Während wir in Städten derzeit die Aufrüstung der Polizei erleben, problematisieren zivilgesellschaftliche Akteur_innen die Polizei als ausführende Institution rassistischer Nekropolitik. Forensic Architecture, eine interdisziplinäre Forschungsagentur, hat sich darauf spezialisiert, marginalisiertes Wissen über Gewaltereignisse durch die Analyse visueller und audiovisueller Artefakte zu validieren und alternative Deutungen als Evidenz zu produzieren. Dieser Aufsatz untersucht mittels des Fallbeispiels Hanau, wie der Akteur eine gegenöffentliche Perspektive auf die polizeiliche Handhabung des Anschlags in Hanau herstellt. Ich werde zeigen, dass Forensic Architecture in der Untersuchung zwischen politischer Positionierung und positivistischer Beweisführung vermittelt. Während die Betroffenenperspektive den politischen Rahmen der Untersuchung bildet, wird Evidenz hochgradig positivistisch hergestellt. Zentral ist bei der Herstellung von Evidenz eine neue Form von Objektivität durch Raum, die ich als spatial objectivity bezeichne. Das Fallbeispiel ist damit ein paradigmatisches Beispiel für die Art und Weise, wie in der Spätmoderne durch technisierte und mediatisierte Prozesse politische Kritik an urbaner Nekropolitik geübt wird.
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Während wir derzeit in Städten die Aufrüstung der Polizei erleben (Naplava 2020), hinterfragen zivilgesellschaftliche Akteur_innen lautstark die gesellschaftliche Ordnungspolitik der Polizei (Loick 2018; Thompson 2020; Thompson/Supik 2022: 154 ff.). Sie problematisieren overpolicing, Polizeigewalt, racial profiling sowie die Bagatellisierung rechter Gewalt und thematisieren so die Polizei als ausführende Institution rassistischer Nekropolitik (Thompson 2022a). Oblag bisher die Deutungshoheit über polizeiliches Handeln überwiegend der staatlichen Institution selbst, erlangt die Zivilgesellschaft durch visuelle Technologien neue mediengestützte Agency in der Verhandlung von Gewalttaten (Thompson 2005: 31). Dies verdeutlichen unter anderem die Black-Lives-Matter-Bewegung (Thurston 2018) und die Proteste infolge des Mordes von Nahel Merzouk in dem Pariser Vorort Nanterre. Akteur_innen wie Forensic Architecture (FA), die darauf spezialisiert sind, visuelle Daten zu verifizieren und zu synthetisieren, nehmen innerhalb der öffentlichen Aushandlung polizeilichen Handelns in Städten eine besondere Rolle ein. An der Schnittstelle von Wissenschaft, Kunst und Zivilgesellschaft verschreiben sie sich einer neuen gegenöffentlichen Form der Beweisführung. In ihren Analysen untersuchen sie staatliche Handlungsmacht, weisen bei konkreten Ereignissen staatliches und polizeiliches Fehlhandeln nach und legitimieren so die Perspektive der Marginalisierten.
Ein Beispiel einer solchen Beweisführung ist FAs Rekonstruktion des Polizeieinsatzes in Hanau. Am 19. Februar 2020 um ca. 22 Uhr erschoss ein Rechtsterrorist in Hanau innerhalb von zwölf Minuten neun migrantisierte Personen. Obwohl die Polizei eine Stunde nach der Tat das Fahrzeugkennzeichen des Täters identifiziert, vergehen weitere vier Stunden, bis der Täter, der inzwischen bereits Selbstmord begangen hat, von der Polizei aufgefunden wird. Weitere Missstände bezüglich des Polizeieinsatzes, zum Beispiel unbeantwortete Notrufe, die Mitgliedschaft von zwölf am Einsatz beteiligte_r Polizeibeamt_innen in einer rechtsextremen Chatgruppe oder auch der rassistische Umgang der Behörden mit den Angehörigen der Opfer, werden von der betroffenen[1] Community und der Zivilgesellschaft publik gemacht. Sie sehen die Ursache für das polizeiliche Versagen (der fehlenden Prävention, der misslungenen Reaktion und der fehlenden Aufklärung) rund um die Tat in Hanau im Rassismus der deutschen Behörden begründet und thematisieren damit implizit die Vollzugswirklichkeit von Nekropolitik. Da die Staatsanwaltschaft nur unzureichend den Aufklärungsaufforderungen der Betroffenen nachkommt, wird FA beauftragt, den Polizeieinsatz in Hanau zu untersuchen. Ausgehend von den Missständen und offenen Fragen bezüglich des Einsatzes, geht FA mit Rückgriff auf vielfältige Daten (u. a. Videos, Zeugenaussagen, Satellitenbilder, Polizeireports) und durch verschiedene visuelle und räumliche Methoden der Frage nach, wie der Polizeieinsatz vor Ort tatsächlich ablief. Ergebnis sind zwei Videos, in welchen FA darstellt, wie sie zu ihren Ergebnissen gelangt sind. Dieser Aufsatz diskutiert die Ergebnisse einer qualitativen Fallanalyse, bei welcher die Videoartefakte von FA sinnverstehend rekonstruiert wurden. Perspektiven der Science and Technology Studies und der Raumsoziologie vereinend, gehe ich der Frage nach, wie FA in den Ergebnisvideos zum Fall Hanau eine gegenöffentliche Perspektive auf den Polizeieinsatz in Hanau herstellt.
Der Aufsatz beginnt mit der Einordnung nekropolitischer urbaner Regierungspraxis, wobei ein besonderer Fokus auf die Bedeutung von Un_Sichtbarkeit in der Verhandlung von Nekropolitik gelegt wird (2.). Danach wird die Arbeit von Forensic Architecture vorgestellt und diskutiert (3.). Anschließend wird der Fall Hanau betrachtet, in das empirische Material eingeführt (4.) und das methodische Vorgehen kurz dargelegt (5.). Anhand der Analyse des empirischen Materials werde ich zeigen, dass FA einerseits eine politische Positionierung vornimmt (6.) und andererseits objektive Evidenz herstellt (7.). Abschließend lege ich dar, wie FA durch die Dialektik von politischer Positionierung und positivistischer Beweisführung eine gegenöffentliche Perspektivierung nekropolitischer Polizeiarbeit vollzieht (8.).
Beschäftigen wir uns mit dem Zusammenhang von staatlicher Herrschaft und Rassismus aus postkolonialer Perspektive, bietet uns Achille Mbembes Konzept von Nekropolitik eine wertvolle theoretische Grundlage. Mbembe fasst Nekropolitik als die verräumlichte Herrschaftspraxis über Leben und Tod, welche über die Definition des Fremden existenzielle Ausschlüsse produziere (Mbembe 2003). Souveränität konstituiere sich in der Macht und Fähigkeit zu bestimmen, wer zu leben, zu sterben oder dem Tod nahe zu leben habe (living dead; ebd.: 11). Zentral sei die Herstellung und Durchsetzung verschiedener Rechte für unterschiedliche Gruppen innerhalb des gleichen Raumes (ebd.: 26). Damit deutet sein Konzept eine Bedeutungsverschiebung an, die die Frage des Politischen durch die Produktion von Raum denkt. In der internationalen Diskussion wird, der postkolonialen Herrschaftskritik Mbembes folgend, das politische Verfügen über Leben und Tod durch Polizei und Sicherheitspersonal überwiegend an/in Grenzräumen – Außengrenzen (u. a. Talbayev 2023), Flüchtlingslagern (u. a. Davies/Isakjee/Dhesi 2017) und Gefängnissen (u. a. Broadfield/Dawes/Chong 2021) – untersucht. Da die zwei Modalitäten der Macht, Leben zu schaffen und sterben zu lassen, integral in liberal-demokratische Staatsordnungen eingeschrieben sind (Davies/Isakjee/Dhesi 2017: 1268), gilt es jedoch darüber hinaus, Nekropolitik als alltägliche urbane Ordnungspraxis in komplexen und vielfältigen Orten und Räumen – in Städten – zu analysieren. Dabei rückt die urbane nekropolitische Regierungspraxis, welche maßgeblich über die Intersektionen von (rassifizierten) Körpern, kriminalisierten Räumen und staatlicher Gewalt agiert, in den Blick (Alves 2014: 324). Obwohl nekropolitische Regierungsformen in Deutschland historisch verankert sind, kommt die wissenschaftliche Debatte darüber hier erst in Gang (u. a. durch Banita 2023; Loick/Thompson 2022; Haritaworn 2021; Thompson 2022b; Thompson/Supik 2022). Und auch, wenn es in der kritischen Stadtforschung einige Untersuchungen gibt, die sich mit Raum, Kriminalisierung und sozialen Kategorisierung auseinandersetzen (Belina 2023; Hunold/Brauer/Dangelmaier 2023; Kotzur 2023), fehlt es zumeist (mit wenigen Ausnahmen: Keitzel 2024) an der konsequenten Beachtung postkolonialer Verschränkungen und Kontinuitäten (Müller 2014). Ferner gibt es bisher keine Arbeit, die sich mit der Aushandlung urbaner Nekropolitik beschäftigt. Dabei, so argumentiere ich, ermöglicht die Betrachtung der Aushandlung, die dem Konzept der Nekropolitik zugrunde liegende Binarität von Leben und Tod aufzubrechen. Es ist gerade der Blick auf das Dazwischen von Leben und Tod, von Fremdherrschaft und Selbstbestimmung, welcher weitere Ausarbeitung verlangt. Der hier vorgeschlagene Begriff des Dazwischens schließt an das postkoloniale Konzept der Luminalität an. Luminalität beschreibt einen Ort, in welchem kontinuierlich Bewegung und Austausch stattfindet und Wandel möglich ist (Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2008: 117). Anstatt Nekropolitik als determinierende Machtformation einzuordnen, eröffnet die Perspektive des Dazwischens, sich jenen Praktiken zuzuwenden, die im Angesicht des Todes und des Sterbens alltägliche urbane Nekrorealität herausfordern.
Da die Unsichtbarmachung der Gewalt ein Schlüsselelement der gouvernementalen Gewaltformation ist (Varman/Srinivas 2023: 4), steht die Sichtbarmachung von Nekropolitik im Zentrum dieser Auseinandersetzung. Dabei werden sowohl die Unsichtbarkeit von Gewaltakten (Handlungen) als auch die Unsichtbarkeit gewaltvoller Erfahrungen (Subjekte) problematisiert. Tod wird nicht nur als physische, sondern auch als soziale und politische Wirklichkeit behandelt (Flacks 2020: 389). Sichtbarmachungspraktiken sind damit stets politische Wissensproduktionen, bei denen gilt, was bereits Edward Said in Anlehnung an Michel Foucault schreibt: Wissen über etwas zu produzieren bedeutet, es zu dominieren und darüber Autorität zu besitzen (Said 2003: 32). Da staatliche Wissensproduktionen marginalisierte Erfahrungen und Perspektiven verschleiern, verläuft die Infragestellung nekropolitischer Regierungspraxis entlang einer Spurensuche, welche die Gewalt des Staates oder die Gewalt, die der Staat zu verdecken versucht, nachzeichnet (Fonseca/Zaramella 2023: 153). Dazu schreibt Mbembe: „Damit ein unvollständiges Archiv mit voller Stimme sprechen kann, muss es nicht aus dem Nichts, sondern aus den Trümmern von Informationen, genau an der Stelle der Ruinen, der Überreste und Spuren, die die Verstorbenen hinterlassen haben, kreiert werden.“ (2019: 160 f.; Übers. d. A.)[2] Nur dadurch wird es möglich, parallele Diskursarenen als Gegenöffentlichkeit zu etablieren, „in welchen Mitglieder_innen marginalisierter sozialer Gruppen Gegendiskurse begründen können, die es ihnen ermöglichen, oppositionelle Interpretationen ihrer Identitäten, Interessen und Bedürfnisse zu formulieren“ (Fraser 1990: 67; Übers. d. A.). In Deutschland gibt es eine Fülle an Initiativen, die seit Jahrzehnten daran arbeiten, nekropolitische Gewalt aufzudecken und dieser entgegenzuwirken.[3] Dabei geht es um direkte Gewalt durch die Polizei (z. B. der Tod von Oury Jalloh), um staatliche Verstrickungen in und/oder staatliche Verdeckungen von rechtsterroristischen Akten (z. B. Mordserie NSU oder rassistischer Anschlag in Hanau).
Betrachtet man den Kampf um die Anerkennung und Aufklärung nekropolitischer Regierungspraxis, erleben wir in den letzten Dekaden durch die weitverbreitete Etablierung audiovisueller Technologien eine Neuformierung des Politischen über das Visuelle. Die Bedeutung visueller Technologien für die Kritik an Nekropolitik wurde uns eindrücklich durch den Mord an George Floyd und die daran anschließende Black-Lives-Matter-Bewegung vor Augen geführt. Gleichzeitig besteht gegenüber dem Visuellen aufgrund der digitalen Manipulierbarkeit ein prinzipielles Misstrauen, was besonders bei politisch umstrittenen Ereignissen zur Hinterfragung der „Authentizität“ von visuellen Artefakten führt (Tagg 2021). Vor diesem Hintergrund haben sich neue Akteure gebildet, die diese Lücke durch innovative Verifikationsmethoden zu schließen versuchen.
FA, eine Forschungsagentur an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, ist darauf spezialisiert, marginalisiertes (Erfahrungs-)Wissen von Gewaltereignissen durch die Analyse (audio-)visueller Artefakte mit visuellen und räumlichen Methoden zu validieren und damit alternative Deutungen öffentlichkeitswirksam als Evidenz zu produzieren. Indem ihre Praxis darauf abzielt, staatliche Gewalt sichtbar zu machen, ist FA daran beteiligt, im Sinne der neuen visuellen Kultur Nekropolitik zu problematisieren. In der Literatur wird die Praxis von FA als multimediale Forensik eingeordnet (Gates 2020: 404) oder als Datenaktivismus diskutiert (Gutiérrez 2021), welcher dazu beitrage, die Politik und Agency der Toten zu konzeptualisieren (Marschall/Simke 2022: 146). Besonders wird die neue Art der Wissensproduktion hervorgehoben, welche sich einerseits staatlicher Mittel der Forensik bediene, um hegemoniekritisch gegen gouvernementale Macht vorzugehen (Stuckey 2022: 65 f.), andererseits jedoch auch neue Methoden begründe, durch welche mit traditionellen Vorstellungen von Wissen gebrochen werde (Marschall/Simke 2022: 149). Dass Materialität in der Arbeit von FA eine Bedeutungsaufladung erhält, wird genauso diskutiert (u. a. Romeo 2024) wie die Methode der Evidenzkonstruktion durch Raumkonstruktion (Oskay 2022: 82; Rothöhler 2021: 146). Da FA letztlich raumvisuelle Evidenz produziert und darstellt, ordnen sozialwissenschaftliche Autor_innen FAs Wissenspraxis als die Begründung einer „new visual syntax“ (Lee-Morrison 2015: 4) oder „new visual language“ ein, welche in der Konstitution von Gegennarrativen münde (Gutiérrez 2022).
Abseits dieser positiven Einordnung problematisieren einige Autor_innen das Vorgehen von FA. Mira Naß (2021) kritisiert, dass FA unter dem Deckmantel von Wissenschaftlichkeit eine parteilich positionierte, komplexitätsreduzierende Evidenzkonstruktion vornehme, welche keinen Zweifel zulasse. Sie wirft FA am Beispiel eines palästinensischen Falls fehlende Quellenkontextualisierung und infolgedessen (implizit) eine „Nähe“ zum Antisemitismus vor. Kelly Gates (2020: 403) wiederum hebt hervor, dass solche Formen von Narrativkonstruktionen, wie jene von FA, Gefahr laufen, kategoriale Grenzen zwischen Fakten und Interpretationen, materiellen Dingen und Repräsentationen, realen Ereignissen und realistischen Darstellungen zu verwischen. Auch Joachim Harst (2023) identifiziert einen Widerspruch in der Arbeit von FA: Während FA konstruktivistisch argumentiere und vorgehe, die Forschungsagentur den Herstellungsprozess in ihren Videos auch darlege, verschwimme in der positivistischen Evidenzkonstruktion letztlich die Grenze zwischen Modell und Wirklichkeit. H. Esra Oskay (2022: 82) problematisiert mit Verweis auf Hito Steyerl, wie auch Anika Marschall und Ann-Christine Simke (2022: 152), dass die Art der Ergebnispräsentation eine „aura of the courtroom“ kreiere, wodurch das Phänomen des Urteilens losgelöst vom Rechtssystem im Museum oder Theater zur Sache aller werde. Andere arbeiten diesbezüglich eine Verschiebung in der Form des Urteilens heraus. Nicht mehr (allein) die Gewalttat stehe im Zentrum, über dessen Wirklichkeit zu urteilen sei, sondern die methodische Herleitung in der Evidenzkonstruktion (Godarzani-Bakhtiari/Tuma i. E.). Marschall und Simke (2022: 155) kritisieren darüber hinaus, dass FA in den Ausstellungen unverkörpert und nicht positioniert auftritt und die Gewalt in den eigenen Feldern, dem Wissenschafts- und Kunstfeld, unerwähnt lässt. Linda Kinstler schließlich bemängelt, dass FA Evidenz lediglich über räumliches Wissen konstituiere, während verkörpertes und affektives Wissen der Opfer und Überlebenden übergangen und unsichtbar gemacht werde, wodurch es zu einem „silencing of the witness“ komme (2022: 329).
Vor dem Hintergrund der (auch) ambivalenten Einordnung der Arbeit von FA zeige ich in diesem Aufsatz anhand des Fallbeispiels der Beweisführung des Polizeieinsatzes in Hanau, inwiefern FAs Beweisführung dennoch als eine gegenöffentliche Verhandlung nekropolitischer urbaner Polizeipraxis verstanden werden kann.
Am 19. Februar 2020 erschießt ein Rechtsterrorist in Hanau neun Menschen mit Migrationsgeschichte: Said Nesar Hashemi, Hamza Kenan Kurtović, Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Gökhan Gültekin, Vili-Viorel Păun, Mercedes Kierpacz und Kaloyan Velkov.[4] Nachdem vielschichtige Missstände im Polizeihandeln vor, während und nach der Tat bekannt geworden sind, fordern die Betroffenen Aufklärung. Die Fragen, die sie artikulieren, betreffen unter anderem die nicht beantworteten Notrufe in der Tatnacht; den verschlossenen Notausgang in der Arena Bar, welcher das Fliehen der Barbesucher vor dem Täter verunmöglichte; das zu späte Auffinden des Täters durch die Polizei und die fehlende Ermittlung gegen den (juristisch bestätigten) rechtsextremen Vater als Mittäter im Nachgang der Tat (Initiative 19. Februar 2021).
Die im Anschluss an die Tat begründete „Initiative 19. Februar“ beauftragt 2020 FA und die Berliner Tochterinitiative Forensis damit, einigen dieser Fragen investigativ nachzugehen. Resultat der Untersuchung sind zwei von FA/Forensis[5] erstellte Videos. In diesen präsentiert FA ihr analytisches Vorgehen und die Ergebnisse der Untersuchung dokumentarisch. In beiden Videos begleitet eine weibliche Computerstimme die visuelle Darstellung, erklärt das Vorgehen und gibt Hinweise zur Deutung der Bilddarstellungen. Veröffentlicht wurden die Videos auf verschiedenen Videoplattformen, der Webseite von FA und in verschiedenen Ausstellungen (u. a. Frankfurter Kunstverein, Haus der Kulturen der Welt und Neustädter Rathaus).
In dem Video „Hanau-Anschlag: Der Notausgang“ (Video 1; Forensic Architecture 2022a) rekonstruiert FA den Zeitraum des Anschlags, bei dem der Täter in Kesselstadt auf einem Parkplatz, in einem Kiosk und in der angrenzenden Arena Bar insgesamt sechs Personen erschoss. Dabei wird von FA die Frage untersucht, inwiefern diejenigen Personen, die sich in der Arena Bar aufhielten, es geschafft hätten, die Bar zu verlassen, wäre der Notausgang offen gewesen. Zeug_innen berichteten nach der Tat, dass der Notausgang seit Jahren verschlossen gewesen sei, und behaupteten, dass dies im polizeilichen Einvernehmen geschehen sei, um bei (rassifizierten) Razzien das Fliehen der Besucher_innen zu verhindern (Litschko 2021). Die Staatsanwaltschaft stellte die Untersuchung des verschlossenen Notausgangs mit der Begründung ein, dass die Opfer auch bei geöffneter Tür nicht hätten fliehen können (Bauer 2023). Indem FA die Frage des verschlossenen Notausgangs untersucht, werden zwei nekropolitische Auseinandersetzungen bearbeitet: die Auswirkung von racial profiling am Beispiel der verschlossenen Tür in der Arena Bar und institutioneller Rassismus in Ermittlungsverfahren am Beispiel der Untersuchung des Notausgangs. Innerhalb des 8:59 Minuten langen Videos wird von FA zunächst die raumzeitliche Ordnung des Ereignisses rekonstruiert. Anschließend wird durch die Simulation eines hypothetischen Handlungsverlaufs (Besucher versuchen durch den Notausgang zu entkommen) bestätigt, dass vier der fünf Besucher höchstwahrscheinlich durch den Notausgang hätten fliehen können.
In dem Video Rassistischer Terror-Anschlag in Hanau: Der Polizeieinsatz (Video 2; Forensic Architecture 2022b) werden von FA drei Fragen untersucht: Lügt der Vater in seiner Zeugenaussage? Hat die Polizei den Schuss, mit dem der Täter seine Mutter getötet hat, gehört? Wie verlief der Polizeieinsatz? Da auch bei der Frage bezüglich des Vaters Ermittlungslücken bearbeitet werden, beziehen sich alle Fragen auf das Vorgehen der Polizei. In dem 33:11 Minuten langen Video werden das Wohnhaus und dessen Umgebung zunächst rekonstruiert. Danach werden die Fragen einzeln bearbeitet und Hypothesen getestet. In dem Video resümiert die Narrationsstimme: „Unsere Ermittlungen zeigen […], dass die Polizei […] beim Einsatz gegen einen bewaffneten Rechtsextremisten fatale Fehler begangen hat.“ (Forensic Architecture 2022b, 29:36-29:47 Min.)
Da es sich bei den analysierten Daten um audiovisuelles Material handelt, die als dokumentarische Artefakte (Gutiérrez 2021) oder Metaartefakte (Godarzani-Bakhtiari/Tuma i. E.) eingeordnet werden können, stand die sinnverstehende Rekonstruktion der Artefakte im Zentrum der Analyse. Um dem Doppelcharakter der Artefakte – sie beinhalten sowohl Handlungsausführung als auch Narration (Erzählung) – gerecht zu werden, wurde eine eigene Methode entwickelt, die an die soziologische Filmanalyse (Peltzer/Keppler 2015) und die Detailanalyse wissenschaftlicher Bilder/Filme (Reichert 2007) angelehnt ist und mit dem Begriff vergleichende Video-Artefakt-Analyse bezeichnet wird. Dabei war von Interesse, die jeweiligen „Verfahren, Stile und Erzählweisen“ herauszuarbeiten, „mit denen ‚Realität‘, ‚Objektivität‘ und ‚Wahrheit‘ konstruiert“ wird (ebd.: 29).
Zunächst wurde anhand einer Reihe von selbst gewählten Kategorien ein (Film-)Sequenzprotokoll erstellt. In dem Vergleich der Analyseergebnisse beider Videos konnten zwei Narrationsebenen in beiden Artefakten herausgearbeitet werden: die Ebene politischer Positionierung und die Ebene der Evidenzkonstruktion. Anschließend wurde die Analyse mit einer detaillierten Interpretation ausgewählter Schlüsselmomente und -Stills (Momentaufnahmen) vertieft, um die Konstitutionsregeln und ihre Präsentationsformen der Narrationsebenen herauszuarbeiten (Peltzer 2021: 187). Beide Ebenen bilden innerhalb der Videos eigene Abschnitte und erfüllen, wie ich zeigen werde, unterschiedliche Funktionen für die gegenöffentliche Problematisierung nekropolitischer Polizeiarbeit.
In beiden Videos findet sich zu Beginn und zum Ende ein Abschnitt von Bild-, Sprach- und Textkollagen[6], die gemeinsam einen politischen Deutungsrahmen schaffen, der die Untersuchung rahmt:[7] Zu Beginn wird die Notwendigkeit der Untersuchung von FA hieraus abgeleitet und am Ende werden die Ergebnisse der Untersuchung hierin verortet. Insgesamt zeichnet sich diese Ebene durch die Etablierung politischer Positionierung aus, welche vollzogen wird über die Repräsentation des (post-)migrantischen Protests, die Repräsentationspraxis der Getöteten und die Etablierung eines Näheverhältnisses zwischen Betrachtenden und Betroffenen. Wesentlich wird der politische Deutungsrahmen geschaffen über Verweise auf die normative demokratische Grundordnung. Auf Bildern/Videos, die den zivilgesellschaftlichen (post-)migrantischen Widerstand darstellen (vgl. Abb. 2-6), sind beispielsweise Demonstrierende zu sehen, die Schilder mit Begriffen wie „Gerechtigkeit“ (vgl. Abb. 2), „Aufklärung“ und „Erinnerung“ in die Kamera halten. Dadurch wird ein Bezug zu den globalisierten Leitideen gesellschaftlicher Ordnung hergestellt und ein Referenzrahmen geschaffen, der an Demokratie, Menschenwürde, Strafrecht und allgemein Moralvorstellungen orientiert ist. Gleichzeitig kommt es über die Einführung dieser normativen Bezüge mit Bildern von Protestierenden (vgl. Abb. 2 und 4) und Protestobjekten (vgl. Abb. 3 und 5) zur Herstellung einer zweiten Sinnebene: die Problematisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Über die Darstellungen des Protests und durch sprachliche Benennung von „Polizeiversagen“, „Mord“ und „Rassismus“ werden gesellschaftliche Verhältnisse als von den normativen Ordnungsvorstellungen abweichend problematisiert. Das Gleichheitsideal der Aufklärung erscheint vor dem Hintergrund der Nekrorealität als uneingelöstes Versprechen.
Gleichzeitig wird von FA, indem demokratische Ordnung über Protesthandlungen symbolisiert wird, Demokratie nicht als gegebene Realität, sondern als herzustellendes und zivilgesellschaftlich zu erkämpfendes Gut repräsentiert, welches das Engagement von Bürger_innen zentral setzt. Das wird besonders an den Abbildungen 1 bis 6 deutlich. Die darin vorgenommene Bildpraxis vollzieht ein doing democracy durch doing being a citizen. Die (post-)migrantische Community wird als politisches Kollektiv und deren Individuen als politische Subjekte repräsentiert. So kommt es zu einer Umkehr eines immer wieder medial diskursivierten rassistischen Narrativs: Nicht migrantisierte Andere erscheinen als „Gefahr für die Demokratie“, sondern demokratische Ordnung wird als getragen und vorangetrieben durch migrantisierte zivilgesellschaftliche Arbeit konstruiert. Außerdem wird durch die Repräsentationspraxis die symbolische Logik rassistischer Anschläge dekonstruiert: Während rassistisches Töten im Öffentlichen darauf abzielt, (post-)migrantisches Leben als Teil urbaner deutscher Realität existenziell auszulöschen, vermittelt die Repräsentationspraxis, dass es zur Aneignung des Öffentlichen und Politischen durch die Kollektivierung und Mobilisierung der (post-)migrantischen Community führt. Die Kollektivierungsarbeit, die sichtbar gemacht wird, manifestiert damit einerseits geleistete Trauerarbeit, die von den Betroffenen selbst getragen wird, und andererseits emanzipative zivilgesellschaftliche Organisierungsarbeit entlang demokratischer Ordnungsvorstellungen. Damit erscheinen Angehörige und Betroffene nicht der rassistischen Nekropolitik ausgeliefert, sondern im Gegenteil als eine durch Solidarisierung und Kollektivierung vereinte Community, welche die Nekropolitik des Staates herausfordert.
Das verdeutlicht, dass entgegen und mit der leidvollen Erfahrung des unüberwindbaren Verlustes in der Repräsentationspraxis von FA eine gesamtgesellschaftlich relevante und translokal wirkende urbane Kollektivierungsgeschichte dargestellt wird.[8] Diese bricht die hegemoniale Repräsentationsmatrix auf: Das Leid und der Kampf der Betroffenen „werden in die Sphäre des Sagbaren und Sichtbaren gehoben und in das normative Skript der Repräsentation eingeführt. Die in politische Arbeit umgewandelte Trauerarbeit bringt ein Gemeinschaftsgefühl zum Ausdruck und bildet ein neues Vokabular im Kampf für […] Gerechtigkeit“ (Gutiérrez Rodríguez 2023: 108; Übers. d. A.).
Eng an die Darstellungspraxis der Angehörigen und Betroffenen gebunden ist die Repräsentationspraxis der Getöteten. Die Forderung und der zentrale Slogan „#saytheirnames“ der Initiative 19. Februar wird nicht nur visuell in einem der Videos abgebildet (vgl. Abb. 6), sondern auch performativ hergestellt. Die Erfahrung rassistischer Gewalt wird durch den Slogan, der ursprünglich der Black-Lives-Matter-Bewegung entstammt, in eine große Anzahl von Anschlägen eingereiht, sowohl in Deutschland als auch weltweit. Dadurch wird rassistische Gewalt nicht als lokales, zeitlich konkretes Phänomen, als ein Einzelfall, sondern als globales Phänomen geframt. Gleichzeitig verweist der Slogan auch auf die damit einhergehende translokale Mobilisierungsgeschichte, in deren Zentrum die Etablierung und Diskursivierung von Gegennarrativen steht. Mit ihm wird eine Perspektivverschiebung gefordert. Anstelle Täter_innen und deren Narrative rassistischer Gewalt medial und politisch zu repräsentieren, wird die Aufmerksamkeit auf die Opfer, ihre Familien und Angehörigen gerichtet, die das Leid erfahren. Neben der geforderten Aufmerksamkeitsverschiebung erfüllt der Slogan die Funktion, rassistische Zuschreibungen der Opfer über Re-Individualisierung zu dekonstruieren. Entgegen homogenisierender rassistischer Kategorisierungen, welche die Kategorien Ethnizität und race zur wichtigsten Markierung gesellschaftsstrukturierender Zuordnung machen, symbolisiert der Slogan „#saytheirnames“ die Praxis der Sichtbarmachung der Opfer als vielfältige Individuen einer Gesellschaft. Dies wird in den Videos auch textlich-visuell vollzogen. Indem die Namen der Opfer nacheinander genannt, verschriftlicht dargestellt (vgl. Abb. 1), deren Fotos eingeblendet werden und/oder ihre Gesichter auf Schildern der Protestierenden zu sehen sind (vgl. Abb. 5), werden die Getöteten als Jugendliche, Familienmitglieder, Arbeitskolleg_innen und Freund_innen imaginierbar. Damit wird die temporal-rassistische Logik des Tötens gestört: Während den Opfern durch rassistische und tödliche Fremdkategorisierung das Recht zu sein genommen wird, wodurch die Getöteten in der „zone of nonebeing“ (Fanon 1986: 10) positioniert werden, wird sich post mortem von den Betroffenen das Recht der Bedeutungszuschreibung rückangeeignet. Damit handelt es sich in den Worten von Tony Morisson um eine Praxis der „rememory“ (2019), bei welcher die Getöteten als konkret ausgelöschte Individuen mit vielfältigen Bezügen und Bedeutungen repräsentiert und in der Erinnerungspraxis über die Zeit stabilisiert werden.[9] Durch die politische und emotionale Arbeit des Trauerns wird damit das gelebte Leben aktualisiert und erneut zum Leben erweckt (Gutiérrez Rodríguez 2023: 10) und die nekropolitische Ordnung von Leben und Tod grundlegend hinterfragt.
Abschließend lässt sich die Positionierung von FA auf der Seite des Widerstands auch an der Wahl der Bildraumausschnitte herauslesen. Als Betrachtende sehen wir Bilder der Initiative 19. Februar, die aus der Praxis des Widerstands selbst aufgenommen wurden (vgl. Abb. 2-6). Betrachtende werden stilistisch in den Protest integriert, indem sie durch die Bildkomposition als Teilnehmende des Protests imaginierbar werden, wie in Abbildung 4 zu sehen ist. Hier wird eine Reihe von Menschen gezeigt, die auf einer großen Straße entlanglaufen. Seite an Seite mit fokussiertem Blick nach vorn halten sie ihre Protestschilder in die Luft. Durch die Bildperspektive scheint es, als sei man als betrachtende Person in den kollektiven Widerstand räumlich eingereiht. Damit zielt diese Bildraumpraxis darauf ab, eine Beziehung zwischen den Betrachtenden und den Betroffenen – deren Trauer und Wut – zu etablieren, und ruft zur Solidarisierung auf. In den Worten Judith Butlers forciert die Bildkomposition die Wahrnehmung der Prekarität anderer – ihrer sozial bedingten Gewalterfahrungen – als implizite Wahrnehmung der Prekarität aller Lebewesen (2009: xvi).
Insgesamt zeigt sich an dieser Form der Darstellungspraxis, dass FA die Betroffenenperspektive und damit das migrantisch situierte Wissen (Perinelli 2017) über die Darstellung der Aneignungspraktiken des urbanen Raums sichtbar macht. Nekrorealität wird hier im Raum des Dazwischens – zwischen Fremdherrschaft und kollektiver Selbstbestimmung – herausgefordert. Durch diese Repräsentationspraxis positioniert sich FA eindeutig auf Seiten der Betroffenen. Dass Widerstandspraxis nicht nur über lokal-materialisierte Raumaneignung repräsentiert, sondern auch durch digital-rekonstruierte Raumaneignung von FA selbst vollzogen wird, zeigt sich an der Art und Weise, wie FA Evidenz durch virtualisierte Raumordnung herstellt.
Erst nachdem der politisch-moralische Deutungsrahmen geschaffen ist, kommt es in den Videos von FA zur Rekonstruktion des Ereignisses und damit zur Suche und Herstellung von Evidenz. Indem FA jede Erkenntnis aus dem visuellen Material ableitet, den Prozess selbst darstellt, wird von ihnen der Anspruch transparenter Beweisführung performativ hergestellt. Im Zentrum der rekonstruktiven Arbeit liegt die Organisierung von vielfältigen Datenmaterialien, deren Validierung und Synthese. Für die Konstruktion von Evidenz spielen besonders vielfältige visuelle Abstraktions- und Übersetzungsleistungen eine tragende Rolle, wobei simulierten Raummodellen eine Schlüsselfunktion zukommt.
Der Prozess der Evidenzkonstruktion beginnt in beiden analysierten Videos mit einem Satellitenbild, welches aus der Vogelperspektive den Stadtraum von Hanau zeigt (vgl. Abb. 7.1 und 8.1). Danach wird dieses visuell nachvollziehbar in ein Raummodell verwandelt (vgl. Abb. 7.2-7.5 und 8.2-8.5), in welchem der für die Untersuchung relevante Raum abstrahiert dargestellt wird (vgl. Abb. 7.5 und 8.5). Die Einnahme der Vogelperspektive zu Beginn der Sequenzen ist symbolträchtig, wie auch das Zitat von Mbembe verdeutlicht: „Überall wird die Symbolik des Höchsten (wer ist am höchsten) wieder aufgegriffen. Die Beherrschung des Luftraums ist daher von entscheidender Bedeutung, da der größte Teil der Polizeiarbeit aus der Luft erfolgt.“ (2003: 29; Übers. d. A.) Indem von FA in der Evidenzkonstruktion die Vogelperspektive eingenommen wird, wird sich die Herrschaftsperspektive angeeignet, welche seit der Kolonialzeit visuelles Kontrollinstrument ist (Brown/Carrabine 2019: 198). Dass Satellitenbilder den Ursprung der Raummodellierung darstellen, ist darüber hinaus vor dem Hintergrund der Herstellung einer objektiven Perspektive relevant. „Die Beobachtung von Räumen, die sich dem menschlichen Zugriff entziehen [aus dem All], stellt eine [besondere] Form der Objektivität dar, die durch das Zusammentreffen von mechanischer Automatisierung und kontinuierlichem, weisungsgebundenen Sehen entsteht.“ (Brannon 2013: 287; Übers. d. A.)
FA folgt damit einem Verständnis von mechanical objectivity. Es basiert auf der Annahme, dass technische Visualisierungsmaschinen in der Lage sind, die Wirklichkeit objektiv – das heißt ohne subjektive Verzerrung – abzubilden (Daston/Galison 2007: 58). Seit der Moderne ist Distanz und Distanzierung von der eigenen subjektiven Betrachtungsweise eine wesentliche Anforderung für die Produktion von Objektivität. FA stellt durch die Verwendung dieser Bilder Distanz(-ierung) und damit Objektivität verräumlicht her. Indem die Satellitenaufnahmen automatisiert aus weitmöglichster Distanz aufgenommen werden, distanziert sich FA visuell-räumlich und damit symbolisch sowohl von der eigenen Position als auch vom konkreten (Tat-)Raum und den darin handelnden Subjekten.
Anstelle des Partikularismus, den wir auf der politischen Dimension gesehen haben, erhebt FA nun das Universale zum wichtigsten Bezugspunkt. Satellitenbilder, welche aus einer Reihe von Bildern stammen, die in der Lage sind, die ganze Welt abzubilden, können als die technisierte Ausführung des synoptischen Blicks verstanden werden (Scott 1998: u. a. 11), welcher scheinbar alles zu überblicken vermag. Satellitenaufnahmen inszenieren geradezu eine standortungebundene und damit neutralisierte Perspektive auf die Welt als gesamte Entität. Dadurch wird imaginär das Universale, das Allgemeine symbolisch und stilistisch zum Bezugs- und Referenzpunkt der Evidenzkonstruktion. Emblematisch steht deshalb das Satellitenbild für einen Moduswechsel weg von der politischen Positionierung und hin zu einem objektiven Untersuchungsverfahren der Analyse der Nekrorealität.
Dass die Produktion von Objektivität für FA der Dreh- und Angelpunkt ihrer Evidenzkonstruktionen ist, zeigt sich auch in der Übersetzung der Satellitenbilder in Raummodelle. Indem FA die Übersetzung (fließend) animiert und dadurch nachvollziehbar macht, produziert sie einen eigenen Analyserahmen entlang objektiv verstandener Verfahren. Die Transformation der objektiv geltenden Satellitenbilder in digitale Raummodelle erhält besonders durch die computergenerierte Ausführung Gültigkeit. In dieser Form der Ausführung manifestiert sich die Doxa, dass „neutrale, wissenschaftliche Ergebnisse durch die Anwendung computergestützter Formen der Analyse erzielt werden können“ (Gates 2013: 252; Übers. d. A.), welche als computational objectivity verstanden werden kann. Indem die Raum(an)ordnung (Löw 2001) des Satellitenbilds als (zwei- oder dreidimensionales) Koordinatensystem behandelt wird, bei dem jede Information über eine topographische Position (Placing) bestimmt wird, kommt es zu einer Quantifizierung der räumlichen Relation zueinander (Synthese) und somit zur (technisierten) Reproduktion der Raum(an)ordnung. Raum wird hier maschinell-synthetisch durch das Digitale ko-konstruiert (Schinagl 2022: 242 f.). Es entsteht eine „virtualisierte“ Raumkonstruktion, die datafizierte Wirklichkeit abbildet (Christmann/Schinagl 2021: 200). Dass das Raummodell medial und technisch gestützt aus der Distanz geschaffen wird, lässt sich mit dem Begriff der Telesynthese nach Martin Schinagl fassen (2022: 233). So entsteht schließlich ein Raummodell, welches vom Glauben an die objektive Repräsentierfähigkeit von Satellitenbildern (mechanical objectivity) und an objektive Verfahren (computational objectivity) getragen wird. Noch entscheidender, es entsteht ein Raum, der selbst durch dessen Herleitung, als objektiv imaginiert, produziert und dargestellt wird. Ich schlage vor, diesen Prozess der Herstellung von Raum als objektiven Referenz- und Analyserahmen, in diesem Fall für die Analyse politischer Nekrorealität, als die Begründung von spatial objectivity (räumliche Objektivität) zu fassen. Ausschlaggebend für das Verständnis von spatial objectivity ist die reflexive und visuell performte Herleitung von Raum als abstrakte und gleichzeitig unhinterfragbare – quasi in Stein gemeißelte – Wirklichkeit sui generis. Der Raum, der durch die Verwendung moderner Technologien (mechanical und computational objectivity) entsteht, zeichnet sich besonders durch seine unendlichen Entfaltungsmöglichkeiten aus, wie ich mit der weiteren Analyse der Nutzbarmachung dieses Raumes zeigen werde. Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass FA selbst durch die symbolische (in diesem Fall digitale) Raumproduktion genau das schafft, was durch spatial objectivity greifbar gemacht werden soll – nämlich objektive Raumwirklichkeit.
Dass FA den Raum als objektiven Raum produziert und darstellt, ist insofern paradox, als es sich zweifelsohne um eine äußerst reduzierte Repräsentation handelt. Es ist ein sowohl abstrakter als auch lebloser Raum, in dem unter anderem die Individuen, die Teil der Untersuchung sind, nicht repräsentiert werden. Materielle Formen und ihre Anordnung sind vereinheitlicht, konstant gehalten und damit statisch festgesetzt. Dadurch wird die Dialektik von Zeit und Raum aufgebrochen und ein vermeintlich zeitloser vor-sozialer physischer Raum konstruiert, der sich mit Bourdieu fassen lässt: „[… Er] kann als solcher nur durch eine Abstraktion […] gedacht werden, das heißt, indem bewusst alles ignoriert wird, was der Tatsache verdankt ist, dass es ein bewohnter und angeeigneter Raum ist.“ (Bourdieu 2018: 108 f.; Übers. d. A.)
Nachdem das allein auf physischen Gegebenheiten basierende Raummodell und damit der als objektiv verstandene Analyserahmen etabliert ist, rekonstruiert FA zunächst die Bedingungen für die Herstellung von Evidenz: Der Handlungsverlauf mit speziellem Fokus auf die Polizeihandlungen und alle damit zusammenhängenden, als relevant erachteten Aspekte werden nachvollzogen. Dafür zieht FA vielfältige Daten heran – private und kommerzielle Daten, Open-Source-Daten und staatlich verwaltete Daten, die öffentlich zugänglich sind. In diesem Schritt der forensischen Datenarbeit sind audiovisuelle Aufnahmen, zum Beispiel von Überwachungskameras, wesentlich.
Nachdem FA die Daten gesichtet und verifiziert sowie Inkonsistenzen aufgedeckt hat, beginnen sie die Analyse. Dazu betrachten sie jedes Datum einzeln und heben innerhalb des Materials die relevanten Informationen hervor. Das, was für die Investigation als wesentlich herausgearbeitet wird, wird schließlich extrahiert und innerhalb des simulierten Raummodells rekonstruiert.[10] Verschiedene Informationen aus unterschiedlichen Daten werden über ihre topographische Lagebestimmung im Modell zueinander in Beziehung gesetzt. Das abstrahierte Raummodell nutzt FA als repräsentativ-materiell bestimmbares unterstes Layer, welches die Positionierung der Informationen ermöglicht. Gleichzeitig fungiert das Modell als zeitlose Schablone, auf deren Basis FA die konkret zeitlich definierten Informationen als neues Layer verräumlicht. So kommt es zur Etablierung eines Wechselverhältnisses zwischen allgemein-abstrakter (zeitloser) Raumordnung und konkretem Raumereignis.[11] Bedeutend ist, welche Art von Informationen herangezogen werden: Es ist der Standort der Akteur_innen im vermessenen Raum oder auch die räumliche Visualisierung von anderen Informationen, beispielsweise der Schallausbreitung im Raum, welche in den Modellen rekonstruiert und eingezeichnet wird. Materialisierungen (Körper und Dinge) und die Wirkweise physikalischer Gesetzmäßigkeiten (z. B. Schallausbreitung im Raum) werden in Bezug auf ihre Standorts-/Bewegungsbestimmung in der Analyse von FA beachtet.
Nachdem FA alle als relevant herausgearbeiteten Informationen in dem Modell verräumlicht hat, testen sie verschiedene Handlungsabläufe. Da FA allein Lagebestimmungen im Raummodell beachtet, sind es Berechnungen, die auf naturwissenschaftlichen Gesetzen von Masse/Materialität in Raum und Zeit basieren, die die Evidenzkonstruktion bedingen. Die Bedeutung von spatial objectivity entfaltet sich hier in ihrer ganzen Fülle: Der als spatially objective konstruierte (digitale) Raum ermöglicht es, unendliche imaginative Wirklichkeiten rechnerisch raumvisuell durchzuspielen. Die leitende Frage ist: Hätte X, Y und Z zu einer bestimmten Zeit im Raum stattfinden können – oder treten im Modell räumliche Widersprüche auf, die das gleichzeitige Stattfinden unwahrscheinlich oder gar unmöglich erscheinen lassen? Reale vergangene Handlungsabläufe werden innerhalb des Modells in eine binäre Logik überführt, nach der etwas entweder spatially objective möglich (mit verschiedenen Graden des Wahrscheinlichen) oder gänzlich unmöglich ist. Dadurch wird über die Produktion von spatial objectivity rückwirkend Gewissheit über Vergangenes geschaffen. Entlang räumlicher Rationalisierungslogik wird Evidenz dementsprechend hergestellt – über die Verräumlichung verschiedener Informationen in dem objektiv hergeleiteten Raummodell. Es handelt sich damit um einen über den Raum hergestellten Nachweis nekropolitischer Polizeiarbeit durch die Produktion von spatial objectivity.
An einem Beispiel des Rekonstruktionsprozesses des Ereignisses um den Tatort Arena Bar/Kiosk (Video 1) lässt sich die Evidenzkonstruktion durch die Begründung von spatial objectivity nachvollziehen.[12] Die Abbildungen 9 bis 12 verdeutlichen die Untersuchung der Frage, inwiefern die Besucher der Arena Bar es geschafft hätten, aus der Bar zu fliehen, wäre der Notausgang offen gewesen und hätten sie dieses gewusst. Nachdem das Raummodell von FA etabliert wurde (wie bereits in Abb. 7 dargestellt), rekonstruiert FA die Bewegung der Akteure in der Arena Bar im Raum mithilfe von verschiedenen Überwachungsaufnahmen (vgl. Abb. 9).[13] Die hierbei extrahierten Informationen, genauer die Lagebestimmung der Körper und deren Bewegungen im Raum, werden nun im abstrakten Modell eingezeichnet und damit in Beziehung zueinander gesetzt. Dass die Besucher der Bar, nachdem der Täter mit Schusswaffe in den Kiosk (Nebenraum – geteilter Eingang mit Arena Bar) eintritt, in die hintere Ecke der Bar in eine Sackgasse laufen, in welcher sie dem Täter kurz darauf ausgeliefert sind, wird von FA über die Einzeichnung der Bewegungen aller Akteure innerhalb des Raummodells herausgearbeitet (vgl. Abb. 10, links). FA erweitert die Analyse zusätzlich durch die Messung der Geschwindigkeit der Akteure im Raum. Dafür blenden sie neben der Raumskizze ein Diagramm ein, in welchem die Geschwindigkeit der Akteure quantifiziert erfasst und visuell dargestellt wird (vgl. Abb. 10, rechts). Da FA die Bewegung im Raum, gleichzeitig mit Eintragung der Geschwindigkeitslinie im Diagramm, für jede Person einzeln vollzieht, können Betrachtende visuell nachvollziehen, in welchem Zusammenhang das Diagramm und die Bewegung der Akteure stehen. Dass die den Raum auszeichnenden materiellen Ordnungsattribute die Geschwindigkeit bedingen, zeigt FA daran, dass sie in dem Diagramm eine verringerte Geschwindigkeit einzeichnen, wenn eine Person zum Beispiel um eine Ecke läuft.
Um zu prüfen, inwiefern die Akteure durch den Notausgang hätten fliehen können, spult FA nach der Rekonstruktion des Handlungsverlaufs zu dem Moment zurück, als die Arena–Bar-Besucher den Täter durch den Eingang sichten. Nun simuliert FA, ausgehend von dem zuvor etablierten Geschwindigkeitsdiagramm, wie weit die Akteure gekommen wären, wären sie in Richtung des Notausgangs gelaufen (vgl. Abb. 11). Indem FA zum Beispiel beachtet, dass nicht alle gleichzeitig dieselbe Stelle passieren können, werden die Geschwindigkeiten der Akteure den neuen materiellen Ordnungsattributen der Raumwege angepasst. Wichtigster Referenzpunkt ist stets die Annahme der Unveränderbarkeit der naturwissenschaftlich erfassbaren Gesetzmäßigkeit von Masse in Raum und Zeit. Nach der Simulation der Bewegungen jedes Akteurs blendet FA ein, an welcher Stelle sich die Betroffenen zum Zeitpunkt, als der Täter die Bar betritt, befunden hätten, wären sie zum Notausgang gelaufen (vgl. Abb. 12). FA schlussfolgert, dass höchstwahrscheinlich vier von fünf Personen sich außerhalb des Schussfeldes des Täters befunden hätten, wären sie zum Notausgang gelaufen.
Im Anschluss an die Analyse kann nun einerseits Kinstlers Argument zugestimmt werden, dass FA in der Evidenzpraxis ein „silencing of the witness“ (2022: 329) vollzieht. Subjekte mit Identitäten und Leibkörper (mit Sinneswahrnehmung; vgl. Knoblauch 2017) – ihre konkreten subjektiven Erfahrungen – spielen in der Raumdarstellung und -analyse keine bis kaum eine Rolle.[14] Deren konkrete Repräsentation fügt sich in die technisch-visuelle Abstraktion diagrammatischer Darstellungen von physischen Bezugsgrößen ein. Damit werden sie in dem Erkenntnisprozess auf eine Ebene gestellt mit anderen materiellen Dingen im Raum. Andererseits kann die Rolle der Subjekte in der Evidenzlogik auch als emanzipativ gedeutet werden, wenn man die dabei produzierten symbolischen Beziehungen zwischen den repräsentierten Subjekten betrachtet. Zwar findet eine Ent-Subjektivierung der Ereignisanwesenden statt, jedoch wird über die Reduzierung auf die physische (Natur-)Ordnung von Masse im Raum allgemeine Gleichheit zwischen den repräsentierten Subjekten begründet, welche soziale Differenz(-ierungen) verunmöglicht. Bei der digitalen Simulation der Ereignisse in der Arena Bar wird beispielsweise die Bewegung der Subjekte als Masse im Raum untersucht. Dadurch werden die Subjekte vor dem Hintergrund der raumzeitlichen Ordnung von FA zu Gleichen gemacht. Soziale Differenz(-ierungen) zwischen Körpern sind innerhalb der physischen Ordnung nicht nur irrelevant, sondern vollkommen unsinnig.[15] Die Reduzierung der Subjekte auf Körpermasse im Raum ist damit gleichzeitig die Herstellung des allgemein Gleichen des Menschen innerhalb der physischen Ordnung. Es kommt zur De-Konstruktion sozialer Differenz(-ierungen) bei gleichzeitiger Re-Konstruktion des menschlich Gleichen in raumzeitlicher Ordnung physischer Gesetzmäßigkeiten. Dadurch wird Nekropolitik sichtbar gemacht, ohne die tödlichen sozialen Kategorisierungsprozesse zu reproduzieren.
Dieses Beispiel zeigt, wie FA entlang einer positivistischen Logik, die auf einem räumlichen Objektivitätsverständnis (spatial objectivity) aufbaut, nekropolitische Polizeiarbeit sichtbar macht und kritisiert. Da der verschlossene Notausgang, wie Zeug_innen aussagen, auf Absprachen zwischen Polizei und Barbesitzer zurückgeht, durch welche die Polizei zu verhindern suchte, dass bei Razzien Personen über den Notausgang hätten fliehen können, wird durch diese Analyse die (räumliche) Materialisierung polizeilicher Nekropolitik offengelegt, dessen Konsequenz letztlich für zwei der fünf Besucher der Bar tödlich ausgeht. Implizit bearbeitet FA nicht nur die Existenz rassistischer Polizeikontrollen in kriminalisierten und rassifizierten Räumen, sondern weist deren tödliche Konsequenzen für Marginalisierte über die Materialisierung von Politik nach. Überdies problematisiert FA durch die Evidenzkonstruktion die Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft. Dass die Staatsanwaltschaft die Untersuchung des verschlossenen Notausgangs mit der Begründung einstellte, dass die Getöteten es nicht geschafft hätten, durch den Notausgang zu fliehen, erscheint nun vor dem Hintergrund der herausgearbeiteten Beweise als staatliche Praxis des Unsichtbarmachens nekropolitischer Polizeiarbeit.
Die Verhandlung von Nekropolitik verläuft heute weitestgehend über die Etablierung visueller Sichtbarkeit von Gewalthandlungen und Gewalterfahrungen.[16] FA – ein Akteur, der sich darauf spezialisiert hat, gegenforensisch Evidenz herzustellen – begründet eine neue Art der Beweisführung, die, wie ich gezeigt habe, maßgeblich über die Repräsentation und Herstellung von Raumaneignungspraxis vollzogen wird. Dabei findet eine gegenöffentliche Verhandlung von urbaner Nekropolitik in drei Hinsichten statt.
Auf der Ebene der politischen Positionierung kommt es zur Berücksichtigung und gleichzeitigen Sichtbarmachung der Perspektive der Betroffenen, deren Fremdheitskonstruktion als rassifizierte Andere im gleichen Zug dekonstruiert wird. Über die Re-Individualisierung der Getöteten wird deren Leben entgegen nekropolitischer Ordnung in der Erinnerungspraxis über die Zeit stabilisiert. Darüber hinaus wird die (post-)migrantische Community nicht als der Nekropolitik ausgeliefert, sondern als widerständiges politisches Kollektiv dargestellt, welches organisiert die Durchsetzung demokratischer Werte einfordert. Aus der Betroffenenperspektive heraus wird Marginalisierung und Unsichtbarkeitsmachung staatlicher Nekropolitik sichtbar gemacht und die Notwendigkeit manifestiert, staatliche Praxis zu untersuchen. Damit kann die Repräsentationspraxis auf der politischen Ebene als eine verstanden werden, die den Raum des Dazwischens – zwischen Fremdherrschaft und Selbstbestimmung – sichtbar macht.
Auf der Ebene der Evidenzkonstruktion wird die Perspektive der Betroffenen anschließend über die Aneignung und Anwendung der „(Wissens-)Instrumente der Macht“, mit Legitimität ausgestattet. Evidenz wird distanziert und objektiv über die strategische Produktion von spatial objectivity hergestellt. Hier kommt es zur Reduzierung des Sozialen auf – unhinterfragbare – räumliche Wirklichkeit. Eine Praxis, die mit Bernd Belina (2023) als gefährliche Abstraktion für die hegemoniale Ordnung verstanden werden kann. Dabei wird in der ent-subjektivierenden Darstellungsform der Evidenzkonstruktion (Subjekte als Koordinatenpunkte) symbolisch eine neue (physische) Logik geschaffen, die soziale Differenz(-ierung) entlang diskriminierender Kategorien verunmöglicht. Tragend für das Verständnis von spatial objectivity ist die reflexive und visuell performte Herleitung von Raum als abstrakte und gleichzeitig kommunikativ unbestreitbare Wirklichkeit. Durch einen als spatial objective konstruierten (digitalen) Raum wird es möglich, basierend auf Naturgesetzmäßigkeiten von Raum und Zeit unendliche imaginative Wirklichkeiten rechnerisch räumlich-visuell durchzuspielen. Aus der Frage des Wirklichen wird hier die Frage des objektiv Möglichen. Wie ich an dem Beispiel von Hanau gezeigt habe, werden so im Fall von FA über technisierte Analysen von Naturgesetzmäßigkeiten von Raum und Zeit alternative Deutungen von Ereignissen auf Grundlage kaum widerlegbarer naturwissenschaftlicher Logik objektiviert.
Abschließend ist die Arbeit der FA insofern als gegenöffentlich zu begreifen, als hierbei eine neue Objektivierungskultur begründet wird, in welcher politische Positionierung und objektive Evidenz an der nekropolitischen Regierungspraxis nicht als Gegensätze, sondern als zwei Seiten einer Medaille konstruiert wird. Politische Positionierung und Objektivität wird dialektisch gedacht (und gemacht) – als sich gegenseitig bereichernde und bedingende Haltungen und Analyseeinstellungen. Politische Positionierung erscheint als notwendig, um einen Zugang zu den ansonsten unsichtbar gemachten Realitäten urbaner Nekropolitik zu erhalten. Nur aus und mit der Perspektive der Betroffenen lassen sich die hegemonialen Deutungen von Ereignissen gegen den Strich lesen. Gleichzeitig tritt die Herstellung von objektiver Evidenz als Notwendigkeit für die Kritik an Nekrorealität auf. Damit findet in der Arbeit von FA eine Neuaushandlung von Subjektivität (Positionierung) und Objektivität (Evidenz) statt, welche einen Gegenentwurf zur wissenschaftlichen und juristischen Handhabung von Evidenz darstellt.
Auch wenn noch zu untersuchen ist, welche Macht-Wissen-Hierarchien FA durch ihre Herangehensweise und (Selbst-)Präsentationsformen produziert, wie ihre Arbeit zivilgesellschaftlich verhandelt (durch Ausstellungen und Präsentationen in politischen Foren) und tatsächlich im Dazwischen fruchtbar gemacht wird, gibt die Analyse des Fallbeispiels wertvolle Einblicke in die Art und Weise, wie in der Spätmoderne – legitim_iert durch technisierte Methoden und Darstellungsformen – gegenöffentliche Kritik an der urbanen Nekropolitik vollzogen wird.
Ein besonderer Dank geht an diejenigen, die den Artikel in unterschiedlichen Stadien kommentiert haben: Anastasia Schmidt, Annika Haller, Frederike Brandt, Jochen Kibel, Martina Löw, Nele Dörl, Simon Egbert, Tom Berger und René Tuma (alphabetische Reihenfolge). Die Arbeit wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert – 502722049.