sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2024, 12(2/3), 43-67

doi.org/10.36900/suburban.v12i2/3.961

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CC BY-SA 4.0

Ersteinreichung: 19. Dezember 2023

Veröffentlichung online: 3. Dezember 2024

Töten und Überleben in der mehr-als-menschlichen Stadt

Die Produktion „abstoßender“ Tiere in Frankfurt und Halle

Larissa Fleischmann, Elisa Kornherr, Lukas Adolphi

Dieser Beitrag schlägt vor, Städte als Räume zu konzeptualisieren, in denen politische Aushandlungen um die Frage des Tötens oder Leben Lassens nichtmenschlicher Lebewesen ausgetragen werden. Städte verstehen wir in diesem Sinne als lebendige – und daher potenziell auch tödliche – Gefüge aus menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten. Wir argumentieren, dass das Zusammenleben in der mehr-als-menschlichen Stadt zum Teil konflikthaft verläuft und Regimen der Regulierung und Steuerung unterworfen ist, die den Ausschluss und die aktive Tötung als abstoßend wahrgenommener Lebewesen zum Ziel haben. Dabei diskutieren wir, wie die theoretischen Arbeiten Giorgio Agambens für das empirische Beispiel des Tötens vermeintlicher Problemtiere in Städten fruchtbar gemacht werden können. Aufbauend auf qualitativen empirischen Erhebungen zum Umgang mit Nilgänsen in Frankfurt am Main und mit Nutrias in Halle an der Saale zeigen wir, dass Entscheidungen um das Töten nicht nur höchst umkämpft sind, sondern auch eigensinnige nichtmenschliche Praktiken und widerspenstige Kämpfe um Überleben in Gang setzen.

An English abstract can be found at the end of the document.

1. Einleitung: Städtische Politiken an der Schwelle von Leben und Tod

Städtische Regulierungspraktiken produzieren Räume des Tötens und Überlebens in der Stadt. Dies wird deutlich, nimmt man nichtmenschliche Lebewesen in den Blick, die als abstoßend wahrgenommen werden, wie zum Beispiel Nilgänse (Alopochen aegyptiaca) in Frankfurt am Main oder Nutrias (Myocastor coypus) in Halle an der Saale. Beide Tierarten wurden bewusst in Europa eingeführt und zu ökonomischen Zwecken genutzt. Mittlerweile bilden sie jedoch frei lebende Populationen, die häufig in Städten beheimatet sind. 2016 und 2017 nahm die EU Nutrias und Nilgänse in die Liste „invasiver gebietsfremder Arten“ auf. Auf diese Weise werden sie als „tötbare“ Tierarten hervorgebracht, deren Leben in der Stadt konstant gefährdet sind und die politische Aushandlungen um ihr Töten in Gang setzen (vgl. Crowley/Hinchliffe/McDonald 2018; Connors/Short Gianotti 2023).

Ziel dieses Beitrags ist es, Städte als Räume des Tötens und Überlebens vermeintlich abstoßender Lebewesen zu konzeptualisieren. Städte verstehen wir als „ökologische Formationen“ (Barua/Sinha 2023; Übers. d. A.); als lebendige – und daher potenziell auch tödliche – Gefüge aus menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten. Dabei sind Rationalitäten der städtischen Regulierung nicht nur darauf ausgerichtet – im Sinne einer Foucault’schen Lesart von Biopolitik – Leben zu steuern, zu disziplinieren oder zu erhalten. Stattdessen verstehen wir Praktiken des Abstoßens und damit einhergehende Entscheidungen um das aktive Sterben Machen oder Leben Lassen (vgl. Flitner 2019: 388) als immanente Bestandteile der Regulierung des mehr-als-menschlichen Zusammenlebens in der Stadt. Gleichzeitig stellt sich für uns aber auch die Frage, wie Tiere und andere Lebewesen die auf sie gerichteten politischen Versuche der Eliminierung durch eigensinnige Praktiken auf vielfältige Art und Weise herausfordern – etwa durch Kämpfe um Überleben oder durch die Bildung solidarischer Allianzen mit Menschen und anderen nichtmenschlichen Lebewesen.

In theoretischer Hinsicht stützen wir uns zum einen auf Arbeiten, die das Sterben und Töten nichtmenschlicher Lebewesen in den Blick nehmen (McKiernan/Instone 2016; Crowley/Hinchliffe/McDonald 2018; Gibbs 2021; Johnston 2021; Pitas 2022). Zum anderen diskutieren wir, wie Giorgio Agambens Überlegungen zu souveräner Macht, zur Figur des homo sacer und zur biopolitischen Schwelle (Agamben 1998, 2005) für den Umgang mit nichtmenschlichen Lebewesen in Städten fruchtbar gemacht werden können und welche Potenziale dies wiederum für die Weiterentwicklung der Konzepte selbst birgt.

Aufbauend auf qualitativen empirischen Erhebungen in Frankfurt und Halle illustrieren wir schließlich, dass Entscheidungen um das Töten sogenannter Problemtiere wie Nilgänse und Nutrias höchst umkämpft sind. Sie setzen vielfältige Aushandlungen darüber in Gang, ob es sich um schützenswerte und charismatische Mitbürger*innen handele oder um „invasive Schädlinge“, die es im urbanen Raum zu eliminieren gelte. Das Beispiel der Nilgänse in Frankfurt basiert auf einem Forschungsprojekt von Elisa Kornherr, das eine Medienanalyse der lokalen und nationalen Presse, 14 narrative Interviews in Form von multispecies go-alongs und 27 ethnographische Beobachtungen umfasste (vgl. Kornherr/Pütz 2022). Zum Umgang mit Nutrias in Halle führte Lukas Adolphi 2022 zehn qualitative Interviews sowie eine dreiwöchige multisensorische Beobachtung durch (vgl. Adolphi/Fleischmann 2024). Zwar illustrieren wir unseren theoretisch-konzeptionellen Zugriff am Beispiel zweier städtischer „Problemtiere“, jedoch verstehen wir unsere Ausführungen – im Sinne der Mehr-als-menschlichen Geographien, welche die Relationen zwischen einer Vielzahl nichtmenschlicher Entitäten betonen – auch als relevant für die Untersuchung anderer Lebewesen, zum Beispiel Pflanzen oder Viren.

Der Beitrag ist in sechs weitere Abschnitte unterteilt. In den folgenden drei Abschnitten erarbeiten wir zunächst unseren theoretisch-konzeptionellen Zugriff auf Praktiken des Tötens und Überlebens vermeintlich abstoßender Lebewesen in der mehr-als-menschlichen Stadt. In den Abschnitten fünf und sechs illustrieren wir, wie sich unser theoretisch-konzeptioneller Rahmen auf die konkreten empirischen Beispiele der Nilgänse in Frankfurt und der Nutrias in Halle anwenden lässt. Im siebten Abschnitt folgt schließlich eine abschließende Synthese zu Praktiken des Tötens und Überlebens in der mehr-als-menschlichen Stadt.

2. Die mehr-als-menschliche Stadt

Die Mehr-als-menschlichen Geographien fordern binäres Denken und gängige Dichotomien zwischen Natur und Kultur, Mensch und Tier oder Objekt und Subjekt heraus und regen dazu an, Fragen nach Materialität und agency neu zu denken (vgl. Whatmore 2006; Steiner et al. 2022). Aus dieser Perspektive werden auch Städte als Formationen komplexer Beziehungen zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen, Viren und anderen Organismen sichtbar (siehe zum Beispiel Hinchliffe/Whatmore 2006; McKiernan/Instone 2016; Franklin 2017; Edwards/Popartan/Pettersen 2023). Entsprechende Arbeiten weisen kritisch darauf hin, dass in Politik, Planung und Wissenschaft lange Zeit anthropozentrische Leitideen vorherrschten, welche die Stadt als Kehrseite von Natur und Wildnis verstanden. Städte bildeten sich historisch betrachtet als vermeintlich gezähmte Orte der Zivilisation heraus (Pütz/Schlottmann/Kornherr 2022: 205 f.). Tiere und andere Lebewesen wurden so in Distanz zur Stadt verortet (vgl. Pohl/Helbrecht 2022: 392). Nichtsdestotrotz leben nichtmenschliche Lebewesen in städtischen Räumen auf vielfältige, wenn auch versteckte und marginalisierte Weise weiter (Wolch 1998).

Arbeiten zur mehr-als-menschlichen Stadt verweisen daher auf die Verwobenheit von Menschen und Nichtmenschen in urbanen Räumen (Holmberg 2015). Sie betonen sogenannte Stadtnaturen und wechselseitige Abhängigkeiten zwischen Menschen, Tieren oder Pflanzen in der Stadt (Carver/Gardner 2022; Edwards/Popartan/Pettersen 2023). Zudem untersuchen sie Städte als „wilde“ Räume (Hinchliffe et al. 2005; Steele/Wiesel/Maller 2019) und lenken den Blick auf die alltäglichen Begegnungen zwischen Menschen und Nichtmenschen (McKiernan/Instone 2016; Steele/Wiesel/Maller 2019: 413). Allerdings sind Städte aus dieser Perspektive auch potenziell konfliktträchtige und widersprüchliche Räume, in denen die Möglichkeiten des mehr-als-menschlichen Zusammenlebens ständig neu ausgelotet werden: „animals navigate, but also help to constitute, a complex landscape of competing visions of urban nature“ (Ruddick et al. 2023: 2070). Genau diese Aushandlungen des mehr-als-menschlichen Zusammenlebens, die – so unsere These – tödlich enden können, rücken wir mit diesem Beitrag in den Fokus der Betrachtung.

Empirische Studien zur mehr-als-menschlichen Stadt haben sich einerseits mit nichtmenschlichen Stadtbewohner*innen beschäftigt, die gemeinhin als charismatische „Gefährten“ (Haraway/Amir 2016) gelten – also mit Lebewesen, die Menschen auf die eine oder andere Weise wertschätzen, wie Haustiere, Zootiere oder seltene, als schützenswert wahrgenommene Wildtiere (vgl. Moran 2015: 636). Diese Arbeiten setzen sich dabei das Ziel, Möglichkeiten aufzuzeigen, um Relationen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Stadtbewohner*innen zu stärken, die auf Empathie, Fürsorge und Koexistenz aufbauen. So könne auf ein verantwortungungsvolleres Zusammenleben in der mehr-als-menschlichen Stadt hingewirkt werden (Steele/Wiesel/Maller 2019).

Andererseits beschäftigen sich empirische Arbeiten mit nichtmenschlichen Lebewesen, die in Städten als vermeintliche Problemtiere in Erscheinung treten oder negative Emotionen sowie feindliche Assoziationen hervorrufen – etwa, weil sie als Ungeziefer, Schädlinge oder Krankheitsüberträger eingestuft werden (Rutherford 2018; Voigt et al. 2020; Jaffe 2024). Oft gelten Tiere gerade dann als störend, wenn sie sich aus menschlicher Sicht am falschen Ort aufhalten. Sie werden als Sicherheitsrisiko eingeschätzt (Gibbs 2021: 372 f.) oder gelten als ein Hygieneproblem (Jerolmack 2008). Bestimmte Tierarten wie Ratten oder Kakerlaken werden so zum Symbol für Verfall und Verunreinigung; Phänomene, die uns an unsere eigene Sterblichkeit erinnern und Grenzen zwischen Natur und Kultur, Tier und Mensch infrage stellen (Dion/Rockman 1996).

3. Praktiken des Abstoßens und Tötens in der mehr-als-menschlichen Stadt

Um zu konzeptualisieren, wie Macht- und Herrschaftspraktiken in der mehr-als-menschlichen Stadt auf die aktive Steuerung von Tod und Ausschluss ausgerichtet sind, knüpfen wir an bestehende Arbeiten der Politischen Geographie an (Coleman/Grove 2009; Leshem 2015; Kaur 2021). Diese stützen sich unter anderem auf Giorgio Agambens (1998, 2005) Arbeiten zu souveräner Macht und der biopolitischen Schwelle. Agamben weicht in seinem Verständnis von Biopolitik von Foucault ab: Er sieht die grundlegende Rationalität moderner Machtausübung darin begründet, über den Wert oder Unwert von Leben und somit letztlich über dessen Tötung entscheiden zu können. Zentral ist für Agamben die Vorstellung einer biopolitischen Schwelle, eines Kipppunktes zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben (Agamben 1998; Minca 2007). Die Entscheidung über diesen Kipppunkt definiert er als Kern souveräner Macht. In der Folge wird Leben einerseits zum Objekt schützender politischer Regulierung, während andere Lebensformen davon ausgeschlossen bleiben und potenziell tötbar gemacht werden – was Agamben als „nacktes Leben“ bezeichnet (Agamben 1998: 64). Um dies zu veranschaulichen, greift er auf die Figur des homo sacer aus dem antiken römischen Recht zurück, welche er als Verkörperung des nackten Lebens begreift (ebd.: 165). Als homo sacer ausgestoßene Menschen werden Agamben zufolge ihrer politischen und sozialen Existenz beraubt, indem sie straffrei getötet werden können. Sie haben daher nichts mehr zu verlieren außer ihrer bloßen biologischen Existenz, die allerdings ständig von der Möglichkeit des Todes bedroht wird. Agamben berücksichtigt dabei nicht, dass auch nichtmenschliche Lebewesen zu potenziellen Objekten biopolitischer Herrschafts- und Kontrollpraktiken werden können (vgl. Cadman 2009; Colombino/Giaccaria 2016: 4).

Wir schlagen vor, die Figur des homo sacer auf Tiere (und andere Lebewesen) auszuweiten, um im Sinne eines animal sacer den Umgang mit vermeintlichen Problemtieren in mehr-als-menschlichen Städten zu untersuchen (vgl. Chrulew 2012; Wadiwel 2015). Zudem konkretisieren wir Agambens relativ abstrakten theoretischen Zugriff auf souveräne Macht, indem wir uns empirisch untersuchbaren Herrschaftspraktiken widmen, die unter anderem im Umgang mit nichtmenschlichen Lebewesen in Städten sichtbar werden.

Diese Erweiterung birgt Potenziale zur Adressierung einer Limi­tation seiner Arbeiten: Agamben geht davon aus, dass biopolitische Herrschaftspraktiken darauf hinarbeiteten, bestimmte Menschen in einen tierähnlichen Status zu versetzen, ihnen also jegliche Rechte zu entziehen und sie von staatlichem Schutz auszuschließen (siehe Abrell 2015). Indem er nichtmenschliche Lebewesen außerhalb des Gesetzes verortet und davon ausgeht, sie seien gänzlich von staatlichen Schutzbemühungen ausgeschlossen, setzt Agamben Tiere mit ihrer bloßen biologischen Existenz gleich. Wie Jared Margulies (2019) in einem Beitrag zu Tigern in Indien aufzeigt, kann das Leben bestimmter, als schützenswert eingestufter Nichtmenschen jedoch bisweilen höher gestellt werden als das marginalisierter Gruppen von Menschen: Während das Leben indischer Tiger durch unterschiedliche Politiken geschützt wird, werden Teeplantagenarbeiter dem potenziellen Tod durch eben diese ausgesetzt. Darin zeigt sich der Mehrwert, den eine Öffnung von Agambens Arbeiten für nichtmenschliche Lebewesen in der mehr-als-menschlichen Stadt bietet: Sie ermöglicht es, komplexere Geschichten darüber zu erzählen, wie sich Herrschafts- und Machtpraktiken jenseits einer einfachen Mensch-Tier-Dichotomie und in konkreten, empirisch zu untersuchenden Zusammenhängen entfalten.

Anstatt die Figur des homo sacer lediglich durch die des animal sacer zu ersetzen und so die Tier-Mensch-Dichotomie aufrechtzuerhalten, richten wir den Fokus auf Praktiken des Abstoßens in der mehr-als-menschlichen Stadt. Praktiken und Diskurse, die bestimmte Lebewesen als abstoßende Andere hervorbringen, spielen bei der Ausübung machtvoller Praktiken der Steuerung und Regulierung eine konstitutive Rolle (Fleischmann 2023; Fleischmann/Everts 2024). Damit können wir jene Herrschafts­praktiken in den Blick nehmen, die – im übertragenen Sinne – verschiedene Lebewesen über Agambens biopolitische Schwelle stoßen und auf diese Weise als potenziell tötbar hervorbringen. Praktiken des Abstoßens zielen auf den Ausschluss bestimmter Teile der soziomateriellen Ordnung in der Stadt. Diese verwirren vorherrschende Kategorisierungen, überschreiten gesetzte Grenzen und fordern Hierarchien in urbanen Räumen heraus, beispielsweise zwischen sauber und unrein, einheimisch und fremd, gesund und krank oder innen und außen (vgl. Philo 1995; Yeo/Neo 2010: 687).

Mit dem Begriff des Abstoßenden rücken wir jene Lebewesen in den Fokus, die durch Herrschaftspraktiken als wertlose oder gar schädliche Stadtbewohner*innen gekennzeichnet werden. Wir beziehen uns auf Lebewesen, die Affekte wie Abneigung oder Ekel auslösen und als „abject other“ (Kristeva 1982: 3) hervorgebracht werden. Abstoßende Lebewesen werden mit Müll gleichgesetzt – eine Kategorisierung, die mit dem Impuls einer notwendigen Beseitigung einhergeht (vgl. Nagy/Johnson II 2013). Wie Jennifer Atchison und Mary Pilkinton (2022: 3) argumentieren, schafft dies die Grundlage für die Umsetzung von Regierungspraktiken, die auf den gewaltsamen Ausschluss oder die exzessive Tötung vermeintlich abstoßender Lebewesen hinarbeiten.

4. Widerspenstige Praktiken des Überlebens in der mehr-als-menschlichen Stadt

Ein Zugriff auf Praktiken des Abstoßens ermöglicht es, neben Herr­schaftspraktiken auch zu untersuchen, wie nichtmenschliche Lebe­wesen zu widerspenstigen Subjekten in der Stadt werden. So werden sie oft zum Problem erklärt, gerade weil sie räumliche oder kulturelle Grenzziehungen unterlaufen und herausfordern (vgl. Jerolmack 2008). Vermeintlich abstoßende Lebewesen bewohnen „unruly edges“ (Tsing 2012) und sind damit trotz ihrer marginalisierten Stellung dazu in der Lage, die auf sie gerichteten Herrschafts- und Kontrollpraktiken auf vielfältige Art und Weise herauszufordern. Sie besitzen agency, indem sie bestehende Ordnungen in der Stadt herausfordern (vgl. Hobson 2007; Johnston 2021; Dickinson 2022). Aus dieser Perspektive ist politische Handlungsmacht eine „doing-in-relation“ (Sundberg 2011: 331), die sich zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteur*innen aufspannt.

Nichtmenschliche Lebewesen werden beispielsweise widerspenstig, wenn sie räumliche Grenzziehungen überschreiten – was insbesondere in Städten zu Konflikten führt und verschiedene Maßnahmen der Regulierung in Gang setzt (vgl. Jerolmack 2008; Voigt et al. 2020). Chris Philo und Chris Wilbert (2000) führten hierzu die viel zitierte Unterscheidung zwischen „animal spaces“ und „beastly places“ ein. Sie differenzieren so Räume, die Menschen Tieren und anderen Lebewesen zugestehen („animal spaces“) und jene, die sich Tiere durch ihre eigensinnigen, widerspenstigen Praktiken aneignen („beastly places“). Durch die Bildung eigensinniger Relationen leisten nichtmenschliche Lebewesen zudem Widerstand gegen die disziplinierenden und oft gewaltsamen Versuche, „(bio)sichere“ Räume zu schaffen (Mather/Marshall 2011). So reagieren regulierende Eingriffe oft erst auf eine widerspenstige (mikro-)biologische Welt, die sich ständig Steuerungs- und Kontrollversuchen entzieht (Braun 2013). Regulierungspraktiken bringen so auch nicht intendierte Effekte mit sich, die menschliche Akteur*innen nicht vollständig antizipierten (vgl. Hinchliffe 2007: 111).

Nichtmenschliche Lebewesen wie Tiere setzen nicht nur Konflikte mit menschlichen Nutzungsgruppen in Gang, sondern wirken auch als Antriebskraft politischer Aushandlungen um ein nichtmenschliches Recht auf Koexistenz in städtischen Kontexten. Beispielsweise zeigen Herre de Bondt, Mandy de Wilde und Rivke Jaffe (2023: 79), wie Ratten in Amsterdam in Aushandlungen um Zugehörigkeiten in Städten eingebunden sind, wodurch sie politische Wirkkraft entfalten und für ihr Recht auf Stadt eintreten.

Darauf aufbauend untersuchen wir anhand unserer beiden Fall­beispiele, wie Aushandlungen um die Tötbarmachung von Nicht­menschen in städtischen Räumen zugleich Kämpfe um Überleben in Gang setzen. Sie führen zur Bildung neuer Allianzen, die menschliche und nichtmenschliche Entitäten auf vielfältige Weise in Relation zueinander setzen und so Regulierungspraktiken herausfordern.

5. Nilgänse in Frankfurt am Main: Die Regulierung von Töten und Leben Lassen

Unser erstes Beispiel einer Stadt, in der politische Aushandlungen um das Töten oder Leben Lassen von Tieren stattfinden, ist Frankfurt am Main. Gegenstand besonders kontroverser Diskussionen ist dort eine erst seit den 1990er Jahren ansässige Tierart (Rösler/Stiefel 2018: 4): die Nilgans. Das Verbreitungsgebiet der Nilgänse umfasste ursprünglich das subsaharische Afrika (Huysentruyt et al. 2020). Seit dem 17. Jahrhundert transformierten Menschen sie in eine „lebendige Ware“ (Collard 2014; Pütz 2020). Nilgänse wurden nach Europa importiert, da die Musterung ihres optisch ansprechenden Gefieders ökonomisch in Wert gesetzt wurde und sie deshalb als Dekorationsobjekt für Gehege und Parkanlagen dienten. Einige Nilgänse brachen aus dieser Haltung aus und eigneten sich als wild lebende Populationen Lebensräume in Europa an. Da ihr Bestand über die Zeit wuchs, wurde die Nilgans zunehmend als Problem wahrgenommen (Huysentruyt et al. 2020). Das korrespondierte damit, dass die EU sie 2017 als invasive gebietsfremde Art einordnete (Europäische Kommission 2017: 37 f.).

Eine Analyse des öffentlichen Diskurses über die Nilgänse in Frankfurt (Kornherr/Pütz 2022) zeigte, dass insbesondere die Aneignung städtischer Räume durch die Gänse diskursiv problematisiert wird. Die Nilgans wird als Konkurrentin bei der Nutzung von Flächen beschrieben, auf denen sich Menschen in ihrer Freizeit aufhalten wollen, wie Parkanlagen mit Teichen, das Mainufer oder städtische Freibäder. Dabei dominieren Narrative, die die Nilgans als „ausländisch, invasiv und aggressiv“, als „nicht empfindungsfähig“ und in enger Verbindung mit ihrem Kot als „eklig, verschmutzend und gesundheitsgefährdend“ charakterisieren (ebd.: 4 f.). In der Folge wird die Nilgans im oben skizzierten Sinne als abstoßendes Lebewesen hervorgebracht. Ihre Konstituierung als ekelerregend und gefährlich bildet die Grundlage für politische Aushandlungen um ihre Tötbarkeit in der Stadt.

In Frankfurt konnten gleichzeitig sowohl Politiken des Tötens als auch des Leben Lassens beobachtet werden. Wie die Entscheidungen ausfielen, war bedingt vom spezifischen räumlichen Kontext, in dem sich die Nilgänse ansiedelten sowie von der jeweiligen politischen Zuständigkeit. In den Parkanlagen setzte das zuständige Umweltdezernat auf Vergrämungsmaßnahmen mit dem Ziel, die Gänse zu vertreiben, sie dabei aber auf weniger von Menschen genutzten Flächen leben zu lassen, auf denen sie seltener störten. Die Behörden schränkten den Lebensraum der Gänse also ein, gestanden ihnen aber prinzipiell das Recht zu, in der Stadt zu leben. Damit verfolgten die Behörden eine Politik des Leben Lassens im Sinne einer Ko-Existenz (vgl. Clement/Bunce 2023).

Eine andere politische Zuständigkeit gab es für die städtischen Freibäder, in denen Badegäste und Schwimmbadbedienstete die Gänse ebenfalls als störend empfanden. Auch dort beschlossen Wirtschaftsdezernat und Bäderbetriebe zunächst, die Gänse mit nicht-letalen Maßnahmen zu vergrämen. Im Fokus der öffentlichen Diskussion stand das Brentanobad, wo sich eine große Anzahl von Gänsen aufhielt. Die entscheidende Begründung für die Vertreibung der Gänse aus dem Schwimmbad war der Kot, den die Tiere auf der Liegewiese und im Schwimmbecken hinterließen.

Die Abneigung gegen Kot kann mit Bezug auf Julia Kristeva (1982) damit erklärt werden, dass dadurch das Außen des Selbst und der (hygienisch) geordneten Gesellschaft symbolisiert wird. Durch sein Potenzial für Verschmutzung wird Kot als Gefährdung für Gesundheit, Leben und etablierte Ordnungen empfunden. Zudem verringert der Ekel vor tierischem Kot und eine potenziell davon ausgehende Gesundheitsgefahr den Wert öffentlicher Flächen (vgl. Pitas 2022: 36 f.). Der Mediendiskurs setzte die Nilgans im Narrativ der „ekligen, verschmutzenden und gesundheitsgefährdenden“ Gans mit deren Kot gleich (Kornherr/Pütz 2022). Da der Kot aus den Schwimmbädern verschwinden sollte, mussten also auch die Nilgänse entfernt werden.

Die nicht-letalen, auf das Leben lassen der Nilgänse ausgerichteten Vergrämungsmaßnahmen zielten zunächst darauf ab, Fütterungen zu verhindern. Dazu wurden Schilder mit dem Hinweis auf ein Fütterungsverbot aufgestellt und Mülleimer installiert, aus denen die Gänse keine Essensreste herausholen konnten. Weitere Maßnahmen hatten zum Ziel, das Gelände so umzugestalten, dass es auf die Gänse abschreckend wirkte (vgl. Clancy 2023). Dafür setzten Bäderbedienstete schwarze Plastikschwäne ins Wasser und verfolgten die Gänse mit Aufsitzrasenmähern. Die Verantwortlichen beauftragten zudem einen Jäger, dessen Hund die Gänse über die Flächen scheuchte. Diese Maßnahmen blieben aber ohne Erfolg. Nach einigen Tagen schwammen die Gänse neben den Plastikschwänen im Wasser und ließen sich auch von Hund und Rasenmähern nicht vertreiben: Sie flogen in andere Bereiche des Schwimmbads, verließen es aber nicht.

Parallel zu dieser versuchten Vergrämung wurde eine Untersuchung des Kots auf mögliche Krankheitserreger eingeleitet. Das Ergebnis zeigte Salmonellen und Kolibakterien in der untersuchten Probe, was laut Gesundheitsamt eine Infektionsgefahr für Kleinkinder darstellen könnte. Dies verstärkte die Wahrnehmung der Nilgans als abstoßendes Problemtier. Nach diesem quantifizierbaren Beleg sahen sich die Verantwortlichen genötigt, die Gänse nicht länger am Leben zu lassen. Bäderbedienstete wurden mit den Worten zitiert, „keinen anderen Ausweg“ mehr zu sehen (Hering 2017).

Agambens (1998) Konzeption einer biopolitischen Schwelle aufgreifend, erscheinen Kinder dabei auf der einen Seite als lebenswertes Leben, zu dessen Schutz es einer politischen Regulierung bedürfe. Diese bestand darin, das auf der anderen Seite verortete, unwerte Leben der Nilgänse zu eliminieren. Hauptargument für den Abschuss der Tiere war also, dass sie nachweisbar eine Gefahr für die menschliche Gesundheit darstellten und so vermeintliche Grenzen zwischen gesund und krank herausfordern würden. Einem „Regime der Hygiene“ (Voigt et al. 2020: 255) folgend, galt die Nilgans nun nicht mehr nur diskursiv, sondern auch durch eine behördliche Einordnung als Gesundheitsschädling.

Juristischen Einordnungen kommt dabei die besondere Rolle zu, dass sie Praktiken des Tötens von Tieren rechtlich regulieren (Braverman 2016: 4 f.). Im Fall der Frankfurter Nilgänse wirkten sich Tierschutz- und Jagdgesetze auf die Tiere zunächst schützend aus, da sie festlegen, dass Tieren nicht „ohne vernünftigen Grund“ Schaden zugefügt werden darf (§ 1 Tierschutzgesetz), da sie eine Schonzeit bestimmen (§ 3, Absatz 1 der Hessischen Jagdverordnung) und die Jagd in Städten nur in Bereichen erlauben, die nicht als „befriedete Bezirke“ gelten (§ 6 Bundesjagdgesetz). Für den Abschuss der Nilgänse war dementsprechend eine Sondergenehmigung notwendig, die erteilt wurde und nach den Ergebnissen der Kotuntersuchung Anwendung fand. In Bezug auf Agamben (1998) kann den zuständigen Behörden hier souveräne Macht zugeschrieben werden, da sie mit der Abschussgenehmigung eine rechtliche Ausnahme festlegten. Die Nilgans wurde damit zum animal sacer, das durch eine Ausnahme von normalerweise geltenden Regeln getötet werden konnte. Die Stadt – genauer gesagt ein bestimmter Bereich der Stadt – war damit für die Nilgänse kein sicherer Lebensraum mehr, sondern ein Raum, in dem ihr Leben von ihrer Tötbarkeit bestimmt wurde (vgl. Crowley/Hinchliffe/McDonald 2018; Connors/Short Gianotti 2023).

Ein Jäger wurde mit dem Abschuss der Gänse im Schwimmbad beauftragt. Das Ziel war dabei allerdings keine größere Reduktion des Bestands, sondern ein nachhaltiger Abschreckungseffekt. Die Gänse sollten das Schwimmbad als Ort wahrnehmen, an dem sie potenziell sterben können. Der Jäger erzählte in einem Interview, dass er deshalb versuchte, die Bäderbediensteten als Gefahr für die Gänse darzustellen: „Ich habe immer, also, die türkisfarbene Bademeisterkleidung da getragen, von denen so eine Dienstjacke. […] Weil die Konditionierung sollte ja sein, dass Bademeister die Bösen sind“ (Interview vom 7.5.2021). Der Jäger trug diese Kleidung auch am Tag des ersten Abschusses und wartete nach Ende des Badebetriebs, bis eine Gruppe von rund hundert Gänsen ins Freibad kam. Er nutzte Munition, die einen lauten Knall produziert, um den Gänsen einen Schreck einzujagen. Dabei zielte er auf eine Gans aus der Mitte der Gruppe:

„Beim Umkippen quasi hat sie die Flügel ausgebreitet und alle darum herum haben gesehen, dass die umgefallen ist, ja. Das war ja auch Absicht in dem Moment. So und dann halt wieder dieser laute Knall. Und das ist wie ein Fingerschnips, sind die alle ‚zack‘ gleichzeitig in den Himmel und abgeflogen“

(Interview vom 7.5.2021).

Mit dem Ziel der Abschreckung schoss der Jäger an einem weiteren Abend nach demselben Ablauf noch einmal einzelne Gänse. Jäger, Wirtschaftsdezernat und Bäderbetriebe sahen den Abschuss als effektiv an, da für längere Zeit keine größere Anzahl an Gänsen mehr das Freibad als Aufenthaltsort nutzte.

In einer der folgenden Badesaisons bewohnte jedoch wieder eine Nilgansfamilie mit Eltern- und Jungtieren das Brentanobad. Dies zeigt, wie nichtmenschliche Lebewesen trotz städtischer Regulierungspraktiken, die auf ihren Ausschluss und ihre Tötung abzielen, widerspenstig bleiben, indem sie sich Räume im Sinne von beastly places (Philo/Wilbert 2000) aneignen. Die Verantwortlichen beantragten erneut eine Abschussgenehmigung, die spezifisch für die Anzahl der Gänse ausgestellt wurde. Aussagen des Jägers zeigen, inwiefern Regulierungen für das Töten von Tieren situativ sind und menschlicher Deutung unterliegen:

„Das ist so, führende Elterntiere darf man nicht jagen. […] Wenn alle Jungtiere weg sind, sind die ja per Definition keine führenden Elterntiere mehr und dann haben wir gesagt: ‚Komm, tabula rasa, bevor das ja wieder, wieder Ausmaße annimmt.‘“

(Interview vom 2.5.2021).

„Dann haben wir die der Reihe nach in aller Ruhe geschossen. Und nachdem das letzte Junge weg war, sind die Elterntiere nicht mehr führend. Bevor die quasi wussten, was passiert, waren alle Gänse eliminiert. Problem gelöst.“

(Interview vom 7.5.2021).

Die Beteiligten betrachteten die Nilgänse hier unter dem Aspekt ihres „nackten Lebens“ (Agamben 1998), womit ihre Tötung als akzeptable und praktische Lösung erschien. Eine andere Haltung bezüglich des Werts des Lebens der Nilgänse nahmen Ornitholog*innen und Tierschützer*innen ein. Sie bewerteten die Tötungen als nicht-akzeptable Praktik und zweifelten die Ergebnisse der Kotprobe an. Sie positionierten sich medial gegen den Abschuss, organisierten Demonstrationen vor dem Schwimmbad und erstatteten Strafanzeige, da aus ihrer Sicht die Kotproduktion der Gänse keinen „vernünftigen Grund“ nach dem Tierschutzgesetz darstelle, sie zu töten (PETA Deutschland 2018). Die beteiligten Menschen bildeten dabei solidarische Allianzen mit den Tieren (vgl. Krieg 2020) und setzten sich für ein Leben Lassen der Nilgänse in der Stadt ein.

Neben diesen Allianzen zwischen Nilgänsen und Menschen forderten auch die Tiere selbst ihre Regulierung zwischen Töten und Leben lassen heraus. Trotz der Abschüsse ließen sie sich nicht vollständig aus dem Schwimmbad vertreiben und eigneten es sich weiterhin als Lebensraum an. Dies zeigt etwa eine Beobachtung, in der ein Bäderbediensteter die Gänse vertreiben wollte. Sie flogen jedoch einfach nur von der Liegewiese außer Reichweite des Bediensteten in die Mitte des Schwimmbeckens (Beobachtung vom 31.8.2021).

Die eigensinnige tierliche Mobilität (Hodgetts/Lorimer 2020) erscheint hier als widerspenstige Praktik gegen die Vergrämung mittels letaler und nicht-letaler Maßnahmen. Widerspenstiges Verhalten fordert dabei bestehende Machtverhältnisse zwischen Menschen und Tieren ebenso heraus wie (räumliche) Ordnungen (Gillespie 2016: 123). Nichtsdestotrotz war das aktive Töten von Nilgänsen in Frankfurt ein machtvoller Bestandteil städtischer Politiken der Steuerung und Regulierung nichtmenschlicher Lebewesen.

6. Nutrias in Halle an der Saale: Allianzen des Überlebens

In der sachsen-anhaltinischen Stadt Halle dient die Saale als innerstädtisches Naherholungsgebiet. Viele Hallenser*innen nutzen die angrenzenden Parkanlagen zum Spazieren und Verweilen. An den innerstädtischen Uferbereichen sind allerdings nicht nur Menschen häufig anzutreffen, sondern auch Nutrias – ursprünglich aus Südamerika stammende Nagetiere, die als „Mittelding aus Biber und übergroßer Ratte“ (Nayda 2022) beschrieben werden. Um Devisen zu erwirtschaften und die Verschuldung im „Westen“ abzuzahlen (vgl. Volze 1999), wurden die Tiere zu DDR-Zeiten in Farmen gezüchtet und zur Pelzproduktion getötet (vgl. Keil 1967). Nach der Wende, als keine Devisen mehr benötigt wurden und die Pelzzucht aufgrund der Einstellung staatlicher Subventionen nicht mehr attraktiv war, wurden die Nutrias häufig einfach freigelassen, um die Kosten für ihre Entsorgung zu sparen (Adolphi/Fleischmann 2024). In der Folge konnten sie sich unter anderem in städtischen Räumen in ganz Deutschland etablieren. 2016 klassifizierte sie die EU (ebenso wie die Nilgänse 2017) als invasive Art.

Nutrias graben in Uferbereichen Höhlen und Gänge. Sie ernähren sich überwiegend pflanzlich und sind – sofern sie an Menschenkontakt gewöhnt sind – sehr zutraulich, sodass sie sogar aus der Hand gefüttert werden können. Vertreter*innen des zuständigen Wasserwirtschaftsamtes, der städtischen Verwaltung, der Wissenschaft sowie von Natur- und Umweltschutzvereinen betonten in Interviews, dass die Höhlen der Nutrias zum einen ufernahe Infrastrukturen wie Brücken oder Gehwege gefährden und destabilisieren könnten. Zum anderen führe das Graben der Tiere zu einer verstärkten Ufererosion und somit zum Verlust wichtiger Lebensbereiche für andere Tier- und Pflanzenarten. Außerdem merkten die Interviewten an, dass Nutrias an den unterirdischen Wurzeln von Bäumen nagen, wodurch diese absterben und ins Wasser fallen könnten. Der enge Kontakt zu Menschen in der Stadt sei zudem unhygienisch und berge die Gefahr, dass Krankheiten übertragen werden. Solche Zuschreibungen zeichnen ein diskursives Bild der Nutrias, dass diese – ähnlich wie die Nilgänse in Frankfurt – als abstoßende Problemtiere im städtischen Raum hervorbringt: Nutrias werden nicht nur als Risiko für die Sicherheit der Uferbereiche, sondern auch als Gesundheitsgefahr in öffentlichen Parkanlagen eingestuft und so als Schädlinge kategorisiert – eine Zuschreibung, die nicht zuletzt auch durch den rattenartigen Schwanz der Tiere verstärkt wird: moralische und historisch gewachsene Vorurteile gegenüber Ratten (vgl. Beumer 2014) werden auch mit Nutrias in Verbindung gebracht.

Gleichzeitig zeigt sich aber auch, wie Nutrias durch ihre eigensinnigen Praktiken nicht nur Uferbereiche untergraben, sondern im übertragenen Sinne auch kulturelle und räumliche Grenzziehungen sowie etablierte Ordnungen in der Stadt. So wird häufig angemerkt, dass Nutrias keine „heimische“ (Interview vom 3.11.2022) Art seien und damit kein legitimer Teil der vermeintlich natürlichen Ökosysteme entlang der Saale. Stattdessen werden Nutrias – trotz ihrer erfolgreichen Ausbreitung und Adaption an lokale Gegebenheiten – als „gebietsfremd“ (Interview vom 21.11.2022) und daher als fehl am Platz wahrgenommen. So verwirren Nutrias nicht nur Grenzziehungen und Kategorisierungen zwischen heimisch und fremd, sondern auch zwischen wild und domestiziert: Als ehemalige Farmtiere, die zu Pelzzwecken gezüchtet worden waren, erscheinen sie weder gänzlich als Wildtiere noch als domestizierte Haustiere. Gesprächspartner*innen und Interviewte merkten etwa an, dass Nutrias insgesamt „ökosystemfremd“ seien und dass sie sich in der Stadt „unnatürlich“ verhielten (Interview vom 21.11.2022). Nutrias „gehören einfach weg hier“ und sollten „wie in Holland“ systematisch getötet werden (Interview vom 7.11.2022). Solche und ähnliche Zuschreibungen stoßen Nutrias über Agambens biopolitische Schwelle, entwerten ihr Leben und konstruieren sie als tötbare Tiere.

Diese diskursiven Praktiken des Abstoßens werden unterstützt durch die rechtliche Einordnung von Nutrias als invasiv. Sie manifestieren sich auch in den Jagdstatistiken: In der Jagdsaison 2020/2021 wurden in Deutschland erstmals über 100.000 Nutrias erlegt – die Tendenz ist steigend (DJV 2022). Der Großteil der Jagdstrecke entfällt dabei auf den ländlichen Raum, während Nutrias in Halle ein urbanes Refugium gefunden haben, in dem bislang keine systematischen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung durchgeführt werden.

Das widerspenstige Überleben der Nutrias in den städtischen Uferbereichen der Saale ist weniger auf eine aktive Entscheidung der Stadtverwaltung zugunsten eines Leben Lassens zurückzuführen – wie etwa bei der implementierten Vergrämung der Nilgänse in Frankfurter Parkanlagen. Vielmehr gehen Nutrias im spezifischen urbanen Kontext der Stadt Halle verschiedene Allianzen mit Menschen und Nichtmenschen ein und üben eigensinnige Praktiken aus, die ihre Tötung bislang verhindern.

Zum einen ergeben sich praktische Schwierigkeiten bei der Tötung von Nutrias dadurch, dass diese sich erfolgreich städtischen Verantwortlichkeiten entziehen. Das Fangen und Töten von Tieren in der Stadt gehört zum Aufgabenbereich der Jagdbehörde, die sich jedoch mit zwei Problemen konfrontiert sieht, wie einer ihrer Vertreter im Interview berichtet: Einerseits sei der Einsatz von Schusswaffen in städtischen Gebieten nicht erlaubt, andererseits werde der von den Nutrias bewohnte Bereich häufig von Menschen frequentiert. Daher komme der Einsatz von Fallen ebenfalls nicht infrage, wolle man Unfälle vermeiden. Dementsprechend sieht die Jagdbehörde die Verantwortung bei der Naturschutzbehörde oder beim Wasserwirtschaftsamt. Erstere sieht allerdings aufgrund fehlender wissenschaftlicher Belege über negative Auswirkungen der Nutrias auf die lokale Biodiversität keinen Handlungsbedarf. Für Zweiteres liegen die Nutrias außerhalb ihres Handlungsauftrags. In der Folge können sich Nutrias städtischen Praktiken des Abstoßens, die auf ihre Tötung hinarbeiten, weitestgehend entziehen.

Ein populärer und unter anderem in Hamburg (Diekmann 2023), Gütersloh (NW 2019) und Steinfurt (Hagel 2022) bereits umgesetzter Lösungsvorschlag, den ein Vertreter des Hallenser Wasserwirtschaftsamts vertritt, ist die Einführung einer Jagdprämie. Diese soll die Jagd auf Nutrias in der Stadt attraktiver machen. Die Finanzierung der Nutriajagd aus Haushaltsmitteln ist jedoch politisch nicht umsetzbar, wie ein Stadtrat berichtet:

„Was aber auch daran liegt, dass die Zuschreibung der Menschen für Nutrias auch keine großen negativen sind. […] Die werden als putzig wahrgenommen, eher als knuffig, als süß, als überhaupt nicht bedrohlich. […] Und ich habe das Gefühl, dass sie schon absolut Teil des Bewusstseins sind, wie Halle ist und was zu Halle gehört.“

(Interview vom 18.12.2022)

Diesen positiven Eindruck von Nutrias bestätigen interviewte Spaziergänger*innen an der Saale. Diese nehmen Nutrias als „so ein Halleding“ (Interview vom 28.10.2022) und als Erinnerung an die Kindheit wahr oder suchen die Tiere gar gezielt auf, um sie – trotz offiziellen Verbots und hoher Geldstrafen – zu füttern. Durch die Praktik des Fütterns entstehen affektive Beziehungen zwischen menschlichen Stadtbewohner*innen und Tieren (Kornherr 2023). Das als „putzig“ (Interview vom 28.10.2022) empfundene Äußere der Nutrias verstärkt diese noch. So werden Nutrias in Halle als Spezies wahrgenommen, die mit nichtmenschlichem Charisma (Lorimer 2007) ausgestattet ist. Diese affektive Aufladung führt dazu, dass dem Leben der Nutrias Wert zugesprochen wird und ein Teil der Stadtbewohner*innen die Tiere als Bestandteil ihrer urbanen Identität und als wichtige Bereicherung für die städtische Lebensqualität wahrnimmt. Nutrias gelten aus dieser Perspektive nicht als fremde Risikofaktoren, die aus der Stadt entfernt werden sollten, sondern als integrale Bestandteile einer lebenswerten, mehr-als-menschlichen Stadt, in der Menschen und Nichtmenschen sich in ihrem Alltag begegnen und aufeinander beziehen. Das (Über-)Leben der Nutrias erscheint somit von gesellschaftspolitischer Relevanz zu sein, was eine Tierschutzaktivistin wie folgt ausdrückt: „In hundert Jahren redet da kein Mensch mehr drüber, dass die invasiv sind. Weil ab irgendeinem Zeitpunkt sind die auch wieder heimisch. Die bereichern!“ (Interview vom 12.12.2022). Nutrias können somit als eine betrauerbare Spezies im Sinne Butlers (2020: 59) verstanden werden, sodass „the loss of [their] live would matter; [their] body is treated as one that should be able to live and thrive“. Ihre Tötbarmachung durch städtische Praktiken des Abstoßens wird so verhindert.

Doch nicht nur Menschen unterstützen Nutrias dabei, in der Stadt zu überleben – sie haben auch Allianzen mit anderen nichtmenschlichen Lebewesen gebildet. Eine solche widerspenstige Relation geht bereits auf die Nutriafarmen in der DDR zurück. Dort wurden Nutrias zum Teil mit Schweinefleisch gefüttert (LJN 2020), wodurch manche Tiere Trichinen aufgenommen haben – kleine Fadenwürmer, die sich in den Muskeln ihrer Wirte vermehren und beim Menschen Symptome wie Schwindel, Erbrechen oder Durchfall auslösen können (Moretti et al. 2001). Aus diesem Grund unterlag Nutriafleisch seit 1981 in der Bundesrepublik (und seit 1990 auch in der ehemaligen DDR) einer generellen Fleischbeschauungspflicht (Hinz 1991). In der Folge wurde die Jagd der Nutrias in ostdeutschen Großstädten wie Halle aufgrund der zusätzlichen mit der sogenannten Fleischbeschau verbundenen Kosten unattraktiv. Die Nutrias bildeten gewissermaßen eine Partnerschaft mit Trichinen, die es ihnen ermöglichten, sich relativ ungestört in der Stadt anzusiedeln und zu vermehren. Erst 2020 wurde die Pflicht zur Fleischbeschau aufgehoben, sodass Nutriafleisch heute wieder häufiger als Delikatesse verkauft wird (Grommel 2022).

Mit Enten, die in Halle ebenfalls in den innerstädtischen Park- und Uferbereichen leben, bildeten Nutrias eine weitere Allianz. Beide teilen sich das Essen, das Menschen ihnen geben, da „Enten und Nutrias nie getrennt gefüttert“ (Interview vom 29.10.2022) werden können, wie eine junge Familie bemerkte. Auf diese Weise erschließen sich Nutria- und Entenpopulationen gegenseitig neue Futterquellen, von denen auch andere Tiere profitieren.

Diese beschriebenen mehr-als-menschlichen Allianzen von Nutrias in Halle verstehen wir als „multispecies collaborations“ (Welden 2023: 550), in der die Verbindungen von Menschen und mehr-als-menschliche Entitäten das gemeinsame (Über-)Leben gestalten. Gemeinsam mit Menschen, Trichinen und Enten haben die Nutrias in einer städtischen Verwaltungslücke Kollaborationen gebildet, die ihnen das Überleben ermöglichen, obwohl städtische Politiken sie als „fehl am Platz“ und die EU-Klassifikation sie als invasiv einstuft.

Mehr-als-menschliche Allianzen des Überlebens entfalten unserer Meinung nach auch eine politische Dimension: Sie zeigen Möglichkeiten des Zusammenlebens in der mehr-als-menschlichen Stadt auf, welche auf Partner*innenschaft, Verantwortung und gegenseitiger Fürsorge aufbauen (Steele/Wiesel/Maller 2019). Dabei verstehen wir die Kollaborationen der Nutrias als mehr als einen reinen Überlebensmechanismus, der ihnen das „nackte (Über-)Leben“ im Sinne Agambens (1998) sichert. In Anlehnung an Annie E. A. Welden (2023: 10) betrachten wir sie als „hopeful depiction of what it can be like to work and live with others“: Mithilfe der beschriebenen mehr-als-menschlichen Allianzen können Nutrias ihrer Abstoßung über die biopolitische Schwelle entgegenwirken und bedeutungsvolle Beziehungen aufbauen, die ihr Leben betrauerbar machen und mit politischem Wert füllen.

Das Beispiel der Nutrias in Halle verdeutlicht einerseits die limitierten Möglichkeiten städtischer Steuerung und Regulierung sowie andererseits die Widerspenstigkeit mehr-als-menschlicher Akteur*innen. Die Kontrolle über die biopolitische Schwelle und die Tötbarkeit der Nutrias obliegt in diesem Fall nicht der städtischen Verwaltung, sondern erscheint vielmehr als ein Ergebnis andauernder politischer Aushandlungen, in denen Praktiken des Abstoßens und Allianzen des Überlebens gegeneinander wirken.

7. Synthese und Fazit

In diesem Beitrag haben wir zu konzeptualisieren versucht, wie Orte und Räume des Tötens und Überlebens in der mehr-als-menschlichen Stadt produziert werden. In Rückgriff auf Agambens (1998, 2005) theoretisch-konzeptionelle Arbeiten zu souveräner Macht und der Figur des homo sacer haben wir in den Blick genommen, wie sich biopolitische Aushandlungen um das Töten oder Leben Lassen im spezifischen Kontext abstoßender Lebewesen in der mehr-als-menschlichen Stadt entfalten.

In unseren empirischen Beispielen – dem Umgang mit Nilgänsen in Frankfurt am Main und mit Nutrias in Halle an der Saale – sorgt die EU-Klassifikation als „invasive gebietsfremde Art“ zwar dafür, dass die Tiere als potenziell tötbare Lebewesen hervorgebracht werden. Dennoch bietet ihnen die Stadt einen gewissen Schutz, zum Beispiel durch juristische und territoriale Regelungen, aber auch durch widerspenstige und eigensinnige Praktiken. Dabei vollziehen sich vielfältige Aushandlungen darüber, ob Nilgänse und Nutrias tatsächlich zur Zielscheibe konkreter Praktiken der Tötung werden. In beiden Fällen konnten wir Prozesse und Praktiken beobachten, die einer tatsächlichen Implementierung tödlicher Regulierungspraktiken durch städtische Entscheidungsträger*innen aktiv entgegenlaufen oder diese gar verhindern.

Ob Entscheidungen zugunsten des Tötens oder Leben Lassens von Nilgänsen ausfielen, war in Frankfurt abhängig vom spezifischen räumlichen Kontext, in dem sich die Tiere ansiedelten sowie von der jeweiligen politischen Zuständigkeit. Im spezifischen Fall des Brentanobads wurden Praktiken des aktiven Tötens durch den gezielten Abschuss der Tiere implementiert. Dabei war die EU-Klassifikation als invasive Art jedoch nicht ausreichend für die unmittelbare Tötbarmachung. Durch einen Prozess des Abstoßens wurden darüber hinaus zusätzliche Legitimationsgründe gefunden, was insbesondere die Hervorbringung der Nilgänse als Hygieneproblem und Gesundheitsrisiko verdeutlicht. Auch wenn die Tötung der Tiere weder stadtweit noch dauerhaft umgesetzt wird, nehmen Nilgänse in Frankfurt einen biopolitischen Schwellenzustand ein, in dem ihr Leben durch einen potenziellen Abschuss stets bedroht ist.

Auch Nutrias in Halle sehen sich mit Praktiken des Abstoßens konfrontiert. Ähnlich wie Nilgänse in Frankfurt wurden sie als potenzielle Gefahr und als Sicherheitsrisiko für die öffentliche Ordnung eingestuft. Dabei argumentierten städtische Entscheidungsträger*innen, dass die Tiere nicht nur Krankheiten auslösen, sondern durch das Untergraben von Uferbereichen auch den Einsturz von Infrastrukturen und die Erosion von Uferbefestigungen verursachen könnten. Dass Nutrias vor tödlichen Regulierungspraktiken in Halle weitestgehend geschützt waren, ist jedoch weniger auf die aktive Entscheidung der Stadtverwaltung zugunsten ihres Leben Lassens zurückzuführen, als auf die eigensinnigen Relationen der Nutrias und ihre widerspenstigen Kollaborationen mit Menschen und Nichtmenschen. Praktiken des Abstoßens sind also häufig auch von Prozessen begleitet, die eine eindeutige Kategorisierung als tötbar herausfordern. Die Bildung mehr-als-menschlicher Allianzen erscheint somit als widerständige Praxis im Kontext von Aushandlungen um das Töten in der mehr-als-menschlichen Stadt.

Die Beispiele zeigen, dass es sich lohnt, Aushandlungen um das Überleben, Leben Lassen und Töten nichtmenschlicher Lebewesen in der Stadt zu betrachten. Jenseits anthropozentrischer Konzeptionen wird die Stadt mit einer mehr-als-menschlichen Perspektive als Raum sichtbar, in dem Menschen mit Nichtmenschen auf konflikthafte oder fürsorgliche Weise miteinander in Beziehung treten. Diese Relationen können zum Gegenstand städtischer Steuerung und Regulierung werden oder aber als widerständige Allianzen in Erscheinung treten. Unsere empirischen Beispiele illustrieren, dass die Tötbarkeit von Nichtmenschen als Ergebnis kontextspezifischer Relationen mit anderen menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen zu verstehen ist. Wir denken daher, dass eine Betrachtung räumlich spezifischer und kontextabhängiger Aushandlungen um das Sterben und Überleben ein vertieftes Verständnis der Mechanismen und Brüche in biopolitischen Machtstrukturen ermöglicht.