sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung2023, 11(3/4), 7-16

doi.org/10.36900/

suburban.v11i3/4.946

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0

Editorial

Liebe Leser_innen,

Pinselstrich für Pinselstrich, Meter für Meter, bemalt die Person auf der Titelseite dieser Ausgabe Betonpoller auf einem Gehweg mit roten Warnstreifen. Sie dienen als Sockel einer Mauer aus Wellblech, die zur Hälfte die Sicht auf die dahinterliegenden Container (ebenfalls aus Wellblech) versperrt. Die Person sitzt vornübergebeugt auf einem Schemel aus Holz, die Betrachter_in sieht nur ihren Rücken. Die Szene wirkt streng, bedrückend und wirft die Frage auf, ob die Person freiwillig dort sitzt – freiwillig dort zu der Grenzziehung beiträgt, die die Streifen unweigerlich betonen. Gleichzeitig entsteht der Eindruck einer alltäglichen Situation, einer banalen Handlung, die im Vorübergehen fotografiert wurde. Die fotografierte Szene symbolisiert in vielerlei Hinsicht jene inhärenten Spannungsfelder autoritären Urbanismus, die wir in diesem Themenheft in den Vordergrund rücken wollen:

Diese Spannungsfelder nehmen Kristine Beurskens und Gala Nettelbladt gemeinsam mit Daniela Zupan, der Gastherausgeberin des Themenschwerpunkts in diesem Heft, in den Blick. Sie fragen: (Ab) wann sind städtische Dynamiken und Prozesse autoritär? Wie manifestiert und materialisiert sich Autoritarismus in und durch Städte? Und was bedeutet Widerstand im Kontext von autoritärem Urbanismus?

Die Untersuchung autoritärer Dynamiken und insbesondere ihrer Wirkungsweisen in Politik und Gesellschaft ist eine dauerhafte Forschungsaufgabe. In den vergangenen Jahren verstärken zunehmende antidemokratische Tendenzen die Dringlichkeit, dieses Zusammenspiel zwischen Autoritarismus und dem Urbanen besser zu verstehen. Verschiedene Bereiche der Stadtforschung nehmen sich zunehmend der Aufgabe an, die Ausprägungen von Autoritarismus und seiner Verbindungen mit städtischen Kontexten zu analysieren. Mittlerweile ist weitgehend anerkannt, dass der Begriff autoritärer Urbanismus ein zeitlich wie räumlich äußerst differenziertes Phänomen beschreibt: Die Materialisierungen und Produktionsbedingungen staatssozialistischer, faschistischer und nationalsozialistischer Stadtentwicklung, die inzwischen global dokumentierte Aushebelung demokratischer Entscheidungsprozesse durch neoliberale Governance-Arrangements, Stadtdiskurse und Austeritätsmaßnahmen, die Verbreitung sogenannter illiberaler städtischer Politiken oder die Freilegung rechtspopulistischer städtischer Geographien in den USA und Mittel- und Osteuropa sind nur einige Beispiele für Auseinandersetzungen mit autoritärem Urbanismus. In unserem Themenschwerpunkt möchten wir bestehende Debatten um bisher vernachlässigte Aspekte innerhalb der eingangs skizzierten Spannungsfelder bereichern.

Die Beiträge in diesem Heft verdeutlichen angesichts ihrer meist aktuellen Fallbeispiele die gegenwärtige Dringlichkeit von Fragen zum autoritären Urbanismus. Gleichzeitig heben sie eine große Spannbreite an Verständnissen dieses autoritären Urbanismus hervor. Diese umfassen die vielfältigen Weisen der Mobilisierung stadtpolitischer Fragen zur Stabilisierung und Aufrechterhaltung autoritärer Regime ebenso wie vielfältige autoritär-illiberale Praktiken innerhalb demokratischer Systeme. Die behandelten Themen reichen von Politiken und Instrumenten der Landenteignung über staatliche Wegweisungspraktiken im öffentlichen Raum, die Umsetzung städtischer Großvorhaben oder symbolträchtige Reinszenierungsprojekte bis hin zu Praktiken des Versuchs, die Mitgestaltung eines Lebensumfeldes durch dessen Bewohner_innen zu unterbinden.

Es fällt auf, dass fast alle Beiträge Austerität und autoritären Neo­liberalismus als den zentralen Nährboden für autoritären Urbanismus diskutieren. Nichtsdestotrotz scheinen zentrale Akteure und Mechanismen eines autoritären Urbanismus innerhalb dieses Feldes wiederum vielseitig zu sein, ebenso wie deren Instrumente und Arbeitsweisen. Sie lassen sich nicht vereinfachend auf Austeritätspolitiken im autoritären Gewand beschränken. So werden staatliche Akteure genannt, insbesondere nationalstaatliche Autoritäten, zum Teil inklusive Staatsoberhäupter selbst, aber auch nicht staatliche Akteure wie internationale oder ausländische Investor_innen, lokale und internationale Unternehmen oder Clans. Nicht zuletzt rücken zivilgesellschaftliche Akteure wie Neonazis und andere reaktionäre Gruppen in den Blick. Einige Beiträge arbeiten die ausschlaggebende Wirkung aktiver Kooperationen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren bei autoritären Phänomenen heraus – und sei es einfach in Form des Gewährenlassens oder der diskursiven Herstellung bestimmter Normalitäten. Die Vielfalt der Beiträge zeigt auch, dass autoritärer Urbanismus als globales, regimeübergreifendes Phänomen angesehen werden muss: Die Aufsätze des Schwerpunkts umfassen Beispiele aus Belgrad (Serbien), Budapest (Ungarn), Bangalore und Amravati (Indien), Rio de Janeiro (Brasilien), Addis Abeba (Äthiopien) und Orten in der Schweiz und in Deutschland. In der Debatte wird diese Zusammenstellung erweitert um Beispiele aus der Türkei, Georgien, Russland und weiteren Ländern Lateinamerikas.

Der Beitrag von Daniela Zupan setzt sich auf konzeptioneller Ebene mit der Gegenwärtigkeit und Genese des Forschungsfeldes autoritärer Urbanismus auseinander. Die Autorin beleuchtet, wie autoritärer Urbanismus im Laufe der Zeit verstanden und beforscht wurde. Dabei arbeitet sie verfestigte Vorannahmen und normative Zuschreibungen bei der Beschäftigung mit autoritärem Urbanismus heraus. Sie macht deutlich, wie diese entstanden sind und wie sie Debatten seither beeinflussen. Abschließend diskutiert Zupan, inwiefern diese Setzungen einem besseren Verständnis von autoritärem Urbanismus entgegenstehen. Urbane Großprojekte stehen bekanntlich in der Kritik, demokratische Verfahren zu umgehen und autoritären Praktiken Vorschub zu leisten. Während diese Aspekte in westlich-liberalen demokratischen Kontexten bereits umfassend erforscht wurden, lenken die zwei Beiträge von Nebojša Čamprag und Marcell Hajdu den Blick auf aktuelle Logiken der Stadtentwicklung durch Großprojekte im postsozialistischen Europa. Mit Serbien und Ungarn nehmen sie zwei Kontexte in den Blick, die seit rund anderthalb Jahrzehnten von massiven Autokratisierungstendenzen geprägt sind – von Entwicklungen, die auch den kontextuellen Bezugs­rahmen der analysierten Vorhaben bilden. Čamprag rekonstruiert das viel diskutierte Projekt „Belgrade Waterfront“, während Hajdu drei zentrale Umbauprojekte in der ungarischen Hauptstadt Budapest betrachtet. Beide Autoren verstehen die von ihnen untersuchten Projekte nicht nur als Ausdruck, Verstärker und teilweise Radikalisierung einer autoritär-neoliberalen Form der Stadtproduktion, sondern auch als aktive Instrumente zur Nationenbildung und zur Stabilisierung der jeweiligen autoritär-illiberalen Regime.

Nicht selten geht dem Bau neuer Städte, von Smart Cities, Gated Communities oder großräumiger Verkehrsinfrastrukturen eine Ent­eignung von Land sowie eine Umwandlung von Agrar- in Bauland voraus. Mit den Politiken und Instrumenten der Landenteignung im heutigen Indien setzt sich Michael Schwind anhand von Fallstudien zur „Bidadi Smart City“ in der Metropolregion Bangalore und in Amravati, der geplanten neuen Hauptstadt des Bundesstaates Andhra Pradesh auseinander. Seine Analyse der Neuordnung der Enteignungspolitik im Zuge des antidemokratischen Wandels in Indien unter Premierminister Narendra Modi seit 2014 diagnostiziert eine Vertiefung neoliberaler Raumproduktion und deren gleichzeitige Verknüpfung mit hindunationalistischer Ideologie. Schwind zeigt, dass für die Enteignung landbesitzender Agrargruppen zunehmend Technologien des Regierens eingesetzt werden, die eine Ausweitung von Zwang mit einer ideologischen Bindung in Form einer partnerschaftlichen Erzählung an das Schicksal der Nation verknüpfen.

Während sich die Beiträge von Čamprag, Hajdu und Schwind mit Ausprägungen und Arbeitsweisen von autoritärem Urbanismus in massiv autoritären Kontexten beschäftigen, lenkt Esteban Piñeiros Artikel den Blick auf autoritäre Praktiken in liberalen Demokratien. Sein Beitrag rekonstruiert die Entwicklung von Wegweisungspraktiken in öffentlichen Räumen und deren zunehmende Auf- und Ausweitung in Schweizer Kommunen. In deren Zuge wird die Arbeit der Polizei zunehmend von nicht-polizeilichen Ordnungsdiensten flankiert. Anhand einer vergleichenden Analyse der Interventionsqualität und der Legitimationsbasis polizeilicher und nicht-polizeilicher Wegweisungspraktiken kommt der Autor zu dem Schluss, dass beide Formen als Ausprägungen eines autoritären Urbanismus verstanden werden können.

Orlando Santos Junior, Filipe Corrêa und Juciano Rodrigues nehmen den konservativen Rechtsruck in Brasilien zum Ausgangspunkt. Basierend auf Analysen des Wahlverhaltens in der Metropolregion Rio de Janeiro stellen sie die These auf, dass Parapolizeigruppen (sogenannte milícias) für die Wahlgeographien der vergangenen Jahre mitverantwortlich sind. Diesen auf unterschiedlichen Praktiken der territorialen Kontrolle des Wahlverhaltens sowie der Verbreitung rechtsradikaler und konservativer Werte durch bewaffnete Gruppen fußenden Einfluss der milícias zeigen die Autoren insbesondere für einkommensschwache Nachbarschaften. Günter Gassner befasst sich in seinem Aufsatz mit Widerstand gegen Autoritarismus, indem er dem Konzept eines „Revolutionären Antifaschismus“ nachspürt, um räumliche Prozesse zu untersuchen, die sich einer autoritären Stadt verweigern. Anhand antifaschistischer Broschüren und Flugblätter aus dem Berlin der 1990er Jahre konzipiert er die Idee eines antifaschistischen Stadtplans. Dieser lässt sich nicht auf einen Kampf gegen Nazis reduzieren. Vielmehr entwickelt Gassner einen Revolutionsbegriff, der die Systemüberwindung als kontinuierlichen und pragmatischen Prozess versteht. Dies ermögliche einen Raumbildungsprozess, der sich grundsätzlich von einer faschistischen Raumorganisation unterscheidet.

Autoritäre Praktiken und Verhältnisse bleiben vielerorts nicht ohne Gegengewicht. Dabei ist das Phänomen Widerstand alles andere als eindeutig fass- und beschreibbar. Entsprechend vielfältig sind die Formen der Kritik an gegenwärtigen und vergangenen Ausprägungen von autoritärem Urbanismus. Mit der Frage: „Was heißt hier Widerstand?“ haben Kristine Beurskens und Gala Nettelbladt gemeinsam mit Matthias Naumann und Daniela Zupan eine Debatte angestoßen und verschiedene Forscher_innen zu Kommentaren eingeladen. Bewusst kommen dabei neben klassischen Praktiken des offenen Protests auch weniger beforschte Praktiken zu Wort. Kirsten Angermann diskutiert etwa Widerstand mit und durch Architektur in der späten DDR. Felicitas Kübler fasst Literaturen des Erinnerns an autoritäre Raumnahmen und rechte Gewalt als widerständige Praxis. Was als Widerstand verstanden werden kann, – darin sind sich die Autor_innen der Debattenbeiträge einig – kann nur aus dem jeweiligen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Kontext heraus verstanden werden. Auch Alke Jenss betont in ihrem Beitrag, wie unterschiedlich die individuellen und kollektiven Bedingungen und Handlungsoptionen sowie die lokalen und nationalen (Un-)Möglichkeitsstrukturen sind, in denen widerständiges Handeln Raum und Ressourcen finden kann. Die Kommentare eröffnen diesbezüglich in ihrer Vielfalt einige interessante Parallelen, wenn etwa Urszula Ewa Woźniak und Tuba İnal-Çekiç in ihrem Beitrag zu Istanbul und Berlin ähnliche Muster autoritären Urbanismus sowie des Widerstand gegen diesen diskutieren. Doch es werden auch einige vielleicht unerwartete und räumlich unterschiedliche Geographien des lauten beziehungsweise leisen Widerstands sichtbar. In Andrei Semenovs Beitrag zu aktuellen Entwicklungen in russischen Städten finden sich offene, laute Formen des Widerstands gegen Nachverdichtungsmaßnahmen. Dagegen thematisieren Leon Rosa Reichle und Peter Bescherer in ihrem Debattenbeitrag das Verschweigen von systemischem Rassismus in Gera sowie die scheinbar unüberwindbaren Schranken, denen sich Widerstand gegenübersieht. Dass neben dem räumlichen Kontext auch die Frage bedeutsam ist, wogegen sich Widerstand formiert, zeigt auch Sören Becker, der herausarbeitet, wie die materiell-institutionelle Beschaffenheit urbaner Infrastrukturen selbst zur Hürde für Widerständiges werden kann. Lela Rekhviashvili beleuchtet in ihrem Beitrag zu sozialen Mobilisierungen in Georgien schließlich einen weiteren wichtigen Aspekt, indem sie die Bedeutung von Klassenzugehörigkeit und sozialer Differenz für die (Un-)Möglichkeiten für Widerstand diskutiert. Insgesamt zeigen die Autor_innen der Debattenbeiträge anschaulich die Unschärfen und Ambivalenzen, Mischformen und Facetten von Widerstand auf. Sie tragen damit über den Kontext urbanen Autoritarismus hinaus zu einer Differenzierung der Konzepte von Widerstand bei.

Auch zwei Magazinbeiträge gehören zum Themenschwerpunkt. Rony Emmenegger und Asebe Regassa diskutieren am Beispiel des Umbaus des Kaiserpalastes in Addis Abeba, wie der städtische Raum zur Legitimierung der Herrschaft des äthiopischen Premierministers Abiy Ahmed mobilisiert wird. Der Beitrag von Lilla Kammermann, Enikö Zöller und Sebastian Martini beleuchtet, wie ein ursprünglich zur Umsetzung komplexer EU-geförderter Projekte eingeführtes Instrument im ungarischen Planungssystem mittlerweile von Victor Orbáns Regierung dazu eingesetzt wird, die lokale Planungshoheit systematisch zu umgehen.

Vier Rezensionen runden den Themenschwerpunkt ab. Leonie Stoll rezensiert den von Daniel Mullis und Judith Miggelbrink 2022 herausgegebenen Sammelband Lokal extrem Rechts. Analysen alltäglicher Vergesellschaftungen. Sie sieht den Band in inhaltlicher, theoretisch-konzeptioneller und methodischer Hinsicht als ebenso politisch relevanten wie wissenschaftlich bedeutsamen Beitrag zur räumlichen Analyse demokratischer Regression im deutschen Kontext an. Victoria Grau bespricht mit Spatializing authoritarianism, 2022 herausgegeben von Natalie Koch, einen weiteren thematisch einschlägigen Sammelband. Sie hebt insbesondere den interdisziplinären und internationalen Charakter des Buches hervor, das sie besonders produktiv für die Auseinandersetzung mit räumlichen Dimensionen von Autoritarismus in heutigen Gesellschaften findet. Börries Nehe und Gustavo Robles diskutieren den 2020 von Ian Bruff und Cemal Burak Tansel herausgegebenen Sammelband Authoritarian neoliberalism: Philosophies, practices, contestations. Ausgehend von aktuellen Entwicklungen schlagen sie eine differenziertere Sub-Periodisierung des autoritären Neoliberalismus vor. Jannik Noeske stellt in seiner Rezension zwei planungshistorische Werke zur Rolle des Städtebaus in Diktaturen vor: das von Birgit Knauer verfasste Werk Gesunde Stadt. Die Assanierung der Stadt Wien (1934-1938) von 2022 und die im selben Jahr 2022 erschienene Neuauflage des erstmals 2011 von Harald Bodenschatz herausgegebenen Sammelbandes Städtebau für Mussolini. Auf der Suche nach der neuen Stadt im faschistischen Italien. Noeske hält fest, dass beide Werke die Relevanz und Produktivität städtebaulicher Betrachtungsweisen für gesellschaftspolitische Analysen zeigen.

Neben dem Themenschwerpunkt hat auch dieses Heft wie gewohnt einen offenen Teil. Anlässlich des Todes von Mike Davis im Oktober 2022 haben wir eine Debatte zum Kapitel „Fortress L.A.“ aus seinem Buch City of Quartz – Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles von 1990 organisiert. Das Buch erschien 1994 in deutscher Übersetzung in einem kleinen linken Verlag. Mit unserer Debatte möchten wir an die wichtigen Impulse erinnern, die seither von Davis’ Perspektiven auf die kritische Stadtforschung ausgehen. Dabei waren (und sind) die sozialräumlichen Verwerfungen, die Davis anhand von Los Angeles beschrieb – wie die Inwertsetzung und Privatisierung des öffentlichen Raums und dessen zunehmende Überwachung und Kontrolle – auch für eine Kritik hiesiger Stadtpolitik hochgradig anschlussfähig. Sowohl City of Quartz als auch Davis‘ spätere Bücher Ökologien der Angst (1999) und Planet der Slums (2007) können mittlerweile als Klassiker gelten, die Generationen kritischer Stadtforschender stark geprägt haben. Bemerkenswerterweise hat City of Quartz bis heute nichts an seiner analytischen und sprachlichen Kraft eingebüßt. Es erweist sich weiterhin als ungemein aktuell und inspirierend. All dies ist Anlass genug, diesen Text und seinen Einfluss für die deutschsprachige Stadtforschung und -bewegung ins Zentrum einer Debatte in unserer Reihe „Altes neu gelesen“ zu stellen. Den Einstieg bildet das erwähnte Kapitel „Festung L.A.“ (2006 [1990]), das wir dank der freundlichen Genehmigung des Verlags Assoziation A erneut veröffentlichen können. Roger Keil erinnert sich in einem sehr persönlichen Beitrag an seine frühen Begegnungen sowie an verschiedene Konstellationen des großzügigen Austauschs mit Mike Davis. Keils Beitrag erschien zuerst im kanadischen Magazin Azure und wurde vom Autor für diese Debatte übersetzt. Die breite deutschsprachige Rezeption von Davis’ Thesen ist auch dem Verlag Assoziation A zu verdanken, der mittlerweile noch viele weitere seiner Bücher übersetzte und veröffentlichte. In einem Gespräch schildert Rainer Wendling die Beweggründe für die damalige Verlagsentscheidung sowie den Einfluss von Mike Davis auf stadtpolitische Debatten und Kämpfe in Deutschland. Stefan Lanz nimmt diesen Faden in seinem Beitrag auf und geht den vielfältigen Wirkungen von Davis’ Analysen in Frankfurt am Main und Berlin in der zweiten Hälfte der 1990er und den frühen 2000er Jahren nach. Er zeigt, wie zwischen Wissenschaft, Aktivismus und Kulturszene eine kollaborative urbane Praxis aufkeimte, die für einige Jahre viele Personen prägte. Sina Brückner-Amin reflektiert in ihrem Beitrag Davis’ Bedeutung für die Architekturwissenschaft und das Schreiben über Los Angeles. Sie stellt Davis den Autor Reyner Banham gegenüber, der in der Architekturszene ähnlich für Los Angeles bekannt ist, jedoch gänzlich anders argumentiert. Abschließend zeigt Katja Schwaller in ihrem Beitrag anhand der aktuellen Entwicklung San Franciscos, wie produktiv und inspirierend Davis‘ Analysen stadträumlicher Polarisierung und Ausgrenzung noch drei Jahrzehnte später sein können. Schaller analysiert in ihrer reich bebilderten Analyse der Inszenierung halb-öffentlicher Stadträume durch die großen Technologiekonzerne eindrucksvoll, dass diese Dynamiken dank der im Hintergrund ablaufenden Dateninfrastruktur heute oft subtiler ablaufen als im Los Angeles der 1990er Jahre.

Ein Magazinbeitrag und eine Rezension beschließen das Heft: Jakob Holzer geht in seinem Magazinbeitrag zu einem Wohnungsbau­programm für in den 1990er Jahren aus Deutschland in die GUS-Staaten zurückkehrende sowjetische Soldaten der spannenden Frage nach, inwieweit die in dem vom Westen unterstützen Siedlungsentwicklungen dem Leitbild der sozialistischen Stadt zugeordnet werden können. Dabei untersucht er mit einem erweiterten Verständnis von Infrastrukturen die gesellschaftlichen Werte, die in den Bedingungen, Elementen und Einrichtungen der Siedlungen zum Ausdruck kommen. Teresa Huhle rezensiert für uns die Dissertation von Antonio Carbone, die die Cholera- und Gelbfieber-Epidemien im Buenos Aires der späten 1860er und frühen 1870er Jahre untersucht und die urbanen Entwicklungen und Veränderungen analysiert, die sich in dieser Periode ereigneten. Huhle ordnet Carbones Studie in die aktuelle Debatte über Pandemien und ihre Auswirkungen ein. Als zwei Schwerpunkte der Arbeit benennt sie zum einen die Praxen des Imaginierens und der Planung von Stadträumen sowie zum anderen die konflikthaften Beziehungen zwischen der lokalen Oberschicht und dem in dieser Zeit schnell wachsenden migrantischen Proletariat.

Diese Ausgabe ist wieder ein sehr ansehnliches und ebenso umfangreiches Doppelheft geworden. Zum ersten Mal publizieren wir zwei Doppelhefte in einem Jahrgang. Und noch nie haben wir in einem (Doppel-)Heft vier Übersetzungen veröffentlicht. Wir danken Sociotrans für die zuverlässige und sorgfältige Zusammenarbeit. Und wir bedanken uns bei unseren tollen Lektor_innen Lars Breuer und Katrin Viviane Kurten für das gute Lektorat und die freundliche und flexible Zusammenarbeit. Nicht zuletzt danken wir auch unserer neuen Setzerin Cibele Kojima de Paula für den gelungenen Einstieg in die gemeinsame Arbeit. Und natürlich danken wir allen Autor_innen und Gutachter_innen, die an der Erarbeitung dieses Heftes beteiligt waren.

Wir wünschen eine inspirierende Lektüre!

Herzliche Grüße,

die Redaktion von n

Kristine Beurskens, Laura Calbet i Elias, Nihad El­Kayed, Nina Gribat, Stefan Höhne, Johanna Hoerning, Jan Hutta, Michael Keizers, Yuca Meubrink, Boris Michel, Gala Nettelbladt, Lucas Pohl, Nikolai Roskamm, Nina Schuster, Lisa Vollmer mit Daniela Zupan als Mitherausgeberin des Themenschwerpunkts.