernfamilie im Einfamilienhaus.

4. Gelebte Emanzipation in Llano del Rio durch die Loslösung von der Kernfamilie

Obwohl Austins Vision durch die räumliche Manifestierung der limitierenden Kernfamilie die Rolle der Frau fixierte, emanzipierten sich zahlreiche Siedlerinnen in der Praxis in Llano del Rio deutlich mehr, als es Austin später in ihrem Buch dargestellt hat. Allein schon aus finanziellen Gründen war den meisten Siedler_innen in Llano del Rio ein Leben in der Kernfamilie nicht möglich, da sie sich den Bau der entworfenen Patiohäuser oder anderer Einfamilienhäuser nicht leisten konnten. Auch sorgten Umstrukturierungen der Siedlungsstruktur zugunsten besserer Angepasstheit an das Gelände für den Abriss eigentlich als permanent gedachter Strukturen (Clifton 1918: 82). Der Großteil der Bewohner_innen lebte somit in verstärkten Zelten oder einfacheren Strukturen aus Holz und Lehm (Van Bueren 2006: 146), welche zahlreiche Funktionen eines Einfamilienhauses nicht aufnehmen konnten. Der bauliche Standard der Zelthäuser und anderer rudimentärer Behausungen (vgl. Abb. 3.1) ermöglichte den Bewohner_innen somit kein abgesondertes Leben in der Kernfamilie. Stattdessen beruhte das Zusammenleben stark auf der Nutzung gemeinsamer Infrastrukturen. Zu diesen gehörten eine gemeinschaftliche Dampfwäscherei und ein Backofen im Clubhaus sowie gemeinschaftliche Toiletten. Außerdem wurde im Clubhaus ein zentrales, gemeinschaftliches Essen angeboten. Auch Kinderbetreuungseinrichtungen und ein differenziertes Schulsystem für alle Geschlechter nahmen den Frauen einen Teil ihrer häuslichen Arbeit ab. Diese Anstrengungen kollektivierter reproduktiver Arbeit sind „sinnbildlich für die Bemühungen, Hausarbeit und Kindererziehung als weibliche Arbeitsbereiche in den öffentlichen Bereich zu verlagern und als Berufe anzuerkennen“ (Spencer Wood zitiert in Van Bueren 2006: 135; Übers. d. A.). In Llano del Rio arbeiteten „Männer und Frauen […] bei einer Vielzahl von Aufgaben zusammen und fortschrittliche Feministinnen fanden Möglichkeiten, neue Rollen in der Kolonie zu übernehmen“ (Van Bueren 2006: 147; Übers. d. A.). Zur Arbeitsverteilung wandten die Kolonist_innen ein System rotierender Arbeiten an. Dabei wurden Arbeiter_innen jede Woche von einer zentralen Stelle eine neue Aufgabe zugewiesen. Die in der Kolonie von einigen Frauen verrichtete nichttraditionelle Arbeit (vgl. Abb. 3.2), beispielsweise das Tischlerhandwerk, stellte eine emanzipatorische Errungenschaft dar, die in Austins Vision in The next step nicht angedacht war.

Als wichtiges Gegengewicht zu den Tätigkeiten im Haushalt sowie als Ergebnis der Zeitersparnis durch kollektivierte Tätigkeiten wurde im Alltag von Llano del Rio großer Wert auf soziale Aktivitäten wie Orchester, Lesezirkel und sozialistische Debattierclubs gelegt. So konnten sich Siedlerinnen sichtbar am politischen und gesellschaftlichen Leben außerhalb der häuslichen Sphäre beteiligen. Harriman betonte in diesem Zusammenhang die Relevanz gleicher sozialer Chancen für alle (Huxley/Kagan 1972: 141). Ein ausgezeichnetes Beispiel für die – auch spielerische – Überwindung binärer Geschlechterrollen waren die sogenannten Sufragettenbälle, bei denen die Geschlechter Kleidung und Rollen tauschten (Clifton 1918: 84). In der abwesenden Limitierung der Frau auf ein Leben in der Kernfamilie und der nicht umgesetzten baulichen Manifestation des Einfamilienhauses konnten sich die Siedler_innen in Llano del Rio so deutlich weitreichender emanzipieren, als es für die Frau in Austins Entwürfen vorgesehen war.

Abb. 3.1 Blick auf die befestigten Zelte,
					Hütten und Gemeinschaftsgebäude in Llano del Rio, 1915 (Quelle: Lancaster Museum)
Abb. 3.1 Blick auf die befestigten Zelte, Hütten und Gemeinschaftsgebäude in Llano del Rio, 1915 (Quelle: Lancaster Museum)
Abb. 3.2 Frauen in Handwerksberufen in Llano del Rio (Quelle: https://www.atlasobscura.com/articles/the-feminist-architect-who-tried-to-liberate-kitchens-from-houses)
Abb. 3.2 Frauen in Handwerksberufen in Llano del Rio (Quelle: https://www.atlasobscura.com/articles/the-feminist-architect-who-tried-to-liberate-kitchens-from-houses)

5. Infragestellung der Kernfamilie als elementarer Bestandteil feministisch motivierter Planung

Hayden würdigt Austins „Ansatz für die Gestaltung von Wohnungen [als] eindeutig feministisch“ (1976: 300). Ihre feministische Innovation lag darin, durch die Reorganisation der weiblichen Sphäre und die damit verbundene Zeitersparnis der Frau ihre häusliche Arbeit zu erleichtern und mehr Kontrolle über ihre Sphäre zu ermöglichen. Diese Sichtweise von gleichberechtigten, aber überwiegend getrennten Sphären mag egalitär sein, sie lässt aber einen zentralen Aspekt in der Analyse der systematischen Ungleichheit von Frauen außer Acht. Austin war überzeugt, dass „das [Care-]Problem nicht durch einen bloßen Effizienzplan beseitigt werden kann. Aber es muss endlich leichter gemacht werden.“ (Austin 1935: 67) Der Grund für ihre Behauptung, das Problem der reproduktiven Arbeit könne nicht gelöst werden, ist ihr Versäumnis, die strukturelle Problematik der Kernfamilie, des Einfamilienhaushalts und dessen Wechselwirkungen mit der Fixierung der Frau auf die häusliche Sphäre und damit verbundene Rollenzuschreibungen zu hinterfragen.

Das Beispiel von Llano del Rio zeigt, dass dort, wo Siedlerinnen eine egalitäre Wahl ihrer Arbeit sowie den Raum für gesellschaftliche Sichtbarkeit erobern konnten, dies durch die Überwindung ihrer häuslichen Rolle und das Verlassen ihrer häuslichen Sphäre im Kernfamilienverbund geschah. In der Betrachtung der tatsächlichen emanzipatorischen Errungenschaften der Siedler_innen im Vergleich zur Rollenfixierung der Frau in The next step wird deutlich, wie zentral die Bedeutung der Dekonstruktion der Kernfamilie sowie ihrer architektonischen Manifestation im Einfamilienhaus ist. In diesem Sinne hat die Entwicklung feministischer Konzepte – von revolutionären Großformen (wie der Phalanstère) hin zu modellhaften Einfamilienhaus-Nachbarschaften (wie Austins Konzepte in The next step) –wenig zum Ziel eines egalitären Miteinanders beigetragen. In der Schaffung eines gleichberechtigten Miteinanders zeigen Konzepte wie die Phalanstère und das Zusammenleben der Siedler_innen Möglichkeiten jenseits der Kernfamilie auf. Austins Konzepte sowie die ihrer Zeitgenoss_innen lehren die Vorsicht vor dem Verlust struktureller Kritik an der Kernfamilie.